Gute Arbeit: 28-Stunden-Woche mit Lohnausgleich

Klaus Lang

„Ich halte zwei Themen für herausragend, die beide in den Gewerkschaften auch schon diskutiert werden: Die Regelarbeitszeit wird verkürzt, in Form einer Vier-Tage- oder einer 28-Stunden-Woche [siehe aktuell 05-04-2023]. Und: Die arbeitenden Menschen müssen im Arbeitsprozess viel mehr als bisher zu sagen haben, viel mehr als bisher im Arbeitsalltag mitentscheiden können“, sagt Klaus Lang im Interview mit Wolfgang Storz, das Bruchstücke in zwei Teilen publiziert. Teil zwei erscheint unter dem Titel „Warum hat bei den Gewerkschaften niemand den Mumm, groß zu denken?

Als Leiter der Grundsatzabteilung der IG Metall und Büroleiter des damaligen 1. Vorsitzenden der IG Metall, Klaus Zwickel, organisierten Sie Anfang der 2000er Jahre sehr aufwändig Zukunftsdebatten mit dem Ziel, die künftige Politik dieser Gewerkschaft zu erarbeiten. Sollten IG Metall und DGB das heute auch tun? Oder wissen die Gewerkschaften, wohin sie gehen müssen?

Klaus Lang: Die Zukunftsdebatte 2000 ging über Jahre, denn sie war auf Beteiligung der Mitglieder ausgerichtet, nahe der Praxis und sollte in konkrete Reformen münden. Es ging nicht nur um das gesellschaftspolitische Profil, sondern auch um mehr gewerkschaftsinterne Demokratie und eine stärkere Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit an den direkten Mitgliederinteressen. Das ist ja die ständige Kernaufgabe der Gewerkschaften: die materiellen und sozialen Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Debatten über ihre Gesellschaftspolitik sind auch wichtig, wollen Gewerkschaften doch mit ihren Positionen auch die Entwicklung der gesamten Gesellschaft beeinflussen. Gerade in Zeiten extremer Umbrüche und krisenhaften Zuspitzungen wie heute. Jedoch ist es schwerer denn je, genau zu wissen, wohin es geht. Auch um das zu klären, wäre eine solche Debatte notwendig. 

Unter welcher Überschrift müsste sie stehen?

Klaus Lang: Das Megathema ist die Gestaltung der Transformation, des tiefgreifenden Wandels unserer Gesellschaft, in dem wir mitten drin sind. Da geht es ja nicht nur um die Digitalisierung, sondern angesichts der Klimakatastrophe auch um Dekarbonisierung und eine andere Form der Globalisierung. Und nicht nur Wirtschaft und Arbeit sind betroffen, sondern unsere Gesellschaft insgesamt. Transformation ist der Oberbegriff für die unzähligen Prozesse, durch die sich unser Leben stark verändern wird. Die können wir nicht einfach laufen lassen, wir müssen sie sozial und gerecht gestalten, so dass Menschenwürde und Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt bleiben.

Wir sind zeitgleich ja auch mit Gefahren für die Demokratie konfrontiert, in den Gesellschaften und zwischen ihnen mit zunehmender Polarisierung und Konfrontationen. Und nun noch Putins Krieg gegen die Ukraine, der zurzeit vieles überlagert und am Ende eine grundlegend neue Gestaltung der internationalen Ordnung erfordert.

50 Millionen E-Autos sind sicher nicht das Ziel

Das erschlägt einen ja. Deshalb noch ein, zwei Nachfragen, um Ihre Vorstellung von dieser Umwälzung etwas genauer kennenzulernen. Ist Transformation für Sie gelungen, wenn es beispielsweise in Deutschland in zehn Jahren 50 Millionen E-Autos anstelle von 50 Millionen Autos mit Verbrenner-Motor (Stand heute) gibt —  oder ist sie für Sie nur gelungen, wenn es künftig nur noch 25 Millionen E-Autos gibt? 

Klaus Lang: 50 Millionen Autos mit E-Antrieb statt Verbrenner sind sicher kein Ziel einer gelungenen Verkehrswende. Ich will mich auf keine Zahl festlegen, da dies ja auch von der Bevölkerungsentwicklung abhängt. Aber eines ist klar: deutlich mehr des Verkehrs gehört auf die Schiene und in den ÖPNV. In den Städten brauchen auch Fahrräder und sichere E-Scooter als Verkehrsmittel eine bessere Infrastruktur.

Geben Sie bitte noch ein bedeutendes Beispiel Ihrer Wahl, mit dem Sie veranschaulichen: Ja, so sieht meines Erachtens gelungene Transformation aus Sicht der Gewerkschaften, der IG Metall aus.

Screenshot: Website IG Metall

Klaus Lang: Gelungene Transformation lebt von rechtzeitiger Erkenntnis, demokratischer Mitentscheidung und durchgehender Transparenz. Also ein Beispiel: ein Automobilzulieferer richtet im Rahmen eines Zukunftstarifvertrages mit IG Metall und Betriebsrat Innovationszirkel ein, die – unterstützt durch externe Beratung – nach neuen Produkten suchen. Zum Beispiel Zulieferung im Bereich von elektrischen Antriebsaggregaten für E-Autos, Lokomotiven, E-Quads, beispielsweise für Menschen mit Handicap. Diese Produkte sollen mit modifizierten vorhandenen Anlagen hergestellt werden können und mit einem Qualifikationsprogramm für Beschäftigte einhergehen, um so Standorte und Arbeitsplätze zu sichern. Wenn nötig, gibt es Angebote zur Arbeitszeitverkürzung mit möglichst hohem Teillohnausgleich und für einen akzeptablen Wechsel in den vorzeitigen Ruhestand.
Das alles ist natürlich keine Garantie dafür, dass jeder Arbeitsplatz an jedem Ort erhalten werden kann. Aber wichtig ist, dass die Gründe von Entscheidungen durchschaubar sind und die Beschäftigten sie nachvollziehen können.

Es gab vor allem in den 1980er-Jahren große Kampagnen und Konflikte: der Kampf um die 35 Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich, der um die Humanisierung der Arbeit. Das waren Projekte der Gewerkschaften, an denen konnten weder Gesellschaft noch Politik vorbeigehen. Was könnte heute ein großes Projekt der Gewerkschaften sein, das Gesellschaft und Politik annähernd so bewegt und mobilisiert? Oder gibt es dieses Projekt, und ich habe es nur nicht entdeckt?

Klaus Lang: Das zentrale Projekt ist, wie gesagt, diese anstehende Transformation gerecht und human zu gestalten! Aber dieses Vorhaben ist so abstrakt und allumfassend, das taugt nicht für eine Mobilisierung, daraus entsteht keine Bewegung. Eine Zuspitzung auf wenige klare qualitative Forderungen für Tarifauseinandersetzungen, die ist noch nicht erfolgt. Das hat nach meiner Beobachtung vor allem diesen Grund: In ihrer Alltagsarbeit sind Gewerkschaften und Betriebsräte ständig mit dem Managen von Krisen in Betrieben beschäftigt, mit dem Ziel, Arbeitsplätze und Einkommen der Beschäftigten zu sichern. Bereits das kostet zu viel Kraft. 

Die Beschäftigten als Souverän des Arbeitsprozesses

Was sind die konkreten weitreichenden Projekte, die die Gewerkschaften Ihres Erachtens möglichst bald anpacken müssten?

Klaus Lang: Ich halte zwei Themen für herausragend, die beide in den Gewerkschaften auch schon diskutiert werden: Die Regelarbeitszeit wird verkürzt, in Form einer Vier-Tage- oder einer 28-Stunden-Woche. Und: Die arbeitenden Menschen müssen im Arbeitsprozess viel mehr als bisher zu sagen haben, viel mehr als bisher im Arbeitsalltag mitentscheiden können, ob das Arbeitszeiten, Arbeitsorganisation, die Qualität ihrer Arbeit betrifft oder ihre Arbeit in Teams oder Kleingruppen. In diesem Sinne müssen Beschäftigte neu Souverän des Arbeitsprozesses werden. Das sind meines Erachtens die beiden zentralen Zukunftsthemen. Digitale Techniken, Roboterisierung und KI schaffen für beide Forderungen auch eine Grundlage. Denn mit ihnen können die Unternehmen heute schon ihre Produktionen flexibel und agil organisieren. Das gilt übrigens nicht nur für die produzierende Industrie, sondern ebenso für den Dienstleistungsbereich und öffentliche Verwaltungen. 

Geht es denn bereits heute in den Tarifauseinandersetzungen um  Qualität und Souveränität?

Klaus Lang: Klar. Es sind bisher schon Optionen durchgesetzt worden, die Beschäftigten erlauben, ihre Arbeitszeit individueller zu gestalten. Sich weiter zu qualifizieren, das muss mehr als bisher im laufenden Arbeitsprozess möglich und selbstverständlich werden. Auch die Themen Gleichheit der Entgelte und Frauenförderung standen und stehen auf der Tagesordnung bei Tarifverhandlungen. Mit ihrem „Zukunftstarifvertrag“, der noch weiter entwickelt werden muss, will die IG Metall einen stabilen Rahmen schaffen, innerhalb dessen die Transformation konkret in jedem Betrieb sozial und human gestaltet werden kann. Sozusagen Vorgabe und Hilfestellung gleichermaßen.

Screenshot: Website IG Metall

Wenn es Ihnen um eine kollektive Arbeitszeit-Verkürzung geht, soll die mit einem Lohnausgleich verbunden sein oder mit entsprechenden Lohnkürzungen?

Klaus Lang: Der sogenannte „volle Lohnausgleich“ ist das Ziel. Er stand auch bisher in unauflöslichem Zusammenhang mit den zeitgleich vereinbarten Entgelterhöhungen. Je größer ein Schritt Arbeitszeitverkürzung desto geringer parallel die Steigerung des Entgelts. Für die Zukunft sollten vermehrt auch andere Formen in den Blick rücken, zum Beispiel: Der Arbeitgeber zahlt einen prozentualen Lohnausgleich, ein weiterer Teil des Ausgleichs kommt aus einem „Kurzarbeitergeld Transformation“ des Staates, ein Rest schließlich noch aus einer zeitlich befristeten Umwandlung von jährlichen Entgeltbestandteilen auf die Monatsentgelte.

Meines Wissens hat sich vor allem auch die IG Metall bisher strikt gegen eine kollektive, also eine generelle Arbeitszeit-Verkürzung gewandt. Sie konzentrierte sich darauf, die Individualisierung von Arbeitszeiten zu fördern. Also wer 25 Stunden pro Woche arbeiten will, der soll dazu das Recht bekommen. Wer aber 38 Stunden arbeiten will, der soll das auch können. Helfen Sie mir zu zwei Punkten: Hat sich diese Positionierung geändert? 

Klaus Lang: Ich kann nicht für die IG Metall sprechen. Aber es werden in der IG Metall sehr wohl weitere generelle Verkürzungen wie die 28-Stunden- oder die Vier-Tage-Woche diskutiert und gefordert. Nach meiner Überzeugung sollen die erweiterten Wahlmöglichkeiten dennoch erhalten bleiben. Aber das durchschnittliche individuelle Arbeitszeitniveau muss und wird weiter sinken. Sicher schwelt da eine schwierige Auseinandersetzung, denn die von den Metallarbeitgeberverbänden finanzierte „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ startet gerade eine Kampagne, in der längere Arbeitszeit zu einer Kernforderung eines Wirtschaftsaufschwungs wird.

Arbeitgeber: länger statt kürzer arbeiten

Und zweitens: Was spricht aus Sicht einer Gewerkschaft gegen kollektive Arbeitszeit-Verkürzungen und für eine Vielfalt an individuellen Lösungen?

Klaus Lang: Dafür spricht die Differenzierung der Arbeitswelt, auch innerhalb einer Branche, eines Betriebes, ebenso wie die immer vielfältigeren Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten, deren Interessen die IG Metall vertritt.

Was könnten denn heute sinnvolle Streikziele sein? Abgesehen von denen um mehr Geld. 

Klaus Lang: Streikziele fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in längeren und oft mühsamen Debatten in den Betrieben und der Gewerkschaftsorganisation. Schließlich müssen die Mitglieder und Beschäftigten so klar hinter den Forderungen stehen, dass sie dafür notfalls auch streiken werden. Das ist ein sehr demokratischer Prozess. Und Ihre Frage habe ich zuvor schon beantwortet: Arbeitszeit und Arbeitnehmersouveränität, um diese beiden Stichworte sollten sich die künftigen Tarifforderungen drehen.

Technischer Fortschritt ist in der Neuzeit Alltag. Heute scheinen wir es jedoch mit einem Riesensprung zu tun zu haben: Werden Digitalisierung, Roboterisierung und Künstliche Intelligenz kombiniert, dann kommt es bald zu riesigen Produktivitätssteigerungen und einem tiefgreifenden Umbau der Arbeits- und Produktionsverhältnisse. Sind Gewerkschaften, Politik und Gesellschaft überhaupt fähig, das noch zu gestalten? Oder sind sie nur noch Getriebene dieser Erfindungen, welche Konzerne ausschließlich mit dem Ziel der Gewinnmaximierung einsetzen?  

Klaus Lang: Ich widerspreche dieser Befürchtung. Wir haben es ja nicht mit der ersten industriellen Revolution zu tun, sondern zumindest mit der vierten. Das heißt, Gewerkschaften und Politik haben Erfahrungen mit solchen Prozessen. Zudem ist dieser heutige Prozess, eben oft als vierte industrielle Revolution bezeichnet, zumindest in den Industriestaaten alles andere als eine Revolution, verglichen mit der ersten. Er verläuft mehr evolutionär, weniger disruptiv. Es zeichnet sich zumindest bisher kein Massenelend als Folge digitaler Revolution ab. Umgekehrt gilt sogar: Es wird lebhaft debattiert und sogar wehgeklagt, warum gibt es denn nicht schneller mehr von diesen vielfach prognostizierten Produktivitätssprüngen. Und: Wir haben in Deutschland den höchsten Stand der Beschäftigung. Auch in der EU sinkt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich seit 2013/2014, trotz Pandemie, Energiekrise und Krieg. Natürlich geht das nicht von alleine, sondern auch weil EU und viele Nationalstaaten mit hunderten Milliarden an Sozial- und Wirtschaftsprogrammen gegengesteuert haben. Nehmen wir noch diese Zahl hinzu, um die Lage in Deutschland zu analysieren: Im kommenden Jahrzehnt werden Jahr für Jahr etwa 400.000 Arbeitskräfte mehr den Arbeitsmarkt verlassen als neue arbeitsfähige Menschen hinzukommen! Wir haben es also mit einem Mangel, nicht mit einem Überschuss an Arbeitskräften zu tun. Nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitskräftemangel ist das prägende Thema. Eigentlich beste Voraussetzungen, um Spaltungen in der Gesellschaft zu verhindern und eine gerechtere Verteilung durchzusetzen! 

Hilft dieser Mangel an Arbeitskräften den Gewerkschaften im Sinne von mehr Einfluss und Macht?

Klaus Lang: Generell ja. Die Gewerkschaften stehen weit besser da als bei der ersten oder zweiten industriellen Revolution. Tarifverträge und Gesetze bieten bessere Möglichkeiten, sich zu wehren und die Veränderungen im eigenen Sinn zu beeinflussen. Die vierte industrielle Revolution human und sozial zu gestalten ist sicher kein Selbstläufer, aber die Voraussetzung für das Gelingen sind so schlecht nicht. 

Die Folgen des Arbeitskräftemangels sind zwiespältig. Einerseits erleichtert er es, höhere Entgelte und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Andererseits führt er dazu, dass Arbeitgeber diese Konditionen gewähren, um Beschäftige zu halten sowie an- und abzuwerben, auch ohne gewerkschaftlichen Druck.

Teil zwei „Warum hat bei den Gewerkschaften niemand den Mumm, groß zu denken?“ steht hier.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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