„Und daher kann man von der Politik sagen, sie sei gleichsam darauf angewiesen, die Gegenwart vorherzusehen.“ (Walter Benjamin)
Die Entstehungsgeschichte des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) war maßgeblich davon beeinflusst, dass der Entwurf des Wirtschaftsministeriums während der sogenannten Frühkoordinierung zwischen Kanzleramt, Finanzministerium und dem Wirtschaftsressort an die Öffentlichkeit gelangt war. Dies brachte die Fraktionen des Bundestages in die Lage, einem öffentlich bereits zerfledderten Gesetzentwurf zu einer Mehrheit verhelfen zu müssen. Außerdem äußerte sich der Minister mehrfach öffentlich, als Vertraulichkeit, Konzentration und Glaubwürdigkeit geboten waren.
Der Bundesregierung gelang es schließlich, ihren Streit über das Heizungsgesetz beizulegen. Die Pflicht zum Einsatz von 65 Prozent erneuerbaren Energieträgern sollte erst greifen, wenn eine Stadt einen kommunalen Wärmeplan vorgelegt hat. Erst wenn dieser vorliegt, greifen die neuen Regeln. Für Hauseigentümer galt, dass nicht jede neu eingebaute Heizung von 2024 an mit erneuerbaren Energien laufen musste. Mieterinnen und Mieter mussten sich jedoch auf eine zusätzliche Modernisierungsumlage gefasst machen. Bis dahin sollten Eigentümer nach einer Heizungshavarie wieder eine Gasheizung einbauen dürfen, sofern diese auch für die Nutzung mit Wasserstoff umrüstbar war. In Neubaugebieten wurde der Einsatz von Erneuerbaren zum Heizen von Januar 2024 an Pflicht.01
Spielräume, die Deutschland nicht besitzt
In Frankreich sind Wärmepumpen verbreiteter als in Deutschland. Dort war es allerdings auch schon in früheren Zeiten nichts Ungewöhnliches, mit Strom die Wohnung zu wärmen. Rund ein Drittel aller französischen Haushalte verfügt über eine Elektroheizung. Diese Technik ist verknüpft mit dem starken Ausbau der Kernenergie in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren. Damals ging es auch darum, möglichst viele Abnehmer für den heimisch produzierten Atomstrom zu finden. Durch den nuklear dominierten Strommix ist aber zumindest die CO2 -Bilanz deutlich besser als in Deutschland.
Bürgerinnen und Bürger in Frankreich, die sich im vergangenen Jahr eine Luft-Wasser-Wärmepumpe einbauen ließen, konnten mehr als fünfzig Prozent der Heizkosten im Vergleich mit einer alten Ölheizung sparen. Der Staat stockte die nach Einkommen gestaffelten Zuschüsse in 2023 noch einmal auf.02
Allerdings belässt es der französische Staat nicht bei der Förderung der neuen Technik, sondern arbeitet mit Verboten der umweltschädlicheren Heizsysteme. Im Juli 2022 untersagte er per Dekret den Einbau und Austausch von Öl- und Kohlekesseln und Anfang letzten Jahres erließ der Staat ein Verbot von Gasheizungen im Neubau. Bislang hat es keine größeren Proteste dagegen gegeben.
Interessantes und Uninteressantes beim „Heizungsstreit“
Im Verlauf des Heizungsstreits wurde kommentiert, dass die Bundesregierung „kein besonders gutes Bild abgegeben“ hat. Und dass die FDP über den Gesetzentwurf des Wirtschaftsministers „schimpfte“; und dass dieser der FDP „Wortbruch“ vorwarf, weil sie verhindert hatte, dass das Gesetz verabredungsgemäß zur ersten Lesung in den Bundestag kam; und dass der Bundeskanzler „nur sehr leise“ den Wunsch geäußert hatte, dass in der nächsten Sitzungswoche das Gebäudeenergiegesetz auf die Tagesordnung kommt; und so weiter, und so fort.
Solche Nachrichten sind interessant, wenn man das boulevardesk-populistisch bediente Neuigkeitsinteresse der Öffentlichkeit zum Maßstab nimmt. Nimmt man die ökologische Transformation und die SDG zum Maßstab, sind solche Berichterstattungen uninteressant.03 Wenn es um die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und die Realisierung der Ziele „bezahlbare und saubere Energie“ (SDG 7) und „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ (SDG 11) geht, sind hingegen vermeidbare Fehler von Interesse. Sie sind aber nicht tages- und parteipolitisch interessant. Die entscheidenden transformationspolitischen Fehler im „Heizungsstreit“ lauten:
- der Entwurf wurde nicht vertrauenswürdig behandelt;
- der Startzeitpunkt der Gesetzesmaßnahmen war schlecht berechnet;
- schlechte kalkuliert war auch der Geltungsbereichs (Alt- und Neubauten, Neubaugebiete);
- die Wahl der Technologie / Heizungsanlagen wurde verengt;
- die Konsequenzen für Städte und Kommunen, Hauseigentümer, Mieter waren nicht klar.
Es scheint, dass die Öffentlichkeit der Regierung „handwerklich“ genannte Gouvernancefehler anlastet und ihre Kompetenz und ihren Realitätsbezug anzweifelt. Folglich gelten ihre Pläne als „ideologisch verbohrt“, „dogmatisch“, „lebensfremd“ oder übermäßig „streng“. Wenn es diese Begriffe sind, die die öffentliche Auseinandersetzung dominieren, hat eine folgenreiche Verschiebung des Politischen stattgefunden. Die Notwendigkeit der Transformation ist aus dem Blickfeld geraten und ihren Platz im Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung hat die Person von Politikerinnen und Politikern eingenommen. Das Sachliche tritt seinen Vorrang an Personalisierungen ab.
Eine andere große Reform, die scheiterte
Wir wollen für einen Moment die Perspektive wechseln und der Frage nachgehen, ob wir aus dem Scheitern der Steinschen Reformen 1807-1813 in Preußen zur Auflösung der Standesschranken für unsere Gegenwart etwas lernen können.04 Uns geht es nicht um die Beschreibung dessen, wie es früher einmal war, sondern um ein informierendes Modell. Es kann für die Probleme der Gegenwart hilfreich sein zu sehen, an welchen Herausforderungen die Reformer früher gescheitert sind.
Golo Mann hat drei Gründe für das Scheitern der Reform des Freiherrn vom und zum Stein am Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen genannt. Der erste bestand darin, dass Stein nur für relativ kurze Zeit die Realisierung der Reform mit eigener Hand kontrollierte. Außerdem schien er ein ungestümer, eigenwilliger und bisweilen unvorsichtiger Mann gewesen zu sein, der sich auf der Flucht vor der Militärpolizei Napoleons befunden hatte. Diesen Aspekt können wir vernachlässigen. Schließlich ist Herr Habeck anlässlich der Verleihung des Börne-Preises 2023 dafür gelobt worden, dass die veränderte Wirklichkeit unserer Zeit in die reflektierte Erfahrung dieses Politikers eingeht.
Zweitens ging Steins Nachfolger Graf Karl August von Hardenberg an die Reformen mit einer anderen Einstellung und mit anderen Prioritäten heran. Hardenberg war die Entwicklung eines bürokratisch zentralisierten Kanzler-Regimes nach französischem Vorbild wichtiger als die Förderung jener „Nationalrepräsentation“, sprich politischen Beteiligung des Bürgertums.
Als wichtigsten Grund für das Scheitern der Reformen nennt Golo Mann jedoch, dass das Preußen der klar gegeneinander abgegrenzten Stände, das von Krone, Heer und grundbesitzendem Adel beherrschte, stärker und widerstandsfähiger war, als Stein und andere es sich vorgestellt hatten. In dem Maße, wie das alte Preußen wieder zu Kräften kam, wurden die Reformbestrebungen abgewürgt. Ludwig von der Marwitz, der damalige Führer der ostelbischen Grundbesitzer-Aristokratie, hatte gemahnt, es würde den Thron gefährden, Bevölkerungsgruppen wie den Bauern, die 1806 im Kampf gegen Napoleon weder Patriotismus noch Loyalität noch Disziplin bewiesen hätten, umfangreiche Freiheiten zu gewähren. Und die beabsichtigte Adelsreform schien bewusst darauf berechnet, die einzige Gesellschaftsklasse zu vernichten, auf die im Kampf gegen Anarchie und Materialismus Verlass war.
Bekanntlich kam es nicht zur nationalen Gesamtvertretung, die Stein als Krönung seines Werkes vor Augen hatte, aber zumindest geriet der Halbabsolutismus Preußens in Widerspruch zu den Reformen, die in den Städten Wirkung zeigten. In der Stadt begann mit dem Freiherrn von Stein die Demokratie. Er war der Gründer der städtischen Selbstverwaltung durch gewählte Stadtverordnete und der Magistratsverfassung. Noch im 20. Jahrhundert erregten die preußischen Großstädte die Bewunderung der Welt. Aber der Gegensatz zwischen städtischer Demokratie und staatlichem Halbabsolutismus war in staunenswertem Maße widersinnig.
Hier finden wir ein wesentliches Motiv, das unsere gegenwärtigen Probleme klarer fassen kann. Die Reformer im alten Preußen unterschätzten die Interessenlage des Adels. Auch der Bundesregierung fehlte bislang ein rechtes Bild von der gesellschaftlichen Interessenkonstellation. Aber beim Umgang mit den Einstellungen der Bevölkerung und Reformmöglichkeiten in der Gesellschaft geht es um etwas grundlegend anderes.
Die Bevölkerung weiß gegenwärtig nicht, wo es lang geht
Das Allensbacher Institut für Demoskopie hat ermittelt, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich von den Regierungsplänen zum Klimaschutz überfordert fühlt.05 Besonders Immobilienbesitzer und sozial Schwächere befürchten erhebliche Nachteile. Gleichwohl unterstützt die Mehrheit das Ziel Klimaschutz mittels Umsteuerung auf regenerative Energien.
Ein genauerer Blick zeigt, dass es die schwächeren sozialen Schichten und die ostdeutsche Bevölkerung sind, die fürchten, dass die Klimapolitik ihnen Opfer abverlangen wird. Außerdem empfinden viele Bürgerinnen und Bürger das Tempo der politischen Beschlüsse als überhöht, aber 50 Prozent bewerten die Schlagzahl der Klimapolitik nach wie vor als angemessen oder sogar als zu niedrig.
Die Reaktionen auf beschlossene oder geplante Maßnahmen boten ein differenziertes Bild. Die Mehrheit unterstützte einen forcierten Ausbau der Windenergie, eine knappe Mehrheit auch die Solardachpflicht für Neubauten. Hingegen sahen 60 Prozent strengere Vorschriften für die Dämmung von Häusern und Wohnungen kritisch und 80 Prozent stehen dem ab 2024 geplanten Verbot, noch neue Öl- und Gasheizungen einzubauen, ablehnend gegenüber. Die Hauptsorge galt den zu erwartenden Investitionskosten. 42 Prozent der Immobilienbesitzer fürchteten, dass die Pläne für die Eliminierung von Öl- und Gasheizungen sie finanziell überfordern werden. Schon die Instandhaltung von Immobilien war für viele eine Herausforderung. Deshalb war für sie die Vorstellung, dass die finanziellen Belastungen aus dem Besitz deutlich steigen könnten, erschreckend.
Die Sorge, dass aufgrund neuer Vorgaben für Heizen und eine bessere Energieeffizienz von Gebäuden höhere Lasten auf sie zukommen, traf auf rund 40 Millionen Menschen zu. Die wachsenden Klima-Auflagen bei Neubauten ließen die Neigung, neue Häuser und Wohnungen zu bauen, zurückgehen.06 Die Baukosten stiegen stark an, weil die Preisentwicklung für Baustoffe „dynamisch“ war und die Anforderungen an Qualitätsansprüche bei Energieeffizienz, Brandschutz, Schallschutz usw. stiegen. Die baurechtlichen Vorgaben glichen einem Flickenteppich, der Verwaltungsaufwand ist hoch und Bauland ist vor allem in Großstädten sehr teuer. All das zusammen führt dazu, dass über 40 Prozent der deutschen Bauunternehmen für 2023 keine Neubauprojekte planen. Vor allem die energetischen Standards bereiten den Bauunternehmen viele Probleme, gefolgt von Stellplatzanforderungen und Anforderungen an die Lüftungstechnik.
Vage Entlastungsversprechen
Das Versprechen des Staates zu Entlastungen minderte laut Köcher die Besorgnis kaum. Die Kosten für einen Heizungstausch und eine bessere Dämmung konnten sehr konkret berechnet werden und hatten für viele erschreckende Dimensionen. Das Entlastungsversprechen blieb jedoch bisher vage. Hinzu kam der Verlust an Planungssicherheit. Die Hälfte der Bevölkerung war durch die Pläne der Regierung zur Zukunft des Heizens verunsichert und ratlos, wie sie sich darauf am besten einstellt.
Die Mehrheit der Bevölkerung stellte die Forcierung von Klimaschutz nicht grundsätzlich infrage – sehr wohl aber einzelne Maßnahmen und Pläne. Die gut gemeinte Gesetzesreform geriet ernsthaft in Gefahr, weil ihr die Zustimmung bei Mittelschichten und sozial schwächeren Schichten fehlte. Außerdem fehlte Planungssicherheit, weil angesichts klarer Kosten Entlastungen unklar waren. Die Bürgerinnen und Bürger konnten die Konsequenzen, die sie unmittelbar betrafen, nicht kalkulieren und wußten nicht, ob sie sie verkraften konnten.
Wer bei groß angelegten Transformationsprozessen das Vertrauen der Mehrheit bewahren will, muss die Maßnahmen mit allen Folgen durchdenken. Die Bevölkerung muss die Konsequenzen, die sie unmittelbar betreffen, kalkulieren und verkraften können und Planungssicherheit haben.
Kooperation der Zivilgesellschaft07
Wir wechseln von der Gesellschaft der Individuen zu den Institutionen und Unternehmen. Sind Bundesländer, Regionen, Städte, Gemeinden und Unternehmen bei der Umsetzung von SDG 7 und 11 kooperativ oder nicht?
Das Immobilienmanagement des öffentlichen Unternehmens Stadtwerke Frankfurt am Main hat den Energieverbrauch in den letzten Jahren durch konsequent umgesetzte Energiesparprojekte deutlich reduziert. Das Energieeinsparpotential liegt bei 70 %. Photovoltaik auf dem Dach kann im Jahr knapp 200.000 kWh oder die Energie für 90 Haushalte sichern. Die Nachhaltigkeits-Maßnahmen der In-der-City-Bus in Frankfurt a.M bereitet die Elektrifizierung des Fuhrparks von gegenwärtig 215 Bussen vor; bei der Buswäsche anfallendes Brauchwasser wird wieder aufbereitet und erneut verwendet. Diese und andere öffentliche Unternehmen agieren so, weil sich die Stadt Frankfurt zur Agenda 2030 bekennt und einen Zeitplan für die Emissionsfreiheit und Klimaneutralität festgelegt hat.
Die Agenda 2030 war auch der Dreh- und Angelpunkt für den European Green Deal der Europäischen Kommission, in Folge dessen sich alle 27 Mitgliedstaaten verpflichteten, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55% gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Die Kommission führte die EU-Taxonomie 2020 ein, d.h. ein Klassifikationssystem mit bereichs- /branchenabhängigen Kriterien, damit erkennbar ist, ob den Worten Taten folgen.
Die Bundesrepublik Deutschland kreierte eine Nachhaltigkeitsstrategie und nutzte den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK), um eine Berichterstattung der Nachhaltigkeitsentwicklung zu etablieren. Darüber hinaus verabschiedete der Deutsche Bundestag das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), mit dem im In- und Ausland alle Schritte zur Herstellung der Produkte und zur Erbringung der Dienstleistung eines Unternehmens, angefangen von der Rohstoffgewinnung bis zur Lieferung an den Endkunden, überprüfbar sind. Nicht zu vergessen: öffentliche Unternehmen sind zu nachhaltiger öffentlicher Beschaffung rechtlich angehalten.
Im Bundesland Hessen haben sich 371 Kommunen dazu verpflichtet, einen Aktionsplan mit der derzeitigen CO2-Bilanz sowie ihren Maßnahmen zum Klimaschutz und deren Treibhausgasminderungspotenzials zu erstellen. Aus dem DNK ist für den kommunalen Bereich das Instrument Berichtsrahmen Nachhaltige Kommunen (BNK) geschaffen worden. Schließlich hat der Deutsche Städtetag gemeinsam mit der vom Bund getragenen Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) für seine Mitglieder eine kommunale Musterresolution erarbeitet. In Hessen haben bislang 13 Kommunen die Musterresolution unterzeichnet und führen Bestandsaufnahmen der bisherigen Maßnahmen durch. Wir wissen allerdings noch nicht, welche Maßnahmen sie umsetzen wollen.
Zwischen den Ebenen von Europa, des Bundes, der Länder, der Städte, Gemeinden und der Unternehmen scheint eine lückenlose Kette für die Öko-Governance geschaffen worden zu sein. Wenn sie wirken soll, müssen die operativen Schritte konsequent durchgeführt werden und transparent sein. So ist es konsequent, wenn die Vergabe von öffentlichen Fördermitteln an Nachhaltigkeitsaspekte geknüpft wird und für Wohnungsunternehmen Standards nachhaltigen Bauens unumgänglich werden. Und es ist folgerichtig, wenn bei nachhaltiger öffentlicher Beschaffung Maßstäbe von nachhaltigen Investitionen angelegt werden, um das Entstehen von Treibhausgasen direkt zu vermeiden und Leitmärkte für klimafreundliche Produkte zu schaffen. Wobei wir bei der Transparenz wären. Sie wird erreicht, wenn Kommunen und Unternehmen über den aktuellen Stand ihrer Nachhaltigkeitsbemühungen berichten müssen. So müssen große Unternehmen im Geltungsbereich der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) Offenlegungspflichten erfüllen.
Wir fügen hinzu, dass diese Kette auch auf Kosten von Konsequenz und Transparenz entstand. Denn es ist nicht zu übersehen: mit den Gesetzen, Richtlinien und Taxonomien üben die Europäische Union und der deutsche Gesetzgeber auch Druck auf öffentliche Unternehmen aus, sich nachhaltig auszurichten. Deshalb ist auch bei manchen Unternehmen das Gefühl der Überforderung entstanden. Die gesetzlich geforderten Berichte verpflichten sie, entsprechende Daten zu sammeln, die wiederum auch für die Datenlieferung gegenüber Kapitalgeber:innen benötigt werden. Und aus Sicht der Unternehmen stellt die EU-Taxonomie teilweise eine so hohe Anforderung dar, dass sie für öffentliche Unternehmen in der Verkehrsbranche für Omnibusse mit herkömmlicher Technologie nicht mehr erfüllbar sein wird.08 Die Stadtwerke befürchten, dass die strengen Vorgaben der EU-Taxonomie die Finanzierung von Investitionen zum Beispiel in moderne fossile Gaskraftwerke, die zur Versorgungssicherheit als notwendig gelten, erheblich erschweren könnten. Bei Verstö̈ßen gegen das LkSG sind Unternehmen von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen. Bei nachhaltiger öffentlicher Beschaffung entsteht ein hoher Informationsbedarf und Verwaltungsaufwand für die Behörden und Unternehmen. Bislang haben die Beschaffungs- und Vergabestellen von Bund, Land und Kommunen bei der Umsetzung der geltenden Regelungen und Vorschriften zu nachhaltiger Beschaffung die Erwartungen nicht erfüllen können.
Die Klagen über Überlastungen weisen auf ein Steuerungsproblem des gegenwärtigen Top-down-Ansatzes der SDG hin, der von Europa bis zu den Unternehmen reicht. Bundesländer, Regionen, Städte und Gemeinden sind bei der Umsetzung der SDG keineswegs unkooperativ, sondern handeln nach dem Maßgabe ihrer Möglichkeiten. Sie sind keine Reformgegner.
Ist nach dem Streit vor dem Streit?
Der Kompromiss in der Bundesregierung beim Heizungsstreit zeigt, dass sie die Problemlage verstanden hat. Aber schon steht die stark umstrittene Reform des Klimaschutzgesetzes und des Straßenverkehrsrechts auf der politischen Tagesordnung.09 Die etwa 800 Kommunen der Initiative für lebenswerte Städte und Gemeinden haben mehr Spielraum bei der Gestaltung ihrer Verkehrspolitik gefordert. Sie wollen künftig Tempo-30-Zonen, Zebrastreifen, Radwege oder Busspuren einrichten können, wenn dies dem Klimaschutz, der Gesundheit der Bürger oder der städtebaulichen Entwicklung dient. Bisher sind diese Maßnahmen nur möglich, wenn sie eine „Gefahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ abwenden.
Außerdem will die Bundesregierung künftig bei der Frage, wie viel CO2 eingespart werden muss, nicht mehr die Sektoren Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft getrennt betrachten, sondern eine „sektorübergreifende und mehrjährige Gesamtrechnung“ einführen. Verfehlt ein Sektor wie vor allem der Verkehrsbereich sein Ziel, können andere aushelfen. Müssen wir damit rechnen, dass nach dem Streit vor dem Streit ist? Zumindest ist es der Bundeswirtschaftsminister, der das bekannte Konfliktmuster nicht wiederholt.
Leviathan und Kosmopolis
Schließlich hatte sich die Bundesregierung gegen Ende des ersten Halbjahrs 2023 zu der Selbsterkenntnis durchgerungen, dass es mit dem „Heizungstauschgesetz“ ziemlich schlecht gelaufen war. Der Gesetzentwurf von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bauministerin Klara Geywitz hatte ursprünglich vorgesehen, dass jede neu eingebaute Heizung von 2024 an zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden sollte. Und dies sowohl in Neu- als auch in Bestandsbauten. Dann hatte der Wirtschaftsminister Verbesserungsvorschläge gemacht: den Startzeitpunkt zu verschieben, die neuen Regeln nur für Neubauten schon von 2024 an anzuwenden und die Heizungsanlagen als „technologieoffen“ zu betrachten.
Es scheint, dass die von der Allensbacher Demoskopin Renate Köcher festgestellte Überforderung durch das GEG ein Indikator dafür ist, dass die Problemlagen der Gesellschaft nicht hinreichend bekannt waren und berücksichtigt worden sind. Der kritische Begriff ist der des Berücksichtigens. Gute Governance tut dies: sie berücksichtigt den vorpolitischen zivilisatorischen Hintergrundkonsensus, oder anders gesagt: die selbstverständliche Verankerung der Politik in der Lebenswelt. Im Falle des Heizungsgesetzes versäumte es der Staat, seine anspruchsvolle Ordnungsleistung zu erbringen, die in die Textur des normalen Lebens eingewoben werden konnte. Deshalb erschien diese Klimamaßnahme als realitätsfern und bürokratisch.
Die Lösungsformel, dass „Top-down“-Maßnahmen mit „bottom-up“-Prozessen ergänzt werden müssen, ist aber nur eine Beschreibung des Transformationsproblems. Sie bringt das Vermittlungsproblem zwischen EU-Kommission und Bundesstaat einerseits und Ländern und Städten andererseits nicht auf den Begriff. Die Probleme liegen tiefer, und zwar zwischen den Emblemen von zwei Modernen, Leviathan und Kosmopolis.10 Kosmopolis steht nach Stephen Toulmin für eine frühe Moderne und ist Kontrastprogramm zum theoretischen Perfektionismus, moralischen Rigorismus und der menschlichen Unerbittlichkeit der Hochmoderne. Lebensauffassung und Philosophie der Humanisten der Spätrenaissance, Montaignes und Shakespeares dokumentieren für ihn die kosmopolitische Verfassung einer frühen anderen Moderne, deren Offenheit, Toleranz und praktischer Sinn in einer krisenhaften Periode auch zur Ortsbestimmung einer Moderne, also unserer Gegenwart, etwas beizutragen hätte. Die Kosmopolis realisiert sich nicht vorwiegend im Staat, sondern in der Stadt. Der Begriff Stadt steht für flexible universelle Räume, unterhalb und oberhalb des nationalen Staates.
Das Berücksichtigen erfordert die Vermittlung von erster und zweiter Moderne, und dies ist ein konfliktträchtiger Prozess. In unseren Zusammenhang muss das Pariser Klimaabkommen zwischen nationaler Ebene und der Ebene des Städtischen so realisiert werden, dass Perspektiven einer nachhaltigen Lebensweise entstehen. Dem liegt das Anerkennen zweier Modernen als steuerndes Begriffspaar nachhaltiger Entwicklung zugrunde. Es geht um den genauen Blick, um die Gegenwart vorherzusehen.
Manchem Beobachter mag es so scheinen, dass die FDP sich im Heizungsstreit „durchgesetzt“ habe. Daran ist zutreffend, dass diese Partei ein Gespür für die Interessen der mittelständischen Wirtschaft und für die Probleme der Hauseigentümer besitzt. Dies gibt ihr den Stoff für Provokationen. Aber sie betreibt ihr politisches Geschäft ohne Sinn für Nachhaltigkeit. Ihr Freiheitsverständnis ist klientelistisch enggeführt. Sie profitiert von ihren Anspielungen auf die Kosmopolis, aber sie repräsentiert sie nicht. Insofern hat sich etwas Falsches durchgesetzt.
01 Vgl. Friederike Haupt, Eckart Lohse, „Die Geschichte eines Ampelstreits“, FAZ 02-06-2023; „Wohnungsbesitzer bekommen mehr Zeit für Heizungstausch“, FAZ 14-06-2023
02 Vgl. Niklas Záboji, „Erdwärme im Atomland“, FAZ 12-06-2023
03 Zur Erinnerung: Die UN haben 2015 die Agenda 2030 verabschiedet, womit sowohl das menschenwürdige Leben als auch die natürliche Grundlage unter ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten adressiert werden. Die Agenda richtet sich an Staaten, an die Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Wissenschaft.
04 Golo Mann, „Deutsche Geschichte des XIX. Jahrhunderts“, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt a.M. – Wien – Zürich, 1962, 76; Gordon Alexander Craig, „Das Scheitern der Reform: Stein und Marwitz“, in: ders., Das Ende Preußens. Acht Porträts, Beck Verlag, München 2001, S.13ff, S.28-32
05 Renate Köcher, „Lost in Transformation“, FAZ 23-05-2023
06 Amy Walker, „Bauverbände warnen: Zu viel Klimaschutz verschärft Wohnungsnot“, 24.04.2023, www.merkur.de
07 IWAK, Institut Wirtschaft, Arbeit und Kultur, Goethe-Universität Frankfurt am Main, „Wie nachhaltig ist der öffentliche Sektor?“, Frankfurt a.M, 2023
08 IWAG (2023, 8)
09 „Kommunen sollen mehr Spielraum für Tempo-30-Zonen bekommen“, FAZ 17-06-2023
10 Stephen Toulmin, „Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1991