Bröckelt Putins Machtbasis? “Nein”

Bild: lorilorilo auf Pixabay

“Hören wir auf das, was Putin gesagt hat. Er bestreitet die Existenz der Ukraine und spricht ihr folgerichtig jedes Existenzrecht ab. Taktische Rückzüge, von der Ukraine militärisch erzwungen, ändern daran nichts.” So schätzt Gernot Erler – drei Jahrzehnte als SPD-Außen- und Sicherheitspolitiker im Bundestag, von 2003 bis 2006 und von bis 2014 bis 2018 Russland-Beauftragter der Bundesregierung – das Kriegsziel des Kreml ein. Im Interview mit Wolfgang Storz äußert er sich über die militärische Logik, von der Putin und Selensky zur Zeit bestimmt seien, wie auch zu Fragen nach Friedensverhandlungen und der Wirkung von Sanktionen.

Zu Beginn eine Spekulation. USA und EU schlagen Ukraine und Russland vor: sofortiger Waffenstillstand, alles bleibt an Ort und Stelle, keine weiteren Bedingungen, Überwachung der Waffenruhe von der UNO, dann Beginn von Friedensverhandlungen mit dem Ziel der Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine. Einfach diese Spekulation, weil hunderttausende BürgerInnen, angeführt von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht, dies in diesen Wochen fordern. Würden Sie, ehemaliger SPD-Außenpolitiker und einer der erfahrensten Russland-Kenner in Deutschland, der Ukraine raten, darauf einzugehen?

Gernot Erler: Das ist keine Spekulation, sondern eine Wunschvorstellung. Sie scheitert daran, dass beide Seiten weiterhin auf einen militärischen Erfolg setzen. Putin und Selenskyj sehen sich in einem Mikado-Spiel: Wer zuerst wackelt, hat verloren.

Foto: OSCE Parliamentary Assembly from Copenhagen, 2016, auf wikimedia commons

Gernot Erler, 1944 geboren, lebt in Freiburg. Er hat Examen in Geschichte, Slawische Sprachen und Politik abgelegt. Erler, der russisch spricht, war an der Universität Freiburg auch am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte tätig. Er saß, bis Oktober 2017, für die SPD 30 Jahre im Bundestag; mehrfach gewann er seinen Wahlkreis direkt. In dieser Zeit wurde er zu einem der einflussreichsten und erfahrensten Außen- und Russlandpolitiker der SPD. Von 1994 bis 1998 war er Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Von 1998 bis Ende 2013 konzentrierte er sich als Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion auf Außen- und Sicherheitspolitik, unterbrochen von seiner Tätigkeit als Staatsminister im Auswärtigen Amt von 2005 bis Oktober 2009. Von 2003 bis 2006 und von 2014 bis Mitte 2018 war Gernot Erler Russland-Beauftragter der Bundesregierung.

Trotzdem die Nachfrage: Putin gilt ja im Westen als der unbeirrbare Kriegstreiber, an dem bis heute jegliche Verhandlungen scheitern. Vielleicht ist es und er doch anders, vielleicht ginge er auf eine solche Initiative doch ein. Wäre sie also nicht doch einen Versuch wert?

Gernot Erler: Bei den vielen russischen Verlusten kann Putin nicht nach Hause kommen mit einem Waffenstillstand und der Fortschreibung des Status quo.

Initiativen wie die von Wagenknecht und Schwarzer reüssieren in der deutschen Bevölkerung vor allem mit der Behauptung, es werde alles getan, um der Ukraine Waffen zu liefern, es werde jedoch nichts oder viel zu wenig getan, um via Diplomatie einen Waffenstillstand zu erreichen. Garniert und geschürt wird dieses Misstrauen mit vielen Erzählungen, vor allem verbreitet von Sarah Wagenknecht, es habe beinahe erfolgreiche Geheimverhandlungen mit der Ukraine und Russland gegeben, unter anderem von einem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten, die jedoch in der Schlussrunde vor allem von der britischen Regierung von Boris Johnson und der US-Regierung torpediert worden seien.
Haben Sie ein eigenes Bild von diesen oder etwa noch anderen Geheim-Verhandlungen, über die unter anderem die angesehene US-Fachzeitschrift „foreign affairs“ berichtet hatte?

Gernot Erler: Heute knüpfen Putin wie Selenskyj ihre Verhandlungsbereitschaft an Vorbedingungen, die einer Kapitulation der anderen Seite gleichkommen. In keinem der Aufrufe und Manifeste findet sich ein Vorschlag, wie man aus dieser Situation herauskommt.

Der Vernichtungskrieg von Putin-Russland gegen die und in der Ukraine hat sich eben gejährt. Gab es in dieser Zeit eine Gelegenheit, bei der Sie aufmerkten und sagten: Das wäre eine Gelegenheit, um in Verhandlungen einzusteigen, die darf nicht verpasst werden.

Gernot Erler: Es gab die erfolgreichen Verhandlungen über den Getreideexport. Warum fühlte sich niemand ermutigt, an diesem Erfolg anzuknüpfen und die Gesprächsthemen zu erweitern?

Ein beobachtender Laie, der sich nur von den allgemeinen Medienberichten nährt, fragt sich schon: Warum gibt es denn in diesen langen Kriegsmonaten nie eine energische Initiative von USA, EU und China, um einen Waffenstillstand durchzusetzen?

Gernot Erler: Ich wiederhole: Solange beide Seiten auf den militärischen Erfolg setzen, kann keine Initiative von außen Erfolg haben.

Ist die jüngste Friedensinitiative von China ein erster Aufschlag? Oder nicht mehr als ein Propaganda-Trick?

Gernot Erler: Die chinesische Initiative ist zu begrüßen. Man darf weiterhin China, das sich als Weltmacht sieht, nicht aus der Verantwortung lassen. Nach wie vor sieht China die Schuld für den Krieg eher bei den USA als bei Russland.

Zur Erinnerung: Im März 2022 bot Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj die Neutralität als Kompromiss an, also den Verzicht auf eine ursprünglich angestrebte NATO-Mitgliedschaft. Zudem war er bereit, die Frage der Krim und der besetzten Gebiete des Donbass auf 15 Jahre einzufrieren, um in dieser Zeit eine diplomatische Lösung zu finden.
Wissen Sie das: Steht dieses Angebot denn noch? Auf dieser Basis müsste doch mindestens ein Waffenstillstand erreicht werden können.

Gernot Erler: Seit März 2022 hat sich vieles verändert. Russland hat zahlreiche Städte und Dörfer verwüstet oder sogar unbewohnbar gemacht. Tägliche Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur sollen das Land zur Kapitulation zwingen. Vier Gebiete wurden annektiert. Faktisch war das die Antwort auf Kiews damaliges Angebot.

In politischen Kreisen, die den Waffenlieferungen kritisch bis grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, wird häufig dieses Bild vertreten: Die Ukraine ist im Kern unverändert korrupt, Rechtsradikale haben hohen Einfluss auf die Politik, und der demokratische Maidan-Aufstand von 2013/14 ist letztlich ein vor allem von den USA finanzierter Umsturz zu Lasten von Putin-Russland gewesen — quasi von Demokratie keine Spur. Welches Bild haben Sie von der Ukraine?

Gernot Erler: Die Ukraine kämpft ums Überleben. Das ist ihr Recht, unabhängig von den bekannten Defiziten in ihrer politischen Kultur. Letztere werden aber an anderer Stelle eine wichtige Rolle spielen: bei den Bemühungen des Landes um einen EU-Beitritt.

Wie sehen Sie heute Russland: eine Diktatur, eine Autokratie, eine imperialistische Diktatur, ein ideologiefreier Mafia-Staat?

Gernot Erler: Russland ist auf dem Weg zurück in eine “Selbstherrschaft“, also in eine Autokratie, wie wir sie aus der Zarenzeit kennen, aber eine mit Weltmachtsansprüchen.

Woher kommt, nach einem Jahr eines erschütternden und zermürbenden Vernichtungskrieges, der Widerstandswille des ukrainischen Volk? Denn ohne den nützten alle Waffenlieferungen nichts. Und: Wie überraschend war und ist der für die professionellen westlichen politischen Apparate?

Gernot Erler: Dieser Freiheitswille ist bewundernswert. Die Ukrainer wissen, was ihnen bei einem russischen Sieg bevorsteht. Ich glaube, am meisten überrascht war der Kreml.

Worin besteht nach Ihren Kenntnissen das Kriegsziel von Putin-Russland? Und hat sich daran in den letzten Monaten etwas geändert?

Gernot Erler: Hören wir auf das, was Putin gesagt hat. Er bestreitet die Existenz der Ukraine und spricht ihr folgerichtig jedes Existenzrecht ab. Taktische Rückzüge, von der Ukraine militärisch erzwungen, ändern daran nichts.

Offizielle Stellen in Norwegen signalisieren, das Land fühle sich bedroht, Russland sei als „unberechenbar“ einzuschätzen. Zudem gibt es Gerüchte, Russland wolle die westlich ausgerichtete Regierung von Moldau stürzen. Stehen wir vor einer weiteren Eskalation des Krieges von Seiten Putin-Russlands?

Gernot Erler: Ich kann die Sorgen nachvollziehen, die sich in der gesamten Region östlich der EU ausbreiten. Wer sich tatsächlich wie der russische Präsident über die Gebote der “Europäischen Friedensordnung“ und die wichtigsten internationalen Regeln hinwegsetzt, muss als “unberechenbar“ gelten. Putin hat selber mit dem Einsatz von Waffen extremer Zerstörungskraft gedroht, die bisher noch nicht zur Anwendung gekommen sind. Eine Atommacht verfügt außerdem immer über Eskalationsoptionen.

Wie bewerten Sie nach einem Jahr das Instrument der Wirtschaftssanktionen? Schwächen diese die russische Wirtschaft und Kriegswirtschaft? Das wird im Westen von vielen bezweifelt. Ein Beispiel: Jüngst wurde auch der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt, dass Österreich unverändert zu 80 Prozent sein Gas von Gazprom bezieht.

Gernot Erler: Die zehn bisherigen Sanktionspakete werden aufgrund von Gegenmaßnahmen in ihrer Wirkung abgeschwächt und zum Teil auch umgangen. Mit Sanktionen kurzfristig den Krieg für Putin unbezahlbar zu machen, ist Illusion. Aber die meisten Ökonomen rechnen mittelfristig mit einer Schwächung der russischen Volkswirtschaft.

Gibt es nach einem Jahr eines aus der Perspektive von Putin-Russland komplett misslungenen, jedoch noch längst nicht gescheiterten Krieges Hinweise, dass die Machtbasis von Putin bröckelt oder geschmälert ist?

Gernot Erler: Nein. Nach der Verfolgung und Ausschaltung jeglicher Opposition hat Putin nichts zu befürchten. Das würde sich bei einer militärischen Niederlage aber ändern, wenn sich die Schuld und Verantwortung dafür nicht mehr allein auf die militärische Führung abschieben lässt.

Wenn Sie die Logik des Denkens und Handelns von Putin und seines Apparates analysieren: Wie wird er vermutlich weiter agieren, was werden seine nächsten Schritte sein?

Gernot Erler: Logisch wäre für ihn, alles auf einen militärischen Erfolg zu setzen und dabei den Einsatz der Mittel zu erhöhen.

Wie definieren Sie, Stand heute, das Kriegsziel der Ukraine? Deckt sich das mit dem Ziel des Westens? Und: Gibt es ein klar erkennbares Kriegsziel der Bundesregierung?

Gernot Erler: Ich wiederhole: Die Ukraine kämpft um ihren Weiterbestand als souveräner Staat, also ums Überleben. Der Westen und die Bundesregierung unterstützen die Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch bei diesem Überlebenskampf. Russland hat sich mit dem Überfall auf das Nachbarland einem Risiko ausgesetzt, das größer als erwartet ausfällt. Die Verantwortung dafür trägt nicht der Westen, sondern allein der russische Präsident.

Ist das das eigentliche Kriegsziel des Westens: mit der Ukraine als ebenso nützlichem wie verratenem Idioten materiell und militärisch Russland möglichst stark zu schaden?

Gernot Erler: Nein.

Sie sprachen oben von Mikado-Spiel, davon dass beide Seiten auf militärische Erfolge setzen, dass es aber mit Getreideabkommen und China-Initiative sinnvolle Ansätze gebe, die aufzugreifen und auszubauen seien. Wer hat — nach Ihrer Erfahrung in Sachen internationaler Verhandlungen und Konfliktmanagement — heute die Autorität und die Pflicht, diese Aufgabe des positiven Aufgreifens und Ausbauens zu übernehmen?

Gernot Erler: Die Augen richten sich notgedrungen auf Vermittler, die von beiden Seiten respektiert werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist hier an erster Stelle zu nennen. Andere Politiker haben sich angeboten. Wenn beide Seiten bereit sind, die Kriegslogik hinter sich zu lassen, wird es an der Vermittlung nicht scheitern. 

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

2 Kommentare

  1. Abgesehen davon, dass die Fragen mehr Text beanspruchen als die Antworten und dadurch der Eindruck entsteht, dass W. Storz sich gern reden hört, zielen seine Fragen eher dahin, Russland zu zu entdämonisieren und deuten auf fehlende Empathie für die Ukrainer.

  2. Eine kurze Bemerkung zur fehlenden Empathie: Journalistische Interviews, vor allem diejenigen, die im Hin und Her schriftlich geführt werden, sind keine Streitgespräche, bei welchen beide Seiten ihre Meinung vertreten. Journalist:innen haben von Berufs wegen eine andere Funktion. Sie sollen Fragen stellen, die entweder „in der Luft liegen“ oder die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen. Dahinter kann zufälligerweise auch ihre eigene Meinung stecken, aber sie sollte keine Rolle spielen. Als Fragende sollen Journalist:innen ein (im weitesten, meist schwammigen Sinn) “öffentliches Interesse” wahrnehmen.

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