Gewerkschaftliche Familienpolitik

Auf Twitter stellt sich die amtierende DGB-Vorsitzende als „Überzeugungstäterin“ vor. In dem traditionellen Interview, das die Deutsche Presseagentur jeweils zum Jahresende mit dem/der Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes führt, hat sich Yasmin Fahimi überzeugt gezeigt, dass „jetzt nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten ist, sondern für effektives Handeln in der Realität“. Unter effektivem Handeln in der Realität versteht sie zum Beispiel Sonderzahlungen an Manager und Ausschüttungen an Aktionäre auch solcher Energieunternehmen, die mehr als 50 Millionen Euro Steuergelder erhalten. Ein Ausschluss von Boni und Dividendenzahlungen in der jetzigen Situation führe dazu, „dass in Deutschland das Risiko der Deindustrialisierung größer wird“ und Industriearbeitsplätze verloren gingen.

Was daran peinlich ist? Der Kapitalismus ist ein alter Bekannter. Seit rund 250 Jahren schafft er Arbeitsplätze ab, wo sie ihm nicht mehr rentabel erscheinen, und stampft andere aus dem Boden dieses Planeten, wo immer die Arbeitskraft billig genug ist, um Rendite erwarten zu dürfen. Dabei konkurrieren Arbeitsuchende, Städte und Gemeinden, Länder und Erdteile gegeneinander um die Ansiedlung von Jobs. Eine Gewerkschaftsvorsitzende, die das „als normale Mechanismen der Marktwirtschaft“ abhakt und nicht debattieren will, riskiert den öffentlichen Eindruck, ihre Rolle nicht genau verstanden zu haben, weil es zur Gründungsidee von Gewerkschaften gehört, genau diese Konkurrenz um Arbeitsplätze zu entschärfen.

Was noch viel peinlicher ist? Es auszusprechen, ist fast so peinlich wie das Faktum selbst. Bei der Überzeugung der DGB-Vorsitzenden dürfte es sich schlicht um gewerkschaftliche Familienpolitik handeln. Ihr Partner ist Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und sorgt sich um die Arbeitsplätze seiner Branche. Ob eine DGB-Vorsitzende nicht über den Rand des Küchentisches hinausdenken muss, werden sich Mitglieder anderer Einzelgewerkschaften und deren Vorsitzende vielleicht fragen.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

2 Kommentare

  1. Ignoranz der Normalität – Normalität der Ignoranz

    Die Agenda 2030 verlangt keine „normalen Mechanismen der Marktwirtschaft“ und auch keine normale Marktwirtschaft. Die Agenda 2030 verlangt überhaupt keine Normalität. Stattdessen verlangt diese Agenda das, „was notwendig ist“, nämlich die nachhaltige „Transformation unserer Welt“. Und dies deshalb, weil die Ignoranz der Normalität der gegenwärtigen Welt die Fortexistenz des Mensch-Planeten-Systems und damit die Fortexistenz der Menschheit bedroht.

    Gegenüber dieser Agenda ist das besitzstandswahrende Normalitätsgerede, wo auch immer es stattfindet, der Ausdruck einer Normalität grundsätzlicher Ignoranz. Diese Normalität der Ignoranz ist aber fatal, weil sie im Kern zukunftsblind ist. Gesellschaften, die sich im Zustand dieser Normalität der Ignoranz befinden, verlieren Ihre Fähigkeit zu zukunftsgerichteter Gestaltung und Transformation.

    Wenn die DGB-Vorsitzende die Normalität zur Norm ihrer Entscheidungen macht, nimmt sie sich als Gestalterin der notwendigen Transformation aus dem Spiel. Sie ist damit politisch nicht wirklich auf der Höhe der Zeit. Als Teilnehmerin an der vom Bundeskanzler installierten „Allianz für Transformation“ dem Leitdialog zwischen Bundesregierung und den Spitzen aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Verbänden, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft“ wirft sie damit auch kein gutes Licht auf diese Allianz.

  2. Hallo Thomas, dein Kommentar ist viel besser als mein Zwischenruf. Der Zwischenruf setzt nur alte Kontroversen fort, dein Kommentar sagt, was gegenwärtig für die Zukunft wichtig ist.

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