Der Vernichtungskrieg Putins und seiner Kamarilla gegen die Ukraine hat in Deutschland manch Außen- und Parteipolitisches hoch gespült. In „Die Moskau Connection“, dem Buch der beiden FAZ– Redakteure Reinhard Bingener und Markus Wehner kann man eine Menge dessen besichtigen, was an die Oberfläche gestrudelt wurde. Das riecht, weiß Gott, nicht gut, was da zu besichtigen ist. Präzision und Belegbarkeit von Feststellungen wurden von den beiden Autoren freilich nicht immer erreicht. Ich will ein Beispiel etwas breiter darstellen, denn das Thema, die Frage, warum sich ein Teil der politischen Linken in Deutschland freiwillig in Putins stinkende Fallgruben begeben hat, ist ja nicht nebensächlich.
Manches ist bereits erörtert worden – etwa die vielen Verbindungen und auch Bindungen des Rechtsanwalts Gerhard Schröder – Bundeskanzler zwischen 1998 und 2005 – zum und an den Diktator in Russland, Wladimir Putin. Es war auch in Teilen bekannt, dass sich das Umfeld Schröders und eine Reihe namhafter Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu Schröder gesellt hatten, um Geschäfte mit Russland und Putins ökonomischer Anhängerschaft anzubahnen; vor allem Nord Stream 2. Auch hier hält man sich besser die Nase zu.
Eine Sammlung von 25 Aktentaschen
Der Name des 1990 verstorbenen SPD-Politikers Herbert Wehner wird in der Öffentlichkeit fast nicht mehr genannt, Wehner wird kaum noch erwähnt. Ausnahme: Vergangenes Jahr beschäftigte sich eine schleswig-holsteinische Geschichtswerkstatt mit seinem Leben. Ab und an erscheinen Nachrichten in lokalen Medien, die über Aktivitäten des in Sachsen beheimateten Herbert-Wehner-Bildungswerks e. V. berichten. Es gab Rezensionen der 2006 erschienenen, grundlegenden Biografie Wehners aus der Feder des Historikers Christoph Meyer.
Man konnte schließlich lesen, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrem Archiv eine Sammlung von 25 Aktentaschen Wehners hat, die dieser während seiner Zeit im Bundestag von 1949 bis 1983 mit seinen Reden und Notizen füllte. Und Kultur-Redakteur Wolfgang Stenke hat vor Jahren an den Wehnerschen „Deutschlandplan“ von 1959 erinnert, der von Adenauer damals prompt als „rein kommunistische Dialektik“ bezeichnet wurde.
Nun haben die beiden FAZ– Redakteure Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem Buch auch auf Wehner Bezug genommen. Sie schreiben: „Und Herbert Wehner, der SPD-Vorsitzende im Deutschen Bundestag, fordert schon im August 1981 gegenüber einem Vertrauten Honeckers, man müsse ‚entschlossene Maßnahmen gegen Polen‘ einleiten, ‚je eher, desto besser‘. Es gehe ‚nicht ohne innere Gewalt, leider‘, so Wehner.“ Als Quelle nennen sie einen Text Heinrich August Winklers im Spiegel.
Es ist kein Geheimnis, dass die polnische Freiheitsbewegung mit der Gewerkschaft Solidarność an der Spitze zu Beginn der achtziger Jahre von großen Teilen der SPD missachtet worden ist, auch von führenden Repräsentanten der Sozialdemokratie. Die Autoren der „Moskau Connection“ ziehen eine Linie von der Fehlinterpretation der Brandtschen Friedens- und Ostpolitik über die Missachtung der mittelosteuropäischen Dissidentenbewegungen bis hin zur Anbiederung an Putins Gewaltherrschaft und seinen Kriegen. Ausgerechnet Wehner, der sich nicht mehr wehren konnte und kann, wurde von den beiden Autoren leider durch den Dreck gezogen.
„Wehner gehört nicht zur ‚Connection’“
Wehner war zu Lebzeiten immer wieder verdächtigt und verleumdet worden. Vielleicht hat man gedacht, dem „Zuchtmeister der SPD“ sei zuzutrauen gewesen, derart über die Solidarność zu sprechen und gewalttätig mit ihr verfahren zu wollen. Aber stimmt diese Geschichte? Wehner-Biograf Meyer verweist im Gespräch auf einen Leserbrief aus seiner Feder zur Klarstellung, den die FAZ am 20.März veröffentlicht hat: „Wehner gehört nicht zur „Connection“. Meyer, zugleich Vorsitzender der „Herbert und Greta-Wehner-Stiftung“ erklärt, die zitierten Worte stammten tatsächlich aus Tagebuchaufzeichnungen des verstorbenen „Stasispionagechefs“ Markus Wolf.
Tagebuchaufzeichnungen eines berufsmäßigen Lügners als ernstzunehmende Quelle? Da lacht der interessierte Laie und der Fachmann wundert sich nur noch.
Die Verfasser der „Moskau Connection“ schreiben, diese Worte Wehners seien gegenüber einem „Vertrauten Honeckers“ gefallen. Der wahre Kern der Geschichte sieht so aus: Der sogenannte „Vertraute“ im Buch der FAZ-Redakteure war der DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der Jahre lang zwischen der Bundesrepublik und der DDR vor allem dann vermittelt hat, wenn es um den Freikauf von in der DDR Verurteilten ging. Als Minister für innerdeutsche Beziehungen ließ Wehner über Vogel Frauen und Männer aus DDR-Gefängnissen, aus Zwangsarbeit und Isolationshaft freikaufen, damit sie in den Westen auswandern konnten. 33 000 waren es, bis die DDR unterging. Im Gegenzug wurde die DDR- Regierung mit Devisen ausgestattet, damit sie im Westen einkaufen konnte.
Zugang zu den Berichten Vogels über die Arbeit mit Wehner hatte Wolf nicht. Das ist seit 1997 bekannt. Richtig ist, dass Wehner zwischen dem 7. und 9. August 1981 von Vogel Besuch hat. Bekannt ist auch, dass Anwalt Vogel unmittelbar Stasi-Minister Erich Mielke zu berichten hatte, wenn es über Kontakte zu Wehner etwas zu berichten gab, und dass Mielke solche Berichte selber redigierte, umschrieb, um sie auf dem Dienstweg anschließend an Honecker weiter zu leiten. Über den habe Wolf, so Meyer, wohl von den Wehner-Vogel- Gesprächen erfahren. Meyer nennt dies „Zitate aus vierter Hand“, dem Spiel von der „stillen Post“ nachgebildet.
Bezieht man den Historiker Winkler mit ein als „Endkonsument“ Wolfs, ist es gar ein Zitat aus fünfter Hand. Wehner ist im Februar 1982 nach Polen gereist. Er war damals bereits ein schwerkranker Mann. Es stand dort Spitz auf Knopf, das Kriegsrecht in Polen war verhängt. Er versicherte seinen polnischen Gesprächspartnern, dass die SPD an ihrer Seite stehe, dass er selber aus ganz persönlicher Sympathie an ihrer Seite sei.
Das ist nun mal eine infame Lüge
Die Frage lautet: Ist das ein einzelner Fehlgriff im Buch über die Moskau-Connection“ der beiden Autoren? Gibt es weitere? Aufschlussreich ist vielleicht folgendes: Der Bezug auf Wehner stammt aus dem Kapitel „Entspannungspolitik – Die Ausbeutung eines sozialdemokratischen Mythos“ mit zwölf Seiten. Es werden hierzu lediglich drei Quellenangaben geliefert: Der erwähnte Spiegel-Text, ein Vortrag und ein Bericht aus der FAS. Mehr nicht. Auch das bekommt meiner Nase nicht gut.
Wohin solche Fehlgriffe führen können, zeigt ein weiterer Leserbrief in der FAZ: Der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter a.D. Dr. Jürgen Sudhoff reagierte auf das Buch der beiden Redakteure, um die These vom „Versagen der SPD in der Außenpolitik“ auszubreiten. Da geht es dann nicht mehr um Teile der Sozialdemokratie, es muss schon das Ganze sein. Sich stützend auf die „Moskau Connection“, schrieb Sudhoff, „die SPD der achtziger Jahre“ habe „ganz im Sinne Moskaus“ nichts gegen Unterdrückung von Freiheit und Demokratie bei „unseren östlichen Nachbarn“ einzuwenden gehabt.
Das ist nun mal eine infame Lüge. Der 2021 verstorbene, frühere Juso-Bundesvorsitzende und spätere Banker Wolfgang Roth war zum Beispiel einer der Unterstützer der Carta 77, des Zentrums der Opposition in der damaligen CSSR. Natürlich hatten sich wesentliche Teile der SPD an den Organisationen der Freiheitsliebenden in der CSSR, Polens und Ungarns versündigt. Aber dies der SPD in Gänze zu unterstellen, ist eben infam.
Sudhoff behauptet weiter, Willy Brandt habe ihm dies und jenes gestanden. Zeugen hierfür? Keine. Es würde wenig lustig zugehen, wenn mit Blick auf Sudhoff beurteilt werden müsste, wem da zu glauben ist. Das ist übrigens derselbe Dr. Sudhoff, der sich mit 59 Jahren die „sofortige Arbeitsunfähigkeit“ bescheinigen ließ, um kurze Zeit später als Repräsentant von Daimler-Benz in Frankreich seine Arbeitsfähigkeit wieder zu entdecken. Der damalige Außenminister Kinkel ließ prüfen, ob Sudhoff nicht dem Amtsarzt vorzuführen sei.
Schröders Neben-Außenpolitik
In der Sache ging es um Brenn- und Rohstoffe aus Russland, vor allem um Erdgas und um „schwarzes Gold“, um Erdöl. Entsprechende Verträge und Abmachungen wurden mit Veranstaltungen, Tagungen und Einrichtungen medienwirksam aufgewertet. Es wurden ausgedehnte Geflechte geschaffen, die wie gegenseitige Interdependenzen aussehen sollten, aber nicht waren. Ihr Sinn bestand darin, das westliche Geschäftsmodell – Produktion und Versorgung auf der Grundlage preiswerterer Rohstoffe – abzusichern. Manche gierten eben nach billigen Betriebsstoffen wie Süchtige, die dem nächsten „Schuss“ entgegen fiebern. Von gleich zu gleich waren Bindungen und Verbindungen in diesem Rahmen genau besehen nie. Denn da setzten sich unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Verständnissen – vom Recht des Einzelnen, der Individualität, der Gewaltenteilung, der Nation und der Gewalt – , man könnte fast sagen mit divergierenden anthropologischen Vorstellungen zusammen.
Bedrückend ist im Bingener-Wehner-Buch die Schilderung der Neben-Außenpolitik, die Schröder nach 2005 betrieben hat. Es entsteht der Eindruck, dass der Ex-Kanzler die offizielle Ostpolitik nur so vor sich her getrieben hat. An einem Auswärtigen Amt vorbei, das offenkundig wenig Sympathie dafür hatte, Putin entgegen zu kommen. An einem Kanzleramt vorbei, das Schröder nicht in den Arm fiel, obgleich dort Skepsis herrschte. Putin wurde politisch gestärkt zum Nachteil derer, die sich ausmalen konnten, wie gut sie in ihrer Wehrlosigkeit in Putins Beuteschemata passten.
Einiges in diesem Buch habe ich amüsiert gelesen, weil es meilenweit von einer „Connection“ weg liegt, denn Name-Droping hat keine Beweiskraft; wieder anderes widerte mich an. Denn als Schröder und Putin begannen, sich zu connectieren, war Putin bereits als vielfacher Mörder ein Begriff. Der Standard schrieb beispielsweise 2004:
„Die Lage der Menschenrechte in der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien bleibt nach Einschätzung des Europarates katastrophal. ‚Sowohl tschetschenische Terroristen als auch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte sind weiterhin verantwortlich für Morde, Folter, Vergewaltigungen und Geiselnahmen‘, sagte der deutsche Berichterstatter Rudolf Bindig (SPD) am Donnerstag in Straßburg.“
Schröder meinte damals, er könne Deutschland und Russland in eine strategische Partnerschaft hineinsteuern, die letztlich auch dem Frieden in Europa diene. So äußerte er sich jedenfalls 2004 in einem Gespräch mit Reinhold Beckmann; demselben Gespräch, in welchem er auf Beckmanns Frage etwas zögernd antwortete, ob Putin ein „lupenreiner Demokrat“ sei. Schröder hat dem jedenfalls nicht widersprochen, vielmehr gesagt, er könne sich vorstellen, dass das so sei.
Extrascharf auf ein großes Vermögen
Dass der frühere Bundeskanzler extrascharf auf ein großes Vermögen war, wird niemanden mehr überraschen. Dass ihm der Abschied von der Macht schwer fiel, hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der 2005er Wahlnacht belegt. Dass Schröder Opportunist ist, Karrierist, wurde zigfach geschrieben. Dass er latent antiamerikanisch eingestellt war oder ist, wusste man auch. All das findet man bei Bingener-Wehner ebenfalls. Die Klasse eines Buches wie Susan B. Glassers „Briefe aus Trumps Washington“ beispielsweise hat das Connection-Werk freilich nicht. Die langjährige Washington Post– Redakteurin Glasser hat ins Innere der Macht hineingeschaut, Düsternis, Versagen, Verführung und Charakterlosigkeit aus gereifter Anschauung und mit Wissen lebendig beschrieben.
So bleibt die Moskau-Connection weiterhin eine eigene, leider im Wesentlichen immer noch unerforschte „Welt“, um welche die Sputniks kreisen. Mal heißt ein Sputnik „Schröder“, mal trägt er die Bezeichnung „Wagenknecht“.
Reinhard Bingener und Markus Wehner: „Die Moskau Connection“. C.H. Beck 2023, 300 Seiten, 18,00 €
Volle Zustimmung! Bei Heinrich August Winkler fällt mir übrigens das Märchen vom Wolf und den 7 Geißlein ein. Da fungiert der sozialdemokratische Edelhistoriker wie das Mehl, welches sich der böse Wolf auf die Pranke kleistert, um die armen Zicklein zu täuschen… – Mein FAZ-Leserbrief mit Fußnoten zur Quellenlage übrigens unter http://www.hgwst.de/stasi-ist-keine-verlaessliche-quelle/.