Nebel des Krieges, Nebel der Sanktionen

Es gebe zahlreiche internationale Friedensinitiativen und hinter den Kulissen fänden regelmäßig Gesprächskontakte auf höchster politscher Ebene statt – auch zwischen den USA und Russland, sagt Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. Diese Kontakte „haben das Ziel, im Gespräch zu bleiben, Fehlkalkulationen zu verhindern und auszuloten, ob sich neue Spielräume für den politischen Prozess ergeben“. Aber alle Initiativen und Kontakte seien zum Scheitern verurteilt, solange Russland an seinem Kriegsziel festhalte, den Staat, die Identität und die Kultur der Ukraine zu zerstören.

Wolfgang Storz: Die vielfach angekündigte Großoffensive der Ukraine kommt voran, aber zäh und langsam. Haben sich die militärischen Verhältnisse in den vergangenen Monaten eher zugunsten der russischen Armee verändert?

Andreas Wittkowsky: Es ist der russischen Armee gelungen, tief gestaffelte Verteidigungslinien in den besetzten Gebieten anzulegen und auf die Abwehr der ukrainischen Gegenoffensive auszurichten. Vor allem Minenfelder erschweren den ukrainischen Vormarsch auf breiterer Front. Da die Ukraine keine Lufthoheit hat, sind die vordringenden Einheiten auch heftigem Beschuss durch russische Kampfhubschrauber ausgesetzt. Selbst Präsident Selenskyj hat kürzlich erklärt, dass die Offensive langsamer vorankommt als erhofft. Da beim Angriff grundsätzlich die Opferzahlen ungleich höher liegen als bei der Verteidigung, soll das Leben von Soldatinnen und Soldaten nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.

Dann droht ein Scheitern dieser Offensive?

Andreas Wittkowsky: Nein. Es wäre geradezu falsch, dies als ein Scheitern der ukrainischen Offensive zu bewerten, wie es jetzt teilweise in der deutschen Öffentlichkeit zu vernehmen ist. Weiterhin zerstört die Ukraine sehr erfolgreich die Nachschubwege und -lager der russischen Armee, zwingt diese auch durch ihr Vorrücken an mehreren Frontabschnitten zu aufwendigen Stellungswechseln. Damit verbessert die Ukraine ihre Ausgangslage durch eine sogenannte „shaping operation“ [eine umfassende Operation, die Bedingungen für einen entscheidenden Erfolg schaffen soll], mit der die Rahmenbedingungen für die Offensive „gestaltet“ werden.

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), dem Kompetenzzentrum des Auswärtigen Amtes für Friedenseinsätze. Twitter @Twittkowskyi

Zerstörung des Staates, der Identität und der Kultur der Ukraine

Fast alle haben unverändert den Wunsch, dass Ukraine und Putin-Russland echte Verhandlungen führen, wenigstens mit dem Ziel eines sofortigen Waffenstillstandes. Wer trägt von beiden Seiten die größere Schuld daran, dass es dazu nicht kommt?

Andreas Wittkowsky: Ich glaube nicht, dass diese Meinung so einhellig von „fast allen“ vertreten wird, wie Sie es in Ihrer Frage unterstellen. Auch ich vertrete sie so nicht. Denn ein sofortiger Waffenstillstand ist für mich nur dann eine Wunschvorstellung, wenn er mit dem vollständigen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine einhergeht. Andernfalls würde er die bisherigen Eroberungen akzeptieren und damit die Bereitschaft Russlands, einen Angriffskrieg zu führen, belohnen. Moskau hat immer wieder signalisiert, dass es an seinen Kriegszielen festhält. Die sind nicht weniger als die Zerstörung des ukrainischen Staates. Und — wie wir in den besetzten Gebieten sehen – auch der ukrainischen Identität und Kultur.
Diejenigen, die unter den jetzigen Bedingungen einen sofortigen Waffenstillstand fordern, ignorieren also wissentlich oder unwissentlich die Konsequenzen – oder billigen sie sogar. Diese beschränken sich nicht auf die Ukraine. Ein siegreiches Russland mit seinem neoimperialen Hegemonieanspruch wäre ein Sicherheitsrisiko für ganz Europa und darüber hinaus.

Was ist denn in der Zwischenzeit aus der groß angekündigten Friedensinitiative von China geworden? Gibt es irgendwo irgendwelche Geheimverhandlungen zwischen wem auch immer, von denen Sie, aber nicht die breite Öffentlichkeit wissen?

Andreas Wittkowsky: Tatsächlich gab und gibt es mehrere internationale Initiativen, die sich aus den genannten Gründen nicht in Verhandlungen überführen ließen. China hat im Mai hochrangige Sondierungsgespräche in Kiew und in Moskau geführt. Gleichzeitig hält Peking an seiner breit aufgestellten Partnerschaft mit Moskau fest und verurteilt deshalb nicht den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands. Allerdings drängt China Russland auf den Verzicht eines Nuklearwaffeneinsatzes.

Eine afrikanische Delegation unter Leitung von Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa reiste am 17. Juni nach Moskau, um für ihren eigenen Friedensplan zu werben – der fand allerdings nicht die Zustimmung Putins. Auf ukrainische Initiative kamen dann wenig später, am 24. Juni, außenpolitische Beraterinnen und Berater aus Brasilien, Großbritannien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Indien, Japan, Kanada, Südafrika, Saudi-Arabien, der Türkei, der EU und den USA zu einem informellen Treffen in Kopenhagen zusammen, um über den ukrainischen Friedensplan zu beraten. Diesen Plan hatte Präsident Selenskyj im November 2022 lanciert und im Dezember einen „Globalen Friedensgipfel“ zu seiner Umsetzung vorgeschlagen.

Hinter den Kulissen gibt es regelmäßig Gesprächskontakte auf höchster politscher Ebene – auch zwischen den USA und Russland. Sie haben das Ziel, im Gespräch zu bleiben, Fehlkalkulationen zu verhindern und auszuloten, ob sich neue Spielräume für den politischen Prozess ergeben.

„Fast alle warteten ab“

Diese Vorkommnisse rund um den ominösen Putschversuch der Söldnerarmee von Jewgenin Prigoschin: Wie stark schwächen diese Ereignisse Wladimir Putin? Es gab in der Vergangenheit Umfragen von russischen Meinungsumfrage-Instituten, wonach 70 bis 80 Prozent die Spezialoperation von Putin unterstützen.

Andreas Wittkowsky: Wenn uns Prigoschins Revolte eines gezeigt hat, dann dass nicht annähernd so viel Menschen hinter Putin stehen wie die Umfragen nahelegen. Die Bilder aus Rostow am Don hatten etwas Surreales: Während Wagner-Söldner mit Sturmgewehren das besetzte Armeehauptquartier sicherten, verfolgten sommerlich gekleidete Passanten in Flip-Flops das Geschehen angstfrei am Straßenrand und schossen Selfies. Ein Hauch von Gladbeck. Während des folgenden Marschs auf Moskau blieb auch ein guter Teil der Sicherheitskräfte auffällig passiv. Nachträglich behauptete der Kreml, die russische Nation habe sich angesichts der Gefahr eines staatsgefährdenden Bürgerkrieges hinter Putin vereint. Die Realität war eine andere: Fast alle warteten ab.

Militärische Meuterei von Jewgeni Prigoschin in Rostow am Don am 24. Juni 2023. (Foto: Fargoh auf wikimedia commons)

Was bedeutet das wiederum, wenn der Kreml es wagen kann, diese Ereignisse zu seinen Gunsten so umzudeuten, ohne sich in Russland selbst offenkundig zu blamieren?

Andreas Wittkowsky: Dass diese Uminterpretation der Prigoschin-Revolte offenbar verfängt, macht auch deutlich, dass es im heutigen Russland möglich ist, den Dingen einen noch so absurden Spin zu geben, ohne dass es zum Aufruhr kommt. Die Repressionen der letzten Jahre haben die Gesellschaft weitgehend atomisiert. Das ist insofern von Bedeutung, dass es Putin auch möglich sein sollte, einen Abzug aus der Ukraine als Erfolg seiner „Militärischen Spezialoperation“ zu verkaufen – wenn er es nur will. Bei uns muss man sich nicht allzu viele Gedanken über gesichtswahrende Lösungen machen, sondern vielmehr, wie ein Gesinnungswandel bei Putin zu erzielen ist. Und dies geschieht nur über weitere militärische Erfolge der Ukraine.

Es gibt ein komplettes Verwirrspiel rundum das AKW Saporischschja: Welchen Angaben trauen Sie?

Andreas Wittkowsky: Kernkraftwerke sind strategische Infrastrukturen par excellence und damit ein wichtiges Element der wirtschaftlichen Kriegsführung. Der russische Angriff im Februar 2022 zielte auf die Besetzung der beiden großen Kernkraftwerke der Südukraine, Saporischschja und Juschnoukrajinsk. Der Angriff auf letzteres konnte zurückgeschlagen werden, sonst wäre ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Stromproduktion in russische Hände gefallen.

Hinzu kommen die Drohungen mit einer nuklearen Katastrophe. Die russischen Besatzer haben das AKW Saporischschja zu einer Festung ausgebaut. Dies soll einen ukrainischen Angriff verhindern und bei uns Ängste schüren, um entsprechenden Druck auf die Ukraine auszuüben. Inzwischen wurden die Kraftwerksanlagen auch vermint. Deshalb hat der ukrainische Präsident Alarm geschlagen, die Russen könnten das AKW bei einem erzwungenen Abzug zur „schmutzigen Bombe“ machen und der Ukraine dann – im Rahmen einer „False Flag“-Operation – die Schuld zuweisen.

Allerdings verhält es sich mit Sabotageszenarien am AKW ähnlich wie mit der Drohung mit Nuklearwaffen: Sie sind in erster Linie politisch-psychologische Waffen. Würden sie tatsächlich angewandt, riefen sie nicht kalkulierbare Reaktionen hervor. Dagegen bietet die (unberechenbar erscheinende) Drohung mit ihnen die größten Chancen, den Gegner zur Zurückhaltung zu zwingen. Und dieses Drohpotential will Russland natürlich nicht aus der Hand geben.

Kann die Gefahr, die von diesem AKW im schlimmsten Fall ausgehen könnte, genauer beschrieben werden?

Andreas Wittkowsky: Die konkrete Gefahr eines Worst Case mag ich nicht genau zu beurteilen. Die American Nuclear Society und andere weisen darauf hin, dass die Reaktoren schon länger heruntergefahren sind, der Reaktorkern eine solide Schutzhülle gegen Beschuss hat und es sich nicht um Reaktoren des Tschernobyl-Typs handelt. Daraus leiten sie für den schlimmsten Fall eine begrenzte Verseuchung des direkten Umfelds des Kraftwerks ab. Dies wäre natürlich schlimm genug, käme aber keinem Tschernobyl- oder Fukushima-Szenario gleich. Sowohl bei den militärischen als auch den „zivilen“ Nukleardrohungen ist es deshalb weiterhin wichtig, international starke präventive Botschaften zu senden.

China und die Türkei sind Russlands wichtigste Lieferanten

Wie wirksam sind denn in der Bilanz die gefühlt unzähligen Sanktionspakete? Beispiel: Vor wenigen Monaten wurde bekannt, Österreich bezieht unverändert sein Gas bis zu 80 Prozent von Gazprom. Der Schluss eines Laien: Das bringt doch alles gar nichts.

Andreas Wittkowsky: Parallel zum „Nebel des Krieges“ gibt es auch einen „Nebel der Sanktionen“. Das heißt, ihre Wirkungen sind unsicher, mal stark, mal schwach, da diese von externen Effekten beeinflusst sind: wie entwickeln sich Wechselkurse, was fällt Russland an Gegenmaßnahmen ein, wie entwickeln sich die weltweiten Energiepreise? Und wirtschaftliche Abhängigkeiten des Westens haben zudem immer wieder dazu geführt, dass einzelne Staaten drastische Sanktionen nicht mittragen wollten, so etwa ein Embargo für Kernbrennstoffe oder den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT. Dies als Vorbemerkung.

Die ersten Sanktionspakete zielten vor allem auf Finanzsektor und Außenhandel. Sie führten kurzfristig zu einem erheblichen wirtschaftlichen Einbruch. Russlands Gegenstrategie bestand darin, Währungsreserven zu diversifizieren, den Außenhandel neu auszurichten und Strategien zur Umgehung der Sanktionen zu entwickeln. Die wichtigsten Abnehmer für die Energieexporte sind inzwischen China und Indien, die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten sind weiterhin beträchtlich. Auf der Importseite sind China und die Türkei Russlands wichtigste Lieferanten geworden. Rüstungsgüter kommen u.a. aus Iran. Insgesamt hat sich die russische Wirtschaft vom ersten Schock weitgehend erholt und steht heute besser da als erwartet.

Dann hat sich der Westen im sogenannten „Wirtschaftskrieg“ also eine Niederlage eingeheimst?

Andreas Wittkowsky: Diese Einschätzung teile ich nicht. Denn gravierende Auswirkungen haben die Sanktionen in den Hochtechnologiesektoren, die von internationalem Know-how und Vorprodukten, insbesondere Mikrochips, abhängig sind. Hier dürften die Sanktionen auch langfristig die größte Wirkung entfalten. Der Einbruch der Automobilindustrie war dramatisch, mittlerweile wird auf technologisch rückständige Eigenentwicklungen gesetzt. Auch die Rüstungsindustrie ist betroffen. Hier werden die Sanktionen zwar mit hohem Aufwand und einem gewissen Erfolg durch verdeckte Geschäfte und den Import von Dual-Use-Produkten umgangen. Aber das gerade verabschiedete 11. Sanktionspaket der EU soll diese Praxis erschweren.

Was ist Ihr Schluss? Auf Sanktionen verzichten?

Andreas Wittkowsky: Richtig ist: Der Einfluss von Sanktionen beispielsweise auf das aktuelle Kriegsjahr ist begrenzt und wird begrenzt bleiben. Sanktionen sind kein ziviles Allheilmittel, sondern ein Instrument unter vielen. Jedoch: Dass Deutschland seine sehenden Auges geschaffene Abhängigkeit vom russischen Erdgas innerhalb eines Jahres überwunden hat, war in jedem Fall richtig und wichtig.

Siehe auf bruchstuecke auch die Interviews mit Andreas Wittkowsky „Diplomatisch tut sich einiges“ und „Waffenstillstand fordern? Gut gemeint, nicht durchdacht
sowie das Interview mit Gernot Erler „Herr Erler, was passiert gerade in Russland?

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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