Die Minderheitenpolitik der Ampel-Koalition ist opportunistisch und unehrlich. Geht es um Minderheiten mit einer anderen sexuellen Orientierung als die heterosexuelle, geht es um Gruppen mit einer anderen Hautfarbe als die der sogenannten “Bio“- Bewohner:innen Europas, sind alle eilig an Deck. Da werden rasch die Segel gesetzt, damit Fahrt aufgenommen werden kann. Mir soll´s recht sein. Geht es um andere Minderheiten, bleiben Deck leer und Segel schlaff.
2018 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, eine unabhängige Antiziganismus Kommission einzusetzen. 2019 war es dann so weit. 2021 hat die ihren 800-seitigen Bericht vorgelegt. Resultat: Sinti, Roma und verwandte Gruppen sowie die Jenische werden diskriminiert wie eh und je. Die Zahl der gemeldeten Vorfälle – also Diskriminierung, Beleidigung etc. steigt. Ende März 2023 sollte der Antiziganismusbericht nach der verabredeten Tagesordnung vom Deutschen Bundestag debattiert, Konsequenzen sollten gezogen werden. Abgesetzt, ohne weitere Begründung. Vielleicht wegen der Fülle der Themen des Bundestages? Wer ein wenig hineinhorcht, der hört: Die Regierung hat schlicht nichts „auf der Pfanne“, was sich diskutieren ließe. Summe: Auftrag des Parlaments nicht erfüllt. Die einzige, die sich vernehmbar erzürnte, war die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die Linken-Abgeordnete Petra Pau.
Ich hätte mein miserables Urteil (opportunistisch, unehrlich) sicher gemildert, gäbe es nicht weitere Beispiele.
In der Behindertenpolitik muss um jeden Cent gestritten werden
Die Lebenshilfe unterstützt unsere Mitmenschen mit geistiger Behinderung. Sie hilft den Lebensunterhalt zu sichern, sie fördert Schule und Beruf, die Arbeit und den Selbstwert sowie die Eigenständigkeit der geistig Behinderten. Über 320 000 Menschen sind das in der Bundesrepublik. Sie sind eine Minderheit. Seit Jahren drängen Fachleute der Lebenshilfe, beispielsweise Ärztinnen, Erzieherinnen, Erzieher, Beschäftigte in der sozialen Arbeit darauf, dass für die geistig Behinderten von Rechts wegen zustehende Geldbeträge aus der Kurzzeitpflege, der Verhinderungspflege sowie der Tages- und Nachtpflege zu einem Jahresbetrag zusammengezogen werden, zu einem Budget. Auf dieses Budget können vor allem Eltern geistig behinderter Kinder nach Bedarf zugreifen, Gelder zusammenzuführen. Das macht das System der Unterstützung flexibel, ständiges Antragstellen fällt weg.
Das müsste besonders die Freien Demokraten in der Koalition zur Unterstützung herausfordern, denn die meinen ja, sich in einem ständigen Antibürokratie-Kampf zu befinden. Aber an deren Antibürokratie-“Scout“, dem Bundesfinanzminister, scheiterte das Entlastungsbudget, weil absehbar mehr Unterstützung abgerufen werden wird, wenn bürokratische Hemmnisse fallen. Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach hat dem Vernehmen nach nicht auf den Tisch gehauen, in seinen Geschäftsbereich fällt der Fall. Das Entlastungsbudget stand im Entwurf zum Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz der Regierung. Es wurde übrigens zum zweiten Mal gekippt. 2019 wurde es auf Druck des Kanzleramts aus dem Vorhabenkatalog der großen Koalition genommen. Die Hoffnungen der Lebenshilfe richten sich nun auf den Vorsitzenden der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich. Der wolle wohl helfen, die Angelegenheit mit dem Jahresbudget zu richten, ist zu hören.
Für die geistig Behinderten und deren Lebenshilfe ist das der zweite Skandalfall in diesem Gesetz. Denn auch der gleichberechtigte Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung wird vielen pflegebedürftigen Menschen mit geistiger Behinderung verweigert. Statt des gesetzlich vorgeschriebenen Zuschusses aus der Pflegeversicherung erhalten viele Tausende geistig Behinderte an Stelle der vorgeschriebenen Leistungen aus der Pflegeversicherung lediglich 266 € im Monat, weil sie in gemeinschaftlichen Wohnformen der Behindertenhilfe leben. Auch hier wird vom Bundesfinanzminister erklärt, alles andere sei zu teuer.
Die geschilderten Fälle sind eine Konstante im Verhältnis von Behinderung und staatlicher Unterstützung beziehungsweise Förderung. Im Bereich der Behindertenpolitik musste und muss um jeden Cent gestritten werden: Unschön, sozialstaats-widrig. Opportunistisch, weil Behinderte nicht mit der Trillerpfeife zwischen den Lippen Flughäfen lahmlegen, sich auf Straßen festkleben oder mit Traktoren vors Kanzleramt rattern.