Die Legitimität der auf Privateigentum gegründeten Verfügungsgewalt schwindet

Axel Honneth (Foto: Institució Alfons el Magnànim auf wikimedia commons)

Theorien der Gesellschaft, die diese unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit analysieren und potentiellen Kräften der Veränderung nachspüren, sind rar, aber es gibt sie. Der frühere Direktor des Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, weiß sich einer solchen Theorie verpflichtet. Er hat eine ‚normative Theorie der Arbeit‘ vorgelegt, und man geht wohl nicht fehl, dieses Buch in die Reihe der jüngeren Arbeiten dieses Autors zu stellen, die sich der Idee der Anerkennung und der eines zeitgemäßen Sozialismus widmen. Seine Bücher haben den Vorteil, dem Leser die als Analyse getarnte Agitationsliteratur zu ersparen, mit der man es heutzutage zum Suhrkamp-Autor bringen kann. (Honneths Hausverlag setzt vermutlich auf Quersubventionierung, und Bücher über den ‚kannibalischen Kapitalismus‘ finanzieren solche seriöse).

Eine normative Theorie beschreibt nicht bloß, was ist, sondern geht der Idee ihres Gegenstandes nach, will ihn also anders, besser haben, als er ist. Sie verstößt damit gegen das traditionelle Verständnis von Theorie. Die hält den wissenschaftlich Arbeitenden dazu an, sich seines Urteils zu enthalten, ganz gleich, ob sein analytischer Blick auf einen Gegenstand der sozialen oder der materiellen Welt fällt. Also bloß keine Idee, keine Vision. Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, schrieb ein ehemaliger SPD-Bundeskanzler einmal seinen aufmüpfigen Jungsozialisten ins Stammbuch.

Für Honneth ist Demokratie mehr als nur ein prozedurales Verfahren der Willensbildung; die parlamentarisch-politische Sphäre soll sich zu einer die Sphäre der Arbeitsbeziehungen mit umfassende Wirtschaftsdemokratie fortentwickeln. Er versteht sein Buch als den theoretischen Ausdruck des politischen Versuchs, die gegenwärtige Situation zu verändern. Die Analyse soll also in die Situation eingreifen, mithin Teil der Anstrengung sein, eine Reform des Bewusstseins in Gang zu bringen. Honneth will mit seinem Buch die Wirkung einer self fulfilling prophecy erzielen. Das ist aller Ehren wert. Der Autor gehört zu den raren Intellektuellen mit Resonanz in den Gewerkschaften, wo man das theoretische Geschäft ansonsten weitgehend eingestellt hat.

Gewerkschaftliche Strategie der Beteilung

Honneth fasst die traditionelle Interessenvertretung keineswegs mit Samthandschuhen an. Dass er den Gewerkschaftsleuten nach dem Mund redet, lässt sich wahrlich nicht sagen. Er wiederholt eine alte Kritik, die ihnen Bürokratisierung, Mitgliederferne und „Verkümmerung ihrer sozialmoralischen Rolle“ vorhält. Die Einzelgewerkschaften verstehen sich aber seit geraumer Zeit dazu, mit aufwendigen Befragungen die Beschäftigten an der Formulierung ihrer Politik zu beteiligen. Umfragen mit mehr als einer halben Million Rückläufer können wahrlich als repräsentativ gelten. Und die Fragen sind keineswegs von der Art, dass sich die Antwort wie von selbst versteht. Der betriebene Aufwand, von Sozialwissenschaftlern unterstützt, gilt der Anstrengung, das eigene Überleben zu sichern, wozu diese Strategie der Beteiligung nicht die schlechteste ist.

Foto: Axelv auf wikimedia commons

Honneth steigt in das Untergeschoss der deutschen Industriegesellschaft hinunter, dorthin, wo die Dirty Jobs vergeben werden. Viele davon fallen Arbeitsmigranten zu. Die Paketzusteller, die Essensauslieferer, die Müllarbeiter, die Kassiererinnen sind das an die Stelle des Proletariats getretene Prekariat. Hantiert es mit dem Akkuschrauber am Fließband, ist der Begriff Arbeit fehl am Platz; denn solche Tätigkeit ist ein mechanisches, immer gleiches Tun. Zeittakte kleiner 50 Sekunden sind in der Elektroindustrie nicht unüblich; an die Bänder stellt man mit Vorliebe weibliches Personal. Von älteren Frauen wissen Betriebsräte zu berichten, die vor Schichtbeginn Beruhigungspillen einwerfen. Mothers little helper als Fließbandblues. Solche Jobs wirken auf die Psyche verheerend.

Honneths These ist völlig einleuchtend: Wer täglich solcher Fron unterliegt und dem Prinzip von Anweisung und Kontrolle unterworfen ist, geht nicht mit dem aufrechten Gang des selbstbewusst seine Interessen verfolgenden Demokraten abends nach Hause. Der in seinem Werkeltag zum Befehlsempfänger Degradierte, verwandelt sich nicht am politischen Sonntag in den souveränen Citoyen. Das Desinteresse an der politischen Sphäre, die Ermüdungserscheinungen der parlamentarischen Demokratien, geht auf die pathologischen Verhältnisse in der Arbeitssphäre zurück.

Qualifizierte Berufe fehlen

Honneth denkt von Max Weber her. Der schrieb vom stahlharten Gehäuse der Hörigkeit. Wo der konservative Kulturkritiker den Berufsmenschen ohne Geist und den Genussmenschen ohne Herz beklagt, sieht Honneth den Bestand an klug urteilenden, gut informierten und gegen Verhetzung gefeiten Staatsbürgern schwinden. Nun ist die taylorisierte Arbeit nicht nur ein Problem in den unteren Etagen. Die Projektarbeit der Angestellten unterliegt ähnlicher Arbeitsteilung und ebenso der verdichteten Zeit. Projekt folgt auf Projekt, und während das eine noch gar nicht recht abgeschlossen ist, verteilen die Chefs schon die Aufgaben für das nächste.

Foto: Sergey Venyavsky auf wikimedia commons

In Honneths Darstellung der Berufswelt fehlen die qualifizierten Berufe. Die arbeitende Bevölkerungsmehrheit ist damit nicht erfasst. Auf den Fonds der einfachen Dienstleistungsjobs sind die Arbeitsplätze der Fachkräfte aufgelagert, von denen nicht wenige wissenschaftlich tätig sind. Man ist in der Industrie beschäftigt, trägt aber keinen Blaumann, heißt nicht Arbeiter und hat ein Studium hinter sich. Honneths Soziologie verfehlt die Wirklichkeit der deutschen Angestelltengesellschaft. Diese zeichnet sich durch eine große Spreizung aus. Hier die manuelle, körperlich beanspruchende Arbeit, vielfach das Metier migrantischer Arbeitskräfte; dort die zur Wirklichkeit der großen Industriekonzerne gehörenden Labors, die Forschungs- und Entwicklungszentren. In der chemischen Industrie hat bald jeder zweite Beschäftigte einen akademischen Abschluss; im Fahrzeug- und Maschinenbau ist der Anteil der Ingenieure mittlerweile so groß wie der der Facharbeiter. Die für die deutsche Ökonomie wichtigsten Branchen sind damit benannt. Die Berufsgruppe der Software-Entwickler, für die Digitalisierung der Produktions- und Vertriebsprozesse unverzichtbar, verstärkt den Trend zu den akademischen Berufen. Wer Informatik studiert, belegt längst einen Ingenieursstudiengang.

Verletzungen ihres Berufsethos

Honneths normative Theorie zielt auf die Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse. Damit will er dem formal-demokratischen Parlamentarismus einen soliden Unterbau verschaffen, der die riesige Distanz zwischen dem politischen Ideenhimmel und der profanen Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft verringern soll. Solche Strategie kann nicht aufgehen, wenn sie der entscheidenden Funktionärsschicht der bürgerlichen Gesellschaft keine Beachtung schenkt. Auch die wissenschaftlichen Arbeitskräfte leiden an ihren Jobs. Man stellt sich ihre Aufgaben unglaublich interessant vor, aber die Wirklichkeit sieht meist ganz anders aus. Drei Beispiele: Einer verwendet Jahre seiner Lebenszeit darauf, einen Microchip um eine Nanosekunde zu beschleunigen, damit der neue Laptop als die grandiose Verbesserung des alten gepriesen werden kann. Eine Akustik-Spezialistin entwickelt dem elektrischen Porsche einen Sound, damit der röhrt wie ein Achtzylinder. Oder der Techniker hat den Auftrag, in die Tür eines Kühlschranks einen Flachbildschirm zu integrieren, damit die vom Vorstand geforderte Connectivity Platz greift, und der Mensch beim Kochen auch TV glotzen kann.

Es sind die Verletzungen ihres Berufsethos, worunter die qualifizierten Angestellten leiden. Sie möchten sinnvolle Dinge entwickeln, keine überflüssigen Gadgets. Ihr Berufsethos zielt auf ‚gesellschaftlich notwendige Arbeit‘. Honneth benutzt diesen Marxschen Begriff, aber er wendet ihn auf diese Beschäftigtengruppen gar nicht an. Sein Begriff der Beschäftigten – er spricht gelegentlich von Werktätigen – ist arg aus der Zeit gefallen. Unbefriedigende Arbeit zu verrichten, ist kein bloß den Inhabern prekärer Arbeitsplätze abverlangter Zwang. Zwar mag der Chef in den avancierten Industrien schon Scrum-Master heißen und der Konzern sich als Avantgarde der New Work-Bewegung verkaufen, aber damit ist der Chef nicht verschwunden und nicht die Abhängigkeit von ihm und der Firma.

Das von Honneth beschriebene Problem, der Connex zwischen entnervender Arbeit und erschöpfter Demokratie, hat größeres Ausmaß als von ihm angenommen. Die höheren Angestellten haben noch weniger Zeit für die Res Publica als die Malocher. Aber die Chance das skizzierte Problem anzugehen, ist dennoch größer geworden. Woher der Optimismus? Er leitet sich von den modernen Arbeitsbedingungen her. In ihren Projekten sind die Naturwissenschaftler bald mit der Gesamtökonomie eines Konzerns befasst. Sie sollen den noch unbekannten Werkstoff erforschen, daraus neue Produkte entwickeln, diese montagefreundlich konstruieren, dabei die Fertigungskosten beachten, die Vertriebskanäle auftun und sich noch pfiffige Marketingideen überlegen. Das steht im sog. Pflichtenheft nicht drin, (das im Vorfeld jeder neuen Produktidee zu erstellen ist), aber es gehört zu ihren Aufgaben. Was wäre, wenn sie aus all diesen Pflichten das Recht ableiten würden, den gesamten Konzern in Eigenregie zu managen? Undenkbar, utopisch? Angeschlagene Firmen, die per Management Buy Out wieder auf die Beine kommen, sind so selten nicht.

Kritik im Handgemenge

Die Legitimität der vom Privateigentum begründeten Verfügungsgewalt schwindet, wenn die von den Regierungen verantwortete Industriepolitik darüber mitentscheidet, welche Güter mit wieviel Personal produziert werden. Es ist das für privatwirtschaftliche Investitionen umgewidmete Geld der Bürger, dem keine adäquate Bürgerbeteiligung gegenübersteht. Gegenwärtig sind es Autobatterien und Microchips fertigenden Konzerne, die sich ihre Investition mit Milliarden subventionieren lassen. Die Bundesregierung will diesem Legitimationsproblem mit Bürgerräten beikommen, so steht es im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. (Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.). Der erste mit öffentlicher Aufmerksamkeit bedachte Bürgerrat war dem Thema gesunde Ernährung gewidmet.

Am Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft hat sich nichts geändert: Das vom Produzenten hergestellte Gut gehört nicht ihm. Marx hat dafür den Begriff der Entfremdung aufgebracht. Honneth hält ihn für ungeeignet, um damit normativ zu argumentieren. Mit dem Begriff sei einer Wesensbestimmung des Menschen das Wort geredet, was für Honneth nach überzeitlicher Ontologie klingt. Woher dann aber den Maßstab der Kritik nehmen, die Honneth an den Verhältnissen doch geübt sehen will? In den Kernbereichen des Kapitalismus ist keine Kommunikationsgemeinschaft vorgesehen, die kraft besseren Arguments eine verantwortungsvolle, diskursethisch beglaubigte Unternehmenspolitik diktierte. Den Marx der Entfremdung fertigt der Autor ein bisschen mit der linken Hand ab. Der hat seinen Begriff nicht im Rahmen eines Dissertationsprojekts entwickelt, sondern als eine Kritik im Handgemenge. Der Begriff mag den sozialwissenschaftlichen Standards einer akademischen Disputation nicht genügen, aber das Geschäft der Kritik unterliegt anderen, philosophischen Kriterien. Dass es nicht zur Bestimmung des Menschen gehört, einem mächtigeren Menschen als Mittel zum Zweck zu dienen oder von der Produktionsmaschinerie wie eine Naturkraft vernutzt zu werden: Dem Entfremdungsbegriff lässt sich dieser Imperativ allemal entnehmen.

Honneth, Axel, Der arbeitende Souverän, Eine normative Theorie der Arbeit, Walter-Benjamin-Lectures | Berlin: Suhrkamp Wissenschaft | Fester Einband mit Schutzumschlag,
400 Seiten, 30,00 € | 978-3-518-58797-3

Unter dem Titel „Der Blues der westlichen Demokratien“ erschien die Rezension zuerst auf Glanz&Elend.

Vorausgegangen ist auf Bruchstücke die Rezension von Jutta Roitsch “Ein neues Nachdenken, auch neue Gedanken?“. Folgen wird noch eine Kritik des Honnneth-Buches von Klaus Lang.

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Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

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