Slums, Kehrseite des Kasinokapitalismus

Foto: ameeq auf Pixabay

Weltweit wohnen rund 1,2 Milliarden Menschen in Slums, schätzt die Weltbank, mehr als zweieinhalbmal so viel wie die Europäische Union Einwohnerinnen und Einwohner hat. César Rendueles schreibt in „Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie“ (Berlin, Suhrkamp, 2015, S. 15-18):
“Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts leben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in städtischen Ballungsräumen als auf dem Land. […] Der sich gegenwärtig durchsetzende urbane Raum besteht aus diffusen, hyperverelendeten Siedlungen, die keine einzige jener Eigenschaften aufweisen, die wir normalerweise mit ‚Städten‘ assoziieren. Es handelt sich um Agglomerationen ohne klar Umrisse, Straßen, Wasser- und Stromversorgung oder auch nur Häuser im traditionellen Sinne.”

“Das Problem lässt sich kaum überschätzen:

Der Anteil der Slumbewohner, die in den entwickelten Industrieländern nur sechs Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen, liegt in den Städten der am wenigsten entwickelten Länder bei schockierenden 78,2 Prozent; das entspricht einem Drittel der städtischen Bevölkerung der Welt. Laut UN-Habitat leben prozentual gesehen die meisten Slumbewohner in Äthopien (erstaunliche 99,4 Prozent der städtischen Bevölkerung) und im Tschad (ebenfalls 99,4 Prozent), gefolgt von Afghanistan (98,5 Prozent) und Nepal (92 Prozent) […]. Es gibt wahrscheinlich mehr als 200.000 Slums auf der Erde, deren jeweilige Bevölkerungszahl von ein paar hundert bis zu mehr als einer Million Menschen reicht. Die fünf großen Metropolen Südasiens – Karatschi, Mumbai, Dehli, Kalkutta und Dhaka – haben allein schon etwa 15.000 unterschiedliche Slumviertel mit einer Gesamtbevölkerung von über 20 Millionen.

Mike Davis, Planet der Slums, Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2007, S. 30f.

[…] Die städtischen Elendsagglomerationen sind die Kehrseite des Kasinokapitalismus: ein Auffangbecken für jene Menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung – der Technologisierung der Ökonomie und der zunehmenden Bedeutung von Spekulationsgeschäften – überflüssig geworden sind. Sie stellen Konfliktherde dar, deren Ausmaße wir noch nicht einmal erahnen. Es handelt sich hier nicht nur um eine ethische, wirtschaftliche oder politische Frage, sondern um ein Problem ökologischer Grenzen, die sich nicht beliebig immer weiter verschieben lassen. Es ist, als wollten die Herren der Welt die extremsten malthusischen Albträume Wirklichkeit werden lassen.

Das Auftauchen der Dritten Welt hat einen großen Einfluss auf die politischen Erwartungen westlicher Bürger gehabt: Die Existenz einer apokalyptischen Peripherie hat die Angst vor Veränderungen enorm verschärft. Das Gegenbild zum westlichen Liberalismus ist die Vorstellung totalitärer, stupider und irrationaler Menschenmassen. Tief in unseren Herzen spüren wir, dass die Alternative zum fortgeschrittenen Kapitalismus nicht mehr die konservative Solidarität traditioneller Gemeinschaften ist, sondern ein infernalisches Kontinuum aus Armut, Korruption, Kriminalität, Fundamentalismus und Gewalt.“

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

1 Kommentar

  1. Wenn das “infernalische Kontinuum” die “Kehrseite des Casinokapitalismus” ist, wie kann es dann gleichzeitig die “Alternative zum fortgeschrittenen Kapitalismus” sein? Meint der Autor, dass demnächst auch die Profiteure des fortgeschrittenen Kapitalismus im infernalischen Kontinuum versinken? Also globale APOKALYPSE? Oder meint er, dass das infernalische Kontinuum die Konsequenz des noch unterentwickelten Kapitalismus im globalen Süden und der Entwicklungsbremsen im globalen Norden sind? Kein Ausweg nirgends? Aber warum müssen dann gerade so viele Menschen in der Ukraine sterben?

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