Die Deutsche Bahn blamiert ihre Mitarbeiter:innen

Foto: Túrelio auf wikimedia commons

Das Ticket, käuflich erstanden, verspricht mir eine Bahnfahrt von Zürich HB mit Umstieg in Basel SBB nach Frankfurt a.M.. Die Schweizerischen Bundesbahnen sind für die Reise von Zürich bis Basel verantwortlich, in Basel SBB soll ein ICE der Deutschen Bahn (DB) übernehmen und mich zusammen mit anderen Fahrgästen nach Frankfurt bringen. Damit geben sich die Schweizerische und Deutsche Bahn kooperativ die Hand. Alles bestens, wir fahren pünktlich ab.

Kurz bevor der Zug Basel Schweizer Bundesbahnhof (SBB) erreicht, wird uns Fahrgästen bekannt gegeben, dass der ICE der DB uns nicht, wie es auf dem Ticket steht, in Basel SBB aufnehmen werde. Der deutsche ICE werde stattdessen in Basel Badischer Bahnhof, also auf deutschem Hoheitsgebiet auf uns warten. Der Zugchef lässt uns wissen, dass für die kurze Fahrt von Basel SBB (Schweiz) zum Badischen Bahnhof (Deutschland) die S-Bahn 6 bereit stehe.

Gelassene und nervöse Reisende

Der ebenso kurzfristige wie unvorhergesehene Umstieg in Basel SBB hat zur Folge, dass die S-Bahn mit dem Ziel „Zell (Wiesental)“ von den Fahrgästen des ICE überfüllt wird. Das Warten auf die mit Reisegepäck beschwerten, in ihrer Beweglichkeit eingeschränkten Reisenden und der zeitraubende Einstieg verzögern die Abfahrt. Gelassene Reisende bestärken zunehmend nervöse darin, dass der deutsche ICE auf sie warten werde.

Als der Regionalzug im Badischen Bahnhof eintrifft, steht der ICE schon auf einem anderen Gleis. Es ist zwar nicht dasjenige direkt gegenüber, aber das gut sichtbare Gleis auf dem benachbarten Bahnsteig. Die Zugladung an Fahrgästen steigt aus und zwängt sich durch den Gang nach unten. Die Situation gleicht einem gefüllten Waschbecken, dessen halb verstopfter Ablauf dem Wasser nur langsam erlaubt, abzufließen. Als die Masse sich nach unten bewegt , den Verbindungsgang genommen und die Treppe zum nächsten Gleis überwunden hat, nimmt sie wahr, ja realisiert sie, dass der Zug, den sie soeben noch stehen sah, abgefahren ist.

Basel Badischer Bahnhof (Foto: Taxiarchos228 auf wikimedia commons)

In Situationen wie dieser brauchen Menschen häufig einige kurze Momente, um zu verstehen, was sich ereignet hat. Erst dann setzt das Begreifen ein. So auch in diesem Fall. Schnell macht das Wort „Unverschämtheit“ die Runde. „Der Zug hat nicht gewartet.“ „Hat die Besatzung des Zuges uns nicht gesehen? Sie müssen uns gesehen haben?“ „Der Zugführer hat uns auf jeden Fall gesehen.“ Erste Deutungen werden geäußert. „Das geht schon in Richtung unterlassener Hilfeleistung. Wie wenn man die sich in Not befindenden Menschen sieht und dennoch nicht helfend eingreift.“

Der Rage und dem Protest ausgeliefert

Einige Empörte machen sich zum Reisezentrum des Bahnhofs auf. Dort scheint man keine Ahnung von dem Vorfall zu haben, der sich soeben ereignet hat. Die Beschäftigten der Bahn werden zu Adressaten der kollektiven Beschwerde. Auch dafür hat die DB sie als Anlaufpunkt und Informationsstelle geschaffen. Faktisch werden die Mitarbeiter:innen zum Prellbock – zwar nicht verantwortlich für das Missgeschick, aber der Rage und dem Protest der Kunden ausgeliefert. Protestierende, die sich nicht so leicht beruhigen lassen, werden an den Kundendialog Fernverkehr mit eigener Website und Telefonnummer verwiesen. Die Deutsche Bahn ist auf die Verarbeitung von Pannen wie dieser eingestellt. Aber klärt das Dialogzentrum darüber auf, wer für sie verantwortlich ist? Wie ist die Entscheidung über die Abfahrt des Zuges gefallen? Oder erhalten die Protestierenden nur eine Entschuldigung für die entstandenen Unannehmlichkeiten? Oder bekommen sie einen Teil der Fahrtkosten rückerstattet?

Es ist eine interessante Frage, wie Dr. Richard Lutz, der Vorstandsvorsitzende der Deutsche Bahn AG, sein Unternehmen darstellen würde, das eine Zugladung von Passagieren einfach stehen lässt. Ist der CEO der DB in der Lage, vor den Kameras des Fernsehens oder auf dem Podium eines verkehrspolitischen Kongresses glaubwürdig über sein Unternehmen als einem handlungsfähigen Subjekt zu reden, das seine Kund:innen wahrnimmt? Zumindest verspricht das ebenso markante wie omnipräsente rot-weiße Logo der DB corporate identity. Also die Identität einer Organisation mit klaren Zielen und einer entsprechenden Strategie. Oder allgemein: ein handlungsfähiges Großsubjekt. Ist die Deutsche Bahn ein solcher funktionsfähiger Organismus, im dem die miteinander verbundenen funktionalen Teile das notwendige Wissen teilen? Der Soziologe Niklas Luhmann hat uns Skepsis gelehrt. Wir sollten eher über die Verselbständigung des Systems oder über nicht ausreichende Umweltbeobachtung reden.

Akzeptanz sogenannter Normalität?

Wie gesagt, die Erregung der Kund:innen war groß. Aber vermutlich folgt sie immer demselben Muster: zunächst das Gefühl der Brüskierung und große Aufregung, dann die sprachliche Verarbeitung des Vorkommnisses, und schließlich allmähliche Resignation: „Eigentlich müsste man etwas dagegen unternehmen.“

Die Bewertung dieses Vorfalls als „Unverschämtheit“ der Bahn AG war im Grunde genommen hilflos. Später auf dem Bahngleis, als die Fahrgäste auf den nächsten, 75 Minuten später eintreffenden Zug warteten, hatte sich eine Gruppe von Reisenden zufällig zusammen gefunden. Einer sagte, dass er große Lust habe, seine Bahncard zu zerschneiden und sie der DB zuzusenden. Er meinte dann aber etwas später, dass er dies wohl nicht tun werde, weil er im September die Karte noch brauchen werde.

Andere mutmaßten über die Ursachen dieses Vorfalls. An eine Schikane des Zugführers mochte niemand glauben. So etwas kam zwar gelegentlich bei den Busfahrer:innen der öffentlichen Verkehrsmittel vor, wenn sie einem herbeieilenden Fahrgast vor der Nase wegfuhren. Bei einem derart streng systemischen Verkehrsmittel wie der schienengeleiteten Bahn war dies aber nicht denkbar. Und auch die öffentlichen Verkehrsmittel legten auf das physische Wohl der Kund:innen großen Wert. Deshalb waren die Schließautomatismen der Türen der U- und S-Bahnen so konstruiert, dass sie die physische Integrität der Fahrgäste nicht verletzten. Schließlich meinte ein Spaßvogel: „Die einfachste Lösung wäre, wenn die Kunden zu Buddhisten werden.“

Also war ein anderer Grund des Bahn-Versagens an diesem Tag wahrscheinlicher: die fehlende Entscheidungskompetenz des Zugführers. Die Gruppe stellte in Frage, ob er überhaupt den Entscheidungsspielraum besaß, die Situation mit eigenen Augen zu beurteilen. War es denkbar, dass die Sichtbarkeit bei einer Situationsbeurteilung nahezu vollends ausgeschaltet war, weil eine KI die Entscheidung im Sinne übergeordneter Kriterien wie der durchschnittlichen Pünktlichkeit traf?

Bild: geralt auf Pixabay

Vertragsbruch

Wie also war der ganze Vorfall zu beurteilen? Schließlich handelte es sich nicht um eine Alltäglichkeit wie ein verpasster Anschluss wegen Verspätung. Sondern es ging um mehr: die Leistung, die mit dem Kauf des Tickets vertraglich vereinbart war, wurde von der DB schlichtweg nicht erbracht. Der ICE hätte, nachdem er die Fahrgäste nicht im SBB abgeholt hatte, am Badischen Bahnhof auf sie warten müssen. Weil er dies nicht tat, wurde die DB vertragsbrüchig und verfügte willkürlich über die Zeit ihrer Fahrgäste.

Die ganze Sache hat auch einen grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Aspekt. Dieser betrifft einen Modernisierungsdefekt. Jede hochtrabende politische Rhetorik von einer Wende oder Transformation scheitert am Organisationsalltag wichtiger Institutionen. Oder besser an der das alltägliche Leben bestimmenden Form namens Organisation. Sie konterkariert Ideale, Werte und die besten Reformabsichten.

Dieses Politikum der Form muss zukünftig mehr Beachtung finden. Die Strukturen der DB sind zu verbessern. Die Kunden müssen stärker in den Focus. Aber auch die eigenen Mitarbeiter:innen an der Kundenfront. Sie machen ihre Arbeit gut und engagiert – als Schaffner:in, im Zugrestaurant oder im Reisezentrum, aber die Organisation blamiert sie.

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

2 Kommentare

  1. Tja, lieber Klaus, als DB-Kunde lernt mensch, dass es im Unternehmen kein Management (mehr) gibt. Neulich in Essen. Ansage 19.41 Uhr: Zug fährt heute von anderem Gleis los. Die Passagiere eilen zum Gleis. Treppe runter. Gang lang. Treppe rauf. Dort sehen sie nur noch die Rücklichter des Zuges. Er ist pünktlich abgefahren: 19.41 Uhr.

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