Heil auf dem Holzweg

Foto: Stefan Brending auf wikimedia commons

Das deutsche Erfolgsmodell der aktivierenden Grundsicherung wird gegenwärtig von zwei Seiten in die Zange genommen. Man schwächt die Anreize Arbeit aufzunehmen im Gesetz und entzieht gleichzeitig den Jobcentern die Möglichkeiten, die Arbeitsuchenden gut zu beraten, zu qualifizieren und in Arbeit zu bringen. Ob das gutgeht?

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde in einem 12. Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches II erst Ende letzten Jahres grundlegend reformiert. Die Reform trat am 1. Januar 2023 in Kraft und wurde in zwei Schritten umgesetzt, der zweite am 1. Juli. Aus „Hartz 4“ wurde „Bürgergeld“. Man hat dabei die Geldleistungen deutlich verbessert, eine paar durchaus sinnvolle Verfahrensänderungen eingebaut, aber auch den bisher erfolgreichen Grundsatz von „Fördern und Fordern“ abgeschwächt.

Wie die Reform wirkt, muss man abwarten. Die Ausgaben für die Geldleistungen, „passive“ Leistungen im Fachjargon genannt, sind auf jeden Fall bis Mitte des Jahres kräftig angestiegen. Die Ausgaben liegen mehr als eine Milliarde über Plan. Die Integration in Erwerbsarbeit stagniert.

Die aktive Förderung musste zurückgefahren werden

Das „Fordern“ ist ganz offensichtlich doch ein Erfolgsfaktor. Wenn man ihn schwächt, hat das Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Nicht nur das. Der Bund hat die „passiven“ Leistungen für den Unterhalt wesentlich großzügiger gestaltet, zugleich aber die Mittel für die „aktiven“ Leistungen, also Arbeitsförderung und Qualifizierung nicht an die gestiegenen Kosten angepasst. Viele Jobcenter mussten, um Personal und Miete weiter zahlen zu können, erhebliche Mittel aus dem Topf für Eingliederungsmaßnahmen umschichten. Die aktive Förderung musste zurückgefahren werden. Im nächsten Jahr will der Bund hier sogar auch nominal kürzen. Nach den aktuellen Haushaltsplanungen des Bundes für 2024 sollen weitere 300 Millionen aus dem entsprechenden Etat des Bundesarbeitsministers rausgestrichen werden. Das Ganze, wohlgemerkt, bei kräftigen Kostensteigerungen bei Personal- und Sachkosten aufgrund der Inflation.

Jetzt setzt Arbeitsminister Hubertus Heil überraschend noch einen drauf. Um Gelder im Haushalt für neue Sozialleistungen wie die Kindergrundsicherung frei zu bekommen, will er weitere 900 Millionen beim Bürgergeld einsparen, und zwar dadurch, dass er die Zuständigkeit der Jobcenter für die Förderung von jungen Menschen unter 25 Jahren ab 2025 in die Arbeitsagenturen verlagert. Betroffen sind über 700.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Für die Kosten der Betreuung und Förderung der jungen Menschen sollen Mittel aus Beiträgen der Arbeitslosenversicherung eingesetzt werden. Die Weichen im Verschiebebahnhof der Finanzen werden neu gestellt. Man bekommt den Eindruck, die Jobcenter mussten das Bauernopfer im Koalitionsschach mit dem Finanzminister und der grünen Familienministerin liefern, damit man die teure Kindergrundsicherung mit der Schuldenbremse unter einen Hut bekommt.

Aus fachlichen Gesichtspunkten ist die überraschende neue Wende beim Bürgergeld falsch. Zum einen haben die Jobcenter inzwischen sehr gute Modelle für die ganzheitliche Förderung entwickelt, die der oft sehr schwierigen Lebenslage der jungen Menschen im Bezug von Grundsicherungsleistung Rechnung trägt. Die Einbettung in die kommunalen Netzwerke von Jugendhilfe, Schulen, sozialen Trägern und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist dabei sehr wichtig. Es braucht dafür Fingerspitzengefühl für die besonderen lokalen Bedingungen. Jede Region hat ihre Besonderheiten und sozialen Dynamiken. Was in der einen Stadt gut funktioniert, kann im anderen Landkreis scheitern. Es bekommt auf die gute Passung zwischen Förderstrategien und Regionen an. Lokale und regionale Kompetenz ist deshalb für wirksame Hilfe entscheidend.

Integrierte Hilfe aus erster Hand wird aufs Spiel gesetzt

Eingang zum Jobcenter im ehemaligen Stadtbad Hamborn
Foto: Mabit1 auf wikimedia commons

Da meist nicht nur die jungen Menschen, sondern auch die anderen Familienmitglieder in der Betreuung der Jobcenter sind, gab es bisher auch die Möglichkeit, Blockaden in der Familie, zum Beispiel bei Schulschwierigkeiten oder bei der Berufswahl junger Frauen, zu erkennen und die gesamte Familie in die Beratung einzubeziehen, um gute Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Integrierte Hilfen aus einer Hand – das war bisher das Konzept der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Und es hat auch funktioniert, wie man in der Arbeitsmarktstatistik unschwer ersehen kann.

Das wird jetzt aufs Spiel gesetzt. Die Erfahrung zeigt, dass die zentral gesteuerte Bundesagentur für Arbeit sich sehr schwer dabei tut, auf die einzelnen Regionen abgestimmte Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Manche sagen auch, sie bekommt es einfach nicht hin, weil sie als bundesweite Megabehörde einfach anders tickt als die Kommunen. Die Betreuung der Menschen wird, wenn Arbeitsminister Heil sein Modell umsetzt, auseinandergerissen. Es entstehen neue Schnittstellen zwischen Behörden und man muss damit rechnen, dass viele junge Menschen sich wieder im Niemandsland zwischen den Zuständigkeiten verirren. Das ist nicht nur für die Betroffenen fatal. Die Kommunen werden mehr Aufwand treiben müssen, um verloren gegangene Jugendliche wieder auf die richtige Spur zu setzen. Die Wirtschaft leidet, wenn es mit der Einmündung in Arbeit und Berufsausbildung hakt. Stichwort Fachkräftemangel.

Auch der Bundesrechnungshof hat Zweifel

Sozialverbände, Kommunen und Jobcenter lehnen die Regierungspläne deshalb einhellig ab. Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund, bisher stets einer der engsten Verbündeten der Bundesagentur für Arbeit, geht auf Distanz. Der Bundesrechnungshof hält die Pläne des Arbeitsministers für nicht ausreichend durchdacht und rät dazu, die Sache noch mal zu überdenken und auf keinen Fall übers Knie zu brechen.

Der Rechnungshof hat zudem Zweifel, ob die finanzielle Rechnung von Minister Heil aufgeht. Die Kosten für den zusätzlichen Koordinierungsaufwand zwischen den Behörden hat er in seinem Beschlusspapier außen vor gelassen. Ob die Bundesagentur die zusätzlichen Kosten von rund einer Milliarde Euro in ihrem Haushalt in der Zukunft ohne Bundeszuschuss wird stemmen können, ist ungewiss. Auf jeden Fall werden dadurch Spielräume zur Entlastung von Arbeitnehmern und Unternehmen bei den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung auf längere Sicht entfallen. Das sollte eigentlich weder die Gewerkschaften, noch die Arbeitgeber kalt lassen.

Es steht aber zu befürchten, dass die Bundesregierung trotz der einhelligen Ablehnung durch Praktiker und Experten an ihrem Plan festhält. Man scheint zu hoffen, dass der Arbeitsmarkt inzwischen ein Selbstläufer ist und man hier nichts mehr tun muss. Zeitenwendepakete müssen nun ebenso finanziert werden wie großzügige Sozialleistungen und die riesigen Subventionspakete, mit denen man die Klimawende für Bürger und Wirtschaft schmackhaft machen will. Also schichtet man um, von „aktiv“ zu „passiv“. Das ist nicht klug und wird die Gesellschaft zurückwerfen – nicht heute, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit morgen und ganz sicher übermorgen. Hubertus Heil ist auf einen Holzweg abgebogen. Noch wäre Zeit das zu erkennen und die Arbeitsmarktpolitik zukunftsfest aufzustellen.

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Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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