Wirtschaft wird von Menschen gemacht – warum merkt man so wenig davon?

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Viele Jahre versuchte die Baustelle vor meinem Haus, eine Schule mit angrenzender Turn- und Schwimmhalle zu werden. Nie zuvor habe ich über einen solch langen Zeitraum zuschauen können, wie etwas entsteht. Als Wirtschaftssubjekt, ich könnte mich auch Wirtschaftseinheit nennen, saß ich mit Blick auf die Baustelle im pandemiebedingten Homeoffice, als Privatperson hin und wieder auf dem Balkon. Morgens um sieben wurden die Maschinen in Gang gesetzt. Die Baustelle war ein Suchbild, in dem sich irgendwo Menschen versteckten. Es musste sie geben, eigens für sie war ein DIXI-WC aufgestellt worden, in den Baucontainern brannte abends Licht und es gab eine Baustellenleitung, mit der ich Kontakt aufnahm, wenn die Baustelle nachts wie ein Fußballstadion beleuchtet wurde. Eine Antwort bekam ich nie, aber einen digitalen Beweis via Mail, dass meine Frage irgendwo angekommen war.

Höhere Mächte, Sachzwänge, Gesetze, die ewig gelten

Olaf Scholz, im Sommer 2021 noch Kanzlerkandidat, hat in seinen Wahlkampfreden dem Begriff »Klimawandel« konsequent das Adjektiv »menschengemacht« beigestellt. In Abgrenzung zu jenen, die das Gegenteil behaupten, und zu denen, die gleich ganz leugnen, dass es einen Klimawandel gibt. Der Vollständigkeit halber hätte er stets dazu sagen können, dass die vorherrschende Art und Weise des Wirtschaftens am Klimawandel schuld ist. Dann hätte er allerdings der Frage nicht ausweichen können, welche Art Wirtschaft er denn im Sinn hat, wenn diese gegenwärtige uns im schlimmsten Fall ein Grab schaufelt.

Wird der Klimawandel von Menschen gemacht und liegt die wesentliche Ursache dafür in einer Wirtschaftsweise, die auf stetige Vernutzung des nicht Vermehrbaren setzt, lautet die logische Schlussfolgerung: Wir bekommen sehr deutlich zu spüren, dass Wirtschaft von Menschen gemacht wird. Aber zwischen dem, was Wirtschaft macht und ausmacht, und dem, was wir im Alltag lustvoll oder gelangweilt verkonsumieren, worunter wir zu leiden haben, wovon wir profitieren und womit wir uns vergnügen, ist die Welt opak geworden. Nicht nur, aber auch, weil zwischen uns und jenen Orten, an denen »Wirtschaft gemacht« wird, aus unterschiedlichen Ecken und ähnlichen Motiven heraus Nebelkerzen geworfen werden, die vor allem dazu dienen, uns wieder und wieder zu erklären, dass es nur so und nicht anders geht. Vor allem aber, dass unsere größte Freiheit darin besteht, dies nicht nur zu glauben, sondern darin auch einen Platz für uns zu finden, an dem wir unseren Beitrag dazu leisten können, dass alles im Fluss und am Laufen bleibt. Und zwar nur und ewig im Rahmen des Bestehenden.

 Die Autorin
Kathrin Gerlof ist Chefredakteurin der Wirtschaftszeitung OXI, Filmemacherin, Texterin und Schriftstellerin und Mitglied des bruchstücke-Teams. „Nenn mich November“ ist der Titel ihres jüngsten, im Aufbau-Verlag erschienenen Romans. Als freie Journalistin schreibt sie für verschiedene Medien.

Der Beitrag ist entnommen aus : Otto Brenner Stiftung (Hrsg.) (2022): Welche Arbeit machen wir? Zur Zukunft von Wirtschaft, Natur und Kultur. Das Buch gibt es als Download und (kostenlos, vielleicht noch) als gedrucktes Exemplar bei der Otto Brenner Stiftung.

Das Bestehende heißt Anthropozän. Die Zeitschrift The Economist hieß uns im Mai 2011 in diesem Zeitalter willkommen. Aus Jäger- und Sammler-Horden sind Herren geworden, die sich einen ganzen Planeten untertan gemacht haben. Wir haben diesen Planeten in der Hand. Aus heutiger Sicht könnte der neolithische Übergang zur Sesshaftigkeit unsere größte Leistung und zugleich unser größter Fehler gewesen sein. Denn gleichzeitig will uns die erst wenige hundert Jahre alte Geschichte des Kapitalismus erzählen, dass wir nur noch nach seinen Regeln handeln, also nicht allzu viel selbst bestimmen können.

1997 formulierte eine „Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen“: „Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge.“ Womit noch das letzte Stück Ehrlichkeit verstoffwechselt wurde, das nur darin besteht, anzuerkennen, dass den meisten Menschen keine andere Möglichkeit bleibt, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Mit dem Bild des Arbeitskraftunternehmers werden Abhängigkeiten ausgeblendet und Entscheidungsfreiheiten ins Licht gerückt: Wer als Unternehmer seiner Arbeitskraft versagt, kann nicht länger Opfer einer Wirtschaftsweise sein, ist stattdessen einfach nur unfähig, durch unternehmerisches Handeln Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Hat also nicht verstanden, wie Wirtschaft funktioniert.

Höhere Mächte, Gesetze, die ewig gelten, Zwänge, denen nicht zu entkommen ist – aus all dem wird uns und haben wir uns eine Geschichte gewebt, die darauf hinausläuft, dass Wirtschaft zwar auf menschlichem Handeln basiert, dieses Handeln aber Regeln folgt, die nicht der Mensch aufgestellt hat und die er deshalb auch nicht wird ändern können. Ein ganz großartiger Zirkelschluss. Der noch durch die Erzählung ergänzt wird, dass es Männer wie Elon Musk, Jeff Bezos, Bill Gates sein werden, die uns erlösen, weil sie für alles, was als Problem erscheint, eine Lösung kennen, mehr noch, Lösungen für Probleme bieten, die vorher niemand hatte, und vor allem verstanden haben, wie das System funktioniert.

Die Eindringlichkeit dieses Sirenengesangs hat sich mit der durchs Digitale ausgelösten technischen Revolution und der damit einhergehenden Ablösung der Industriegesellschaft, wie sie vor rund 200 Jahren entstand, verstärkt. Noch bevor wir zu Ende gedacht haben, lässt uns ein Algorithmus wissen, was wir tun müssen oder nimmt uns gar das Denken ab. »Alexa, wer ist Schuld am Klimawandel?« Ehe wir uns die Frage stellen können, ob die herrschende Wirtschaftsweise auf lange Sicht unserem Wohlbefinden zu- oder abträglich sein wird, haben uns Ökonomen1 erklärt, dass es sowieso nicht anders geht. Der Markt habe seine eigenen Gesetze, und Schieflagen entstünden nur, wenn wir den Markt missachten. In dem Moment, da uns vielleicht das eine und andere Licht aufgeht, verdunkelt die Politik in Gestalt von Regierungserklärungen und Sachverständigen unseren Verstand mit der Versicherung, Alternativen gäbe es kaum, und wenn es welche gibt, dann müsse man der damit einhergehenden Transformation sehr viel Zeit geben. Und vergisst zu sagen, dass zwischenzeitlich auch der kleinste Schritt in die falsche Richtung erheblich schlechte Auswirkungen auf das Wohlbefinden unserer Nachkommen haben wird.

Das Faszinierende an der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist, wie sehr sie das Arbeiten und das Leben permanent verändert und wie gründlich sie dabei ein und dieselbe bleibt und sich als alternativloses Optimum zu präsentieren weiß. Genügt es, den Erklärungen der federführenden Ökonomen und Politiker:innen zu vertrauen und den zweiten Teil des berühmten Marxschen Satzes über die Philosophen, der von der großen Transformation spricht, ad acta zu legen?

In dem 2017 erschienenen Roman »Kraft« von Jonas Lüscher müht sich der finanziell in Schieflage geratene Tübinger Rhetorikprofessor Richard Kraft, eine Million Dollar zu verdienen, indem er für einen Digitalmogul des Silicon Valley einen 18-minütigen Vortrag darüber schreibt, warum das, was ist, gut ist, und warum wir es noch weiter verbessern können. In der Theodizee geht es bei dieser Frage um die Rechtfertigung Gottes, indem sie postuliert, dass gut ist, was ist, weil ER es uns in nur sechs Tagen geschaffen hat. Und zugleich ein wenig Spielraum gibt, weil vielleicht auch ER wusste, dass wir anfangen uns zu langweilen, wenn überhaupt nichts mehr beeinflusst werden kann, oder gar die Frage zu stellen, warum, wenn gut ist, was ist, so viel Schreckliches geschieht. Das eine mag zu Abtrünnigkeit führen, das andere im schlimmsten Fall zur Revolte.
Wie sind wir hierher geraten? Zu glauben, dass nur das Bestehende zugleich die Alternative ist? Auf jeden Fall auf unterschiedlichen Wegen, die am Anfang nicht verkündeten, dass sie alle auf das Gleiche hinauslaufen werden.

Die Kronkorken der Bierflaschen machten leise „plopp“

Viele Jahre versuchte die Baustelle vor meinem Haus, eine Schule mit angrenzender Turn- und Schwimmhalle zu werden. Nie zuvor habe ich über einen solch langen Zeitraum zuschauen können, wie etwas entsteht. Als Wirtschaftssubjekt, ich könnte mich auch Wirtschaftseinheit nennen, saß ich mit Blick auf die Baustelle im pandemiebedingten Homeoffice, als Privatperson hin und wieder auf dem Balkon.

Morgens um sieben wurden die Maschinen in Gang gesetzt. Selten sah ich mehr als zwei oder drei Arbeiter (es waren immer Männer) auf dem Gelände. Aber ich sah und hörte Maschinen. Nennen wir es Lärm. Turmdrehkräne, die mein Vorstellungsvermögen überstiegen, Bagger, Laderaupen, Kipper, Tieflader, Betonmischer und -sägen, Walzenzüge, Kompressoren. Die Baustelle war ein Suchbild, in dem sich irgendwo Menschen versteckten. Es musste sie geben, eigens für sie war ein DIXI-WC aufgestellt worden, in den Baucontainern brannte abends Licht und es gab eine Baustellenleitung, mit der ich Kontakt aufnahm, wenn die Baustelle nachts wie ein Fußballstadion beleuchtet wurde. Eine Antwort bekam ich nie, aber einen digitalen Beweis via Mail, dass meine Frage irgendwo angekommen war.

Ich bin in einem Alter, das Kindheitserinnerungen von Baustellen abrufbar hält, auf denen es vor Menschen nur so wimmelte. Ich habe als Studentin in den Semesterferien selbst an solchen Orten gearbeitet und mich mit Betonarmierungen geplagt. Wenn die Materialzufuhr ins Stocken geriet, was im real existierenden Sozialismus andauernd passierte, saßen viele Menschen einträchtig auf irgendeinem noch nicht montierten Plattenelement rum. Dann machten die Kronkorken der Bierflaschen leise »plopp« und die ausgepackten Leberwurstbrote rochen nach morgendlicher Fürsorge.

Bild: Alexas_Fotos auf Pixabay

Ich bin Jahrgang 62. Meine Großmutter, Jahrgang 22, erzählte mir von einem Typus Mensch, den sie als »ehrlichen Arbeiter« krönte und von dem sie behauptete, er trüge das Herz am rechten Fleck. Meine ewig arbeitende Großmutter wusste und gab an mich weiter, dass ein Haus nicht gebaut werden kann ohne Menschen. Dass die Maschinen, derer sich die Arbeitenden bedienen auch nur von Menschenhand gemacht waren. Und dass die Leberwurst-Bierpausen aufgrund von Materialmangel auf der Baustelle das Ergebnis menschengemachter Misswirtschaft oder die Folge einer noch nicht ausgereiften, von Menschen erdachten Planwirtschaft waren. Meine Großmutter wäre niemals auf die Idee gekommen, zu sagen, der Schnellkochtopf habe die Suppe gemacht. Es war ihre Suppe und der Topf nur nützliches Beiwerk. Von Menschen erfunden und produziert.

Beim Studium der Politischen Ökonomie des Sozialismus und Kapitalismus, das nicht von ungefähr, sondern infolge einer verordnet eingeschränkten Sichtweise marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium hieß, gerieten die großmütterlichen Postulate etwas ins Wanken. Unwiderlegbare Gesetzmäßigkeiten, denen wie Naturgesetzen objektiver Charakter bescheinigt wurde, also eine Existenz unabhängig vom Willen und Bewusstsein des Menschen, ließen die Frage entstehen, was den Produktivkräften dann noch als Spielraum blieb. Was konnte der ehrliche Arbeiter mit dem Herzen auf dem rechten Fleck über die Tatsache hinaus, dass er auch im Sozialismus seine Arbeitskraft zur Verfügung stellte und so Dinge schuf, beeinflussen?

Den Menschen wurde auferlegt, die Gesetze zu kennen, anzuwenden und somit einer Wirtschaftsweise zum Sieg zu verhelfen, die sich durch Veränderung der Eigentumsverhältnisse von den Fesseln einer auf stets steigende Profite bedachten, ausbeuterischen Maschinerie befreit. Der objektive Charakter der Gesetze ließ das Subjekt klein und unbedeutend wirken. Wenn dem Kapitalisten geweissagt wurde, dass es ihm auf Dauer nicht gelänge, das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate auszutricksen, geriet er zur Marionette höherer Gewalt. Das gefiel uns. Die von Marx bescheinigte Naturgeschichtlichkeit bei der Ablösung einer ökonomischen Gesellschaftsformation durch die nächste gefiel uns. Und dass wir nicht für alles verantwortlich waren, gefiel uns ebenfalls. Vielleicht genügte es, den Gesetzen ihren Lauf zu lassen und uns nach ihnen zu richten.

Das Lächeln der Kassiererin im Supermarkt

Die Ökonomen

Um den Gesetzmäßigkeiten, wie sie durch Marx und Lenin erklärt worden waren, nicht den Verve und die Glaubwürdigkeit zu nehmen, führte die »arbeiterliche Gesellschaft« (Engler 1999, S. 173) gute Gründe an: Den Kampf der Systeme Kapitalismus-Sozialismus, den menschlichen Faktor sozialistische Persönlichkeit, die noch nicht ausreichend sozialistisch war und zu langsam Persönlichkeit wurde, die Trägheit der Produktivkräfte, obwohl die Produktionsverhältnisse doch nun mal schon fast waren, wie sie sein sollten. Aber Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse stimmten noch nicht ganz überein. Der Beweis, dass es trotzdem funktionieren und werden kann, wurde nicht erbracht. Ökonomisch wurden genau die Gesetzmäßigkeiten missachtet, die man zu kennen behauptete, politisch wurde ein Herrschaftssystem der ewigen Wahrheiten und gegenwärtigen Unterdrückung geschaffen, die Misswirtschaft war eindeutig eine menschengemachte Katastrophe. Die Ökonomen sagten entweder, was Sache ist und sein wird, und wurden kaltgestellt, oder sie redeten zu Munde der Herrschenden und verzapften notwendigerweise höllischen Unsinn.

Wenn Fragen nicht beantwortet werden konnten oder die Antwort so hätte ausfallen müssen, dass sie mit Sanktionen belegt wird, verwies man auf objektive Gesetze, wie das der notwendigen Periode der revolutionären Umwandlung der kapitalistischen in eine kommunistische Gesellschaft, und erklärte, das würde halt auch seine Zeit brauchen. Die dauerte dann bis 1989 und hat offensichtlich nicht ausgereicht. Reich an Witzen über Ökonomen (schick einen DDR-Ökonomen in die Wüste und der Sand wird knapp) ließen die meisten Menschen in der arbeiterlichen Gesellschaft keinen Zweifel daran, dass man ihnen zwar viel erzählen könne über Gesetzmäßigkeiten, die sich unabhängig von und außerhalb ihres Bewusstseins Bahn brächen, sie aber trotzdem wissen, dass die Wirtschaft von Menschenhand nach und nach runtergerockt wird.

In gewisser Weise kam man dann vom Regen in die Traufe, nur dass die Ökonomen der freien Marktwirtschaft die besseren Argumente zu haben schienen. Schließlich waren die einen untergegangen und die anderen ohne nennenswerten Gegenpart. Auch sie erklärten, dass der Mensch zwar über einen Willen und Möglichkeiten verfüge, jedoch einer Vorlage folge, die unabhängig von und außerhalb seines Bewusstseins auf Ewigkeiten gälte. Der Homo oeconomicus ist ein Kunstwesen und noch immer Bestandteil der orthodoxen Volkswirtschaftslehre. Rational, vernunftgesteuert, mit mathematischen Formeln in Beweis gestellt, tut er nichts, was er nicht als nützlich und gewinnbringend empfindet. Ökonomen rechnen uns vor, wie sich der Homo oeconomicus verhalten wird, bekommt er fußläufig sein Sixpack Bier für zehn Euro und in zwei Kilometern Entfernung für neun Euro. Er rechnet Wegstrecke, Benzinverbrauch, Abnutzung des Autos, Zeitaufwand gegen die Einsparung eines Euros und kommt zu einem schlüssigen Ergebnis. Und wer zwei Kilometer fährt, obwohl die Rechnung ihm anderes nahelegt, aber weil ihm das Lächeln der Kassiererin im Supermarkt so gut gefällt, ist die Ausnahme und stellt die Regel nicht infrage.

Generationen von Ökonomen erklären uns den menschlichen Faktor als Kostenfaktor namens Arbeit und erzählen das grimmige Märchen von der unsichtbaren Hand des Marktes – eines Wesens, das unabhängig von und außerhalb unseres Bewusstseins existiert und ein Eigenleben führt, das wir nur durch Gehorsam und staatliche Zurückhaltung ordentlich am Laufen halten können. Und »wenn es so ist, dass die sachliche Herrschaft uns unerkannt bleibt, weil wir den Wert als dingliche Eigenschaft der Waren betrachten und nicht als Effekt des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, dann kann sich der Hass auf diese Herrschaft immer nur auf Stellvertreter entladen« (Redecker 2020, S. 63).

Die vermeintliche Macht der Dinge, das postulierte Eigenleben des Marktes, der wie eine göttliche Instanz Dinge lenkt, die damit verbundene Sachherrschaft – gegen wen opponieren, wenn es kein Mensch ist? – lässt vergessen, dass noch jedes Arbeitszeug, das wir in den Händen halten, und noch jeder Algorithmus, der unsere täglichen Schritte zählt, oder bei der Telearbeit registriert, wann wir dösen, anstatt zu arbeiten, von Menschen gemacht ist. Und noch gibt es die andere Erzählung nur in Bruchstücken. Das bessere Leben, das andere Wirtschaften, die Commons, das Solidarische, das im Kleinen funktionierende, im Ganzen nicht erprobte, die Ideen für eine partizipatorische Ökonomie: So viel Kluges und noch kein Beweis erbracht. Wie auch, wenn die Sach- zugleich Weltherrschaft ist?

»Das vorherrschende Dogma von den entfesselten Marktkräften, denen eine innewohnende Krisenanfälligkeit abgesprochen, gleichzeitig aber die Kraft zur optimalen Beseitigung              exogener Schocks unterstellt wird, schottet sich gegen Kritik ab. Im Zweifelsfall trifft Friedrich Hegels Charakterisierung auf diese weltfremde Wirtschaftswissenschaft zu: ‚Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.‘ Dieser Realitätsverlust, der auch noch autoritär als Marktfundamentalismus daherkommt, firmiert mit seinen vielen Verästelungen heute unter dem Kampfbegriff des Neoliberalismus. In der Ökonomenzunft ist die vornehme Übersetzung Neoklassik üblich, die je doch dasselbe meint.« (Hickel 2021, S. V)

Auch wenn die herrschend gelehrte VWL mit den ewig gleichen Formeln und Erklärungen eine veraltete Glaubenslehre ist, nehmen deren Vertreter an Tischen Platz, die sich biegen unter den Ewigkeitsklauseln und an denen Gläubige sitzen, die das Ganze in Politik umwandeln.

»[S]eit Manipulation mit Hilfe naturgegebener Mittel durch die unberechenbaren Möglichkeiten unserer Vorstellungsfreiheit, unseres baren Selbst, der Manipulation durch Berechenbares gewichen ist, seit kommerzialisierte Zweigwissenschaften mehr öffentlichen Reiz darstellen als ihre exakten Stammschulen, Zombiologie und Technomagie wirtschaften und wüten, Statistik als adäquate Beschreibung von Realität gilt und das Geräusch der Spülmaschine sich anhört, als atme da wer zuverlässig in unsere Gottverlassenheit, sind wir auf dem Abweg, uns selber um uns selbst zu bringen, uns der Struktur des Formalen anzupassen und als ‚Maschine der Natur‘ berechenbar zu werden. Müssen wir, wie Erwin Schrödinger, der Quantenheilige, in weiser Voraussicht schrieb, fürchten, ‚daß wir uns entwicklungsmechanisch dem Ende einer Sackgasse nähern‘?« (Berkévicz 2018, S. 11)

Erst Gerhard Schröder, nicht Helmut Kohl, hat meiner Großmutter mit ihrem Faible für den ehrlichen Arbeiter posthum Recht gegeben. Denn die hatte mit stets gleich gestanzten, aber großem Verve vorgetragenen Sätzen immer wieder erklärt, dass der Mensch im Kapitalismus wenig zähle. Und aussortiert werde, brächte er keinen Nutzen mehr. Mit der Agenda 2010 der rot-grünen Regierung Schröder bekam die großmütterliche Wiederholungsschleife einen ganz anderen Dreh. Die trat aber in gewisser Weise auch den Gegenbeweis zu dem Eindruck an, man merke so wenig davon, dass Wirtschaft von Menschen gemacht werde. Schröder packte alle, die das Wirtschaftssystem auf die eine und andere Art und Weise aussortiert hatte, in einen Topf und ließ sie spüren, dass sie zu nichts mehr Nutze waren.

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Sie hätte sich besinnen können. Tat es aber nicht

Die Politik

Hört auf die Ökonomen, aber nur auf bestimmte. Wir sind inzwischen bereit, schon ganz großartig zu finden, wenn im Sachverständigenrat der Bundesregierung jemand sitzt, die oder der abweicht vom orthodoxen Mainstream, ohne gleich heterodox zu sein. Es ist Meldungen wert, schaut da jemand ein wenig anders auf die vermeintlichen Ewigkeitsklauseln. Gehört aber inzwischen zumindest zum guten Ton.

2021 mahnte eine Gruppe namhafter Orthodoxer die Politik zur »Rückkehr zur Marktwirtschaft«. Der Aufruf wurde gedruckt, die Besorgnis ernst genommen. Die Ökonomen konstatierten auch in der Krise, dass Unternehmen über eine hohe Anpassungsfähigkeit verfügen (nicht die Arbeitenden natürlich, sondern die Unternehmensführungen), während sich staatliche Akteure schwer täten mit der Anpassung an die pandemischen Umstände. Staatliche Akteure, so viel ist in den Augen der Orthodoxen klar, machen keine Wirtschaft. Sie behindern Wirtschaft. Wenn sie sich zu sehr einmischen. Sie stören die marktwirtschaftliche Dynamik, die unabhängig von und außerhalb unseres Bewusstseins segensreich wirkt. Lässt man sie nur machen. Dieses »Finger weg und zurück ins Körbchen«, nachdem die Corona-Hilfen vor allem in Richtung großer Unternehmen geflossen waren, berief sich auf eine kluge Instanz namens Markt und verwies den menschlichen Faktor auf seinen Platz. Es kam mit mathematischen Modellen daher – sehr beliebt, wenn es darum geht, die Politik auf dem Gleis zu halten – und erklärte, dass von nun an und unterm Rettungsschirm wieder die freien Kräfte zu walten hätten, sonst passiere Schlimmes.

In einem kurzen Zeitfenster hatte »die Wirtschaft« Gesichter bekommen, weil klar war, dass noch jedes mathematische Modell würde scheitern müssen, wenn das überlastete Pflegepersonal die Arbeit verweigert. Applaus, Applaus! Die menschengemachte Pandemie würde nur durch Menschen in den Griff zu bekommen sein. Die freien, unsichtbaren Kräfte des Marktes hatten für einen Moment keine Konjunktur, die Politik bekam ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung gestellt, in dem sie sich hätte darauf besinnen können, dass Wirtschaft vor allem von jenen Menschen gemacht wird, die nicht an ihren Konferenztischen, in ihren Hinterzimmern und Expertenkommissionen sitzen.

»Das Bild des Kapitalismus als frei schwebender Jongleur, der stets noch mit einem Ball mehr zu jonglieren weiß, ist zu schmeichelhaft. Man soll dem Kapitalismus nicht durchgehen lassen, sich als Ekstase, als unstillbares Verlangen, als schlaflose Nacht zu inszenieren. Er lässt nicht alle Puppen tanzen, selbst wenn er die Gebeine der Vergangenheit aufwirbelt. Das, was funkelt, wie ein Karussell, ist nur die wacklige Spitze eines riesigen Bergs aus Müll, Langeweile und Leichenteilen. Es ist die lebendige Natur, die Zyklen schafft, in denen alle Teile in Bewegung bleiben und sich immer wieder neu in regenerierende Kreisläufe einspeisen. Der Kapitalismus zapft daraus nur partiell etwas ab und schert sich nicht um den Gesamtzusammenhang. Sein Ziel ist schließlich ein anderes: schneller, konkurrenzgejagter Profit.» (Redecker 2020, S. 64f)

Die Politik hätte sich besinnen können. Und tat es nicht. Stattdessen hört sie weiterhin auf eine orthodoxe Wirtschaftswissenschaft, die sich selbst nie und niemals als Gesellschaftstheorie begreift. Was ehrlich ist, denn die Gesellschaft hat sie wahrlich nicht im Blick.

Der Paketbote sieht aus, als könnte er jeden Augenblick tot umfallen. Der vorgestern hatte nicht besser ausgesehen. Im Teeladen am Alexanderplatz, wo Pakete manchmal landen, wenn der Paketbote aufgrund der Arbeitsverdichtung keine Zeit hatte, mich trotz meiner Anwesenheit in der Wohnung anzutreffen, bittet mich die Ladeninhaberin um Nachsicht mit »den Jungs«. Die schufteten am Limit sagt sie und das sei alles nicht zu schaffen. Ich verspreche ihr, niemals auf den Boten zu schimpfen, weil ich ja auch wisse, dass es am System liegt. »Ausbeutung« sage ich und die Teeverkäuferin nickt. »Und dann noch Scheiße bezahlt«, antwortet sie. Für einen Moment fühlt es sich an, als gäbe es ein Morgen. Wir müssen nur zu den richtigen Erkenntnissen gelangen.

Ich frage beim Paketdienstleister nach – nur zum Spaß –, warum der seine Angestellten so sehr hetzt, dass ihnen nicht mal mehr meine Anwesenheit in der Wohnung zum Vorteil gereicht. Eine Mail lässt mich wissen, dass die Frage angekommen ist und warnt: No reply! Als hätte ich wirklich Lust, mit einem Algorithmus zu kommunizieren. Später bekomme ich noch eine Automatenantwort, die sinngemäß lautet, dass man meine Frage nicht verstanden habe. Vielleicht ist der Paketbote inzwischen tot umgefallen vor lauter Stress.

Das wird gewettet, nicht produziert

Die Algorithmen

»Im Grunde seines Wesens ist der Überwachungskapitalismus parasitär und selbstreferenziell. Er haucht der alten Vorstellung vom Kapitalismus als sich von der Arbeit nährendem Vampir neues Leben ein – wenn auch mit einem von Marx nicht vorhergesehenen Dreh: Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung.« (Zuboff 2018, S. 24). Das ist tatsächlich ein gewaltiger Dreh, der in unseren Köpfen spukt. Weil wir nicht mehr wissen können, ob unsere Arbeit den Reichtum der Megamaschine schafft oder ob es nicht einfach nur die Datenspuren sind, die wir zur profitablen Verwertung hinterlassen. Die werden gesammelt, sortiert, auf Tauglichkeit geprüft, ausgeschlachtet und später verkauft oder verkaufsfördernd in Marketing und andere Überzeugungswerkzeuge übersetzt. Ökonomen verweisen auf mathematische Modelle, von denen sie behaupten, dass die nicht nur die Welt erklären, sondern auch die Zukunft und die Wachstumsraten voraussagen. Unternehmen machen uns glauben, das Kapital könne ohne Arbeit akkumulieren. Im Finanzkapitalismus vermehre sich Geld doch in Millisekunden. Da wird gewettet, nicht produziert. Erst die mit Hilfe der Politik entfesselten Finanzmärkte haben uns die Erzählung vervollständigt, Wirtschaft komme ohne Menschen aus. Kryptowährungen laden ein, es auch mal ohne Arbeit zu versuchen.

Und es wird noch immer geglaubt, was Thomas Robert Malthus postulierte: Die Gesetze der Menschennatur führten dazu, dass die einen auf ewig der Not ausgesetzt sind und die anderen gewinnen. Aber auch Nieten und Verlorene hinterlassen nützliche Daten, aus denen sich was machen lässt. Brauchen allerdings dafür ein digitales Endgerät und das Internet. Das ist die neue Qualität dieser vierten technischen Revolution. Es scheint so einfach, zu vergessen, dass noch jede Technik und jeder Algorithmus das Ergebnis von Beziehungen ist, die Menschen eingegangen sind. Denn der vermeintliche Reichtum in Gestalt ungeheurer Warenansammlungen scheint mehr und mehr von menschlicher Arbeitskraft entkoppelt.

Die Frage ist, ob sich unser Verhältnis zum I-Phone änderte, ploppte bei jedem Öffnen des Zaubergerätes ein Bild auf, dass chinesische Arbeiter:innen zeigt, die in riesigen Hallen Geräte wie dieses zusammenfügen. Ist ja doch von Menschenhand gemacht, staunten wir vielleicht und schickten ein »Gefällt mir!« in den Orbit.

»Wenn das Recht der Ausgebeuteten auf Umsturz, aufs Verjagen der Herren sich nur daraus ableiten soll, daß sie für diese Schweiß vergießen, wäre der Appell zur Revolte spätestens mit der Dampfmaschine fragwürdig geworden. Dieses Gerät, das Energie und Arbeit spendet, hat, das war allen sichtbar (auch den nichtlesenden Arbeitern), Schiffe betrieben, den Verkehr auf Straßen und Schienen verwandelt, die Förderung von Steinkohle mittels Hochpumpen von Wasser aus der Erde erleichtert, die Herstellung von Eisen beschleunigt, Stahl im Schmelztiegel gekocht und später gewalzt und damit sowie mit anderen Erzeugnissen die Konstruktion von Brücken revolutioniert.

 Wichtiger noch: Diese Maschine war eine der ersten, die, weil sie etwa den Zylinderbau vereinfachte, im großen Maßstab die Fertigung von Maschinen selbst voranbrachte.« (Dath 2008, S. 51)

Zum vorläufigen Ende gedacht: Egal, ob es gesagt, verschwiegen oder nur verschwurbelt wird. Menschen machen Wirtschaft. Demzufolge ließe sich an der Art und Weise, wie sie gemacht wird, jederzeit und überall, auch hier und jetzt etwas ändern.

Literatur

Berkévicz, U. (2018). Über die Schrift hinaus. Berlin: Suhrkamp
Dath, D. (2008). Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Engler, W. (1999). Die Ostdeutschen: Kunde von einem verlorenen Land. Berlin: Aufbau Verlag.
Hickel, R. (2021). Wertschätzung des hier vorgelegten Lehrbuchs: Von der systemkonformen Orthodoxie zur pluralen Ökonomik. In H.-J. Bontrup, & R.-M. Marquardt (Hrsg.), Volkswirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht. Eine Einführung. (S. V-IX). Oldenburg: de Gruyter.
Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997). Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Leitsätze, Zusammenfassung und Schlussfolgerungen der Teile I, II und III des Kommissionsberichts. Bonn: Kommission.
Redecker, E. v. (2020). Revolution für das Leben. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
Zuboff, S. (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a. M. u. a.: Campus

Weiterführende Literatur

Diefenbacher H., Foltin, O., Held, B., Rodenhäuser, D., Schweizer, R., & Teichert, V. (2016). Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. Frankfurt a. M.: S. Fischer.
Glaubrecht, M. (2019). Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten. München: C. Bertelsmann-
Gorz, A. (1989). Kritik der ökonomischen Vernunft. Berlin: Rotbuch.
Lowenhaupt Tsing, A. (2018). Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: Matthes & Seitz.
Mason, P. (2016). Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin: Suhrkamp.
Ötsch, W. O. (2019). Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Marburg: Metropolis.
Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium (1974). Berlin: Dietz.


1  Die Autorin wählt vor allem bei Ökonomen die rein männliche Form, weil die Wirtschaftswissenschaft noch immer von Männern dominiert wird.

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