Der Katholizismus kennt das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein. Der Kapitalismus, inzwischen die erfolgreichere Religion, vollbringt das Wunder der Verwandlung von Menschen in Arbeiter, die er – sofern er nicht daran gehindert wird – ausbeutet, wenn er sie braucht, und verhungern lässt, wenn er sie nicht braucht. Um das eine wie das andere abzumildern, gibt es – global gesehen viel zu wenige – gesellschaftspolitische Interventionen: arbeitsrechtliche Gesetze, sozialstaatliche Schutz- und Sicherheitsvorkehrungen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Wohltätigkeitsvereine, Verbraucherschutz etc. Am Abend eines „Tages Arbeit“ fällt die Deformation der Arbeit von einem Akt praktischer Vernunft in Dressurakte des Kapitals (mit einem Auffangnetz, das nicht selten als soziale Hängematte diskreditiert wird) besonders auf. Die kapitalistische Deformation der Arbeit scheint den point of no return hinter sich und in der Klimakatastrophe ihren Endgegner gefunden zu haben.
Arbeit ist kein Selbstzweck, sie dient der Versorgung. Gearbeitet wird bei Bedarf. Wessen Bedarf, wäre schon eine erste kritische Frage. Der Bedarf verlangt nach einer Leistung, die ein Produkt erzeugt oder einen Dienst verrichtet, deren Gebrauch den Bedarf befriedigt und damit die Versorgung sichert. So funktioniert seit der Vertreibung aus dem Paradies die Arbeit: Bedarf – Leistung – Gebrauch; Gebrauch wird auch Verbrauch oder Konsum genannt. Dieser Funktionszusammenhang der Arbeit kann im Sinne von Leistungs- und Gebrauchsgerechtigkeit organisiert werden, aber auch in der Form von Herrschaft und Knechtschaft oder auch als Kapitalverwertungsprozess, in dem Arbeit nur dann stattfinden darf, wenn eine Vermehrung des eingesetzten Kapitals zu erwarten ist.
Semantische Akrobatik
Was charakterisiert nun diese Sozialfigur, welche seit der Industrialisierung Arbeiter heißt, (später dann auch Arbeitnehmer:in, Angestellte, Auszubildende)? Arbeiter sind wie alle Menschen bedürftige Lebewesen, aber sie sind Lebewesen ohne eigene Leistungs- und Konsummöglichkeit. Der gesellschaftlich massenhaft erzeugte Zustand der Enteignung, des Ausschlusses aus der Arbeit, wird den Einzelnen als persönliches Problem überantwortet. Es ist eine interessante semantische Akrobatik, gerade diejenigen als Arbeiter zu bezeichnen, die aus eigener Kraft keinen Zugang zum Arbeitsprozess finden; die davon abhängig sind, dass ihnen eine Möglichkeit angeboten wird, eine Leistung zu erbringen, für die sie dann „belohnt“ werden – und dieser Lohn eröffnet ihnen die Möglichkeit zu konsumieren; auch sich langlebige Konsumgüter anzuschaffen, sofern sie in Ländern mit einem hohen Organisationsgrad der Arbeiter und einem stabilen Rechts- und Sozialstaat leben.
Biographisch stellt es sich in der modernen, individualisierten Gesellschaft so dar: Im Mutterleib ist die Versorgung gesichert. Nach der Geburt übernimmt zunächst die familiäre Fürsorge die Versorgung. Früher oder später sind die Einzelnen dann auf sich alleine gestellt, es wird zu ihrer individuellen Aufgabe, einen Weg zu finden, den Eigenbedarf zu befriedigen. Alle, die weder über Kapital verfügen noch genügend Geld auf dem Konto haben, um ihren Versorgungsbedarf zu finanzieren, starten als Arbeitslose. Entsprechend gilt die elterliche Sorge, was wohl aus ihr werden wird und ob überhaupt etwas aus ihm wird, der künftigen Arbeitsleistung des Kindes und hier vor allem der Frage, welches Einkommen diese erwarten lässt. In der Moderne verhilft den (ursprünglich arbeitslosen) Einzelnen tatsächlich ihre Arbeitsleistung zur gesellschaftlichen Integration. Nicht (mehr nur) durch Geburt in die richtige Familie, sondern (vor allem) durch ihre Arbeitskarriere können Individuen Auskommen und Anerkennung gewinnen.
Mit einem Lächeln dem Waren- und Geldfluss dienen
Dabei zeigt sich eine atemberaubende Differenz zwischen der Lage von Einzelnen, die kaum das Allernötigste bezahlen können und deshalb gering geschätzt, sogar missachtet werden („eure Armut kotzt mich an“), und einem gesamtgesellschaftlich erzeugten Reichtum, der sich als riesige Warensammlung und als weltumspannendes Angebot käuflicher Dienste präsentiert. Doch das ist nur die Konsumseite. Auf der Leistungsseite müssen sich die einzelnen Arbeiter so qualifizieren und spezialisieren, dass sie eine ganz bestimmte, bezahlte Arbeitsleistung erbringen können. Die Folge ist, dass manche Leute ein Erwerbsleben lang Autos reparieren, in Kaufhäusern und an Supermarktkassen mit aufgesetztem Lächeln dem Waren- und Geldfluss dienen, Werbetexte für Windeln und Weltreisen schreiben oder Dienste leisten in Seniorenheimen, deren Pflegekosten sie selbst nie werden bezahlen können – während im öffentlichen Selbstgespräch der Gesellschaft von Selbstverwirklichung, Sinnstiftung und Leistungen, die sich lohnen, die Rede ist.
Die Zusammenhänge sind klar (nur nicht ganz so banal wie in der hier notwendigen Kürze): Die Strukturen der Gegenwartsgesellschaft – Enteignung der Vielen, Konkurrenz als dominierende soziale Beziehung, Kapitalverwertung als treibende Kraft: „Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern das Geld um die Erde läuft“ (Peter Sloterdijk) – produzieren Reichtum und Armut mit derselben logischen Konsequenz wie Sportwettkämpfe Sieger und Verlierer, lokal Villenviertel und Slums, national elitäre Lebensstile und prekäre Lebenslagen, gobal Wohlstands- und Armutsstaaten. Der Verwertungsprozess überlagert den Arbeitsprozess, Geldvermehrung geht vor Bedarfsbefriedigung. Bedarf hin oder her, für Hunger und Obdachlosigkeit, für Bedürftige ohne Kaufkraft hat das Kapital kein Sensorium, Notleidende laufen sogar Gefahr, öffentlich als Nichtsnutze beschimpft zu werden. Ein Wirtschaftssystem, das an den materiellen und sozialen Bedingungen des menschlichen Überlebens einzig und allein ein Geschäftsinteresse hat, kann Verlierern, mit denen kein Geschäft zu machen ist, nur mit Gleichgültigkeit begegnen.
Herrschende Zustände schön reden und repressiv verteidigen
Die Sieg-Reichen der Gegenwartsgesellschaft sind nicht nur diejenigen, deren Unternehmungen und deren Lebenspraktiken die meisten Umweltschäden verursachen, sondern auch diejenigen, die das geringste Interesse an einer grundlegenden Umgestaltung der bestehenden Strukturen haben. Verhältnisse reproduzieren sich nicht von selbst, schon gar nicht in einer Zeit, die ohne Unterlass Innovation, Wandel und Change lobpreist. Es muss schon mächtige Leute geben, die dafür sorgen, dass die herrschenden Verhältnisse sowohl mit großen Budgets schön geredet, geschrieben und gefilmt, als auch mit harten Bandagen repressiv verteidigt werden.
Öffentlich verfügbares Wissen über die bereits spürbare Klimakatastrophe ist in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsen, ohne dass Wirtschaft und Politik umgesteuert hätten. Das Weitermachen wird mit grüner Rhetorik berieselt wie ein Besäufnis an der Bar mit Smooth Jazz. Die Ökonomie des Alltags – die Versorgung mit Energie, Wasser und Wohnungen, das Angebot für Mobilität und Kommunikation, für Bildung, Gesundheit und Pflege – bleibt nicht nur, sondern wird immer noch mehr dem Diktat unterworfen, aus viel Geld mehr Geld zu machen, also privaten Reichtum zu fördern (und in Krisen als systemrelevant zu retten) statt gerechtere Zugänge für alle zu eröffnen.
In den politischen Erzählungen, die diese Zustände absichern, spielen regelmäßig äußere Feinde eine Hauptrolle, zur Zeit wieder Ausländer und Immigranten. „Die wahre Bedrohung für unsere westliche Lebensweise sind nicht die Immigranten, sondern es ist die Dynamik des globalen Kapitalismus: Allein in den USA haben die jüngsten wirtschaftlichen Veränderungen in kleineren Städten eine größere Zerstörung des Gemeinschaftslebens bewirkt als sämtliche Immigranten zusammen!“ (Slavoj Zizek, 2015)
.. lesenswerte Anregungen zum Nachdenken.
Mir kommt spontan in den Sinn, dass es zum „Arbeiter“ (egal, ob prekär oder subsidiär oder digital oder …) ja die asymmetrische Gegenfigur des ubiquitären „Verbrauchers“ gibt (welcher sich manchmal seiner Konsumpflichten zu entziehen scheint, sodass der „Wirtschaftsmotor ins Stocken …“ usw.). Anscheinend erzeugt die „Naturbeherrschung am Menschen“ eine Art asymmetrischen Dualismus (der natürlich per se keiner ist) – ein Art „gespaltenes“ Subjekt, wobei die Asymmetrie der Spaltung in Arbeiter und Verbraucher jene sich selbst teils hinterher-, teils vorauslaufende Dynamik erzeugt, den den Strom von Geld (Kapital), Waren und (scheinbar unendlich ausdifferenzierten) Bedürfnissen (die dann doch in den Verbrauch immergleicher, immer schlechterer Waren münden, also nur metonymisch „befriedigt“ werden) erzeugt, von dem im Artikel mit Zitat von Sloterdijk die Rede ist. – Übrigens: Es mag etwas arg schräg daherkommen, aber ein Physiker und Chemiker (von mir aus auch der Evolutionsbiologe) möge dazu sagen: Ja, soweit ganz „natürlich“, dass die Neigung komplexer Systeme, sich inklusive Entropie-Erhöhung immer weiter ausdifferenzieren und dabei immer präziser alles der je entstehenden biochemischen Systeme (und was wären wir anderes? oder will tatsächlich noch jemand die Rede von der quasi göttlichen Vernunft, die irgendwo von außerhalb des Systems uns gegeben wäre, führen?), letztlich in den immer weiter hinausgeschobenen Horizonten (in Bezug auf die Erde natürlich, wie wir zu spüren beginnen, möbiusbandhaft begrenzt!) die Entropie rasant abbaut, mithin z.B. die Komplexität der von uns angeeigneten Ressourcen und Systemteile aus der Natur rasant und schlicht zerstört. – Geht es jemandem anderen auch so, dass mir die Rede vom letztlich irgendwann siegreichen proletarischen Arbeiter auch schon immer zumindest leicht suspekt war? Wer anthropologisch schürft, dem dürfte schon dämmern, dass mit diesem so ins asymmetrischer Spaltung agierenden (oder getriebenen) homo kein Paradies auf Erde zu gewinnen ist. Oder?
.. da ist leider ein Wort/Grammatikfehler drin, leider:
„.. dabei immer präziser alles in den je entstehenden biochemischen Systemen (..) prozessiert, und letztlich in den immer weiter hinausgeschobenen Horizonten (in Bezug auf die Erde natürlich, wie wir zu spüren beginnen, möbiusbandhaft begrenzt!) die Entropie rasant abbaut, ..“