Demokraten siegen – vor leeren Rängen

Wie ist so der demokratische Alltag, `draußen im Lande`? Im hessischen Offenbach, direkt neben Frankfurt am Main, siegte jüngst bei der Wahl zum Amt des Oberbürgermeister in überragender Weise die numerisch vereinigte Linke. Beinahe 80 Prozent erreichte sie. Zusammen: der (damit bereits im 1. Wahlgang wiedergewählte) SPD-Kandidat Felix Schwenke (69,93 Prozent) und die Kandidatin der Linken Gizem Erinc-Ciftci (7,18 Prozent). Alle freuen sich. Und weisen – nach langer Pause – darauf hin, ach ja, da läge schon noch ein Schatten auf dem Ergebnis: 26,53 Prozent Wahlbeteiligung. 25. 130 von 94. 714 Wahlberechtigten wählten.

Blick auf das Offenbacher Rathaus und das Haus der Wirtschaft
(Foto: Stadt Offenbach am Main auf wikimedia commons)

Noch ein Einblick: Im Wahllokal 34 wählten 49 von 738 Berechtigten; um diesen wenigen WählerInnen ihr Geheimnis wahren zu können, sieht das Gesetz vor, dass ihre Stimmen sicherheitshalber einem benachbarten Wahllokal zugeschlagen werden, und so geschah es.

Was sagt uns das? Gut 73 Prozent der wahlberechtigten OffenbacherInnen sind total zufrieden, total unzufrieden, verachten die Demokratie oder schätzen ihre demokratische Ruhe über alles — keiner weiß es. Ein AfD`ler trat nicht an; die Partei ist mit fünf von 71 Sitzen im Stadtparlament vertreten. Hätte der etwa — unfreiwilliger Diener der Demokratie — die Wahlbeteiligung auf sagenhafte 40 Prozent hochgetrieben?

In den vergangenen Monaten war bei OB-Wahlen in Kassel und Frankfurt — trotz jeweils hoher Politisierung aufgrund erheblicher Konflikte vor Ort — das Interesse mit jeweils etwa 40 Prozent Beteiligung höher als in Offenbach, aber nicht hoch. Lediglich im prosperierenden Darmstadt beteiligten sich fast 50 Prozent im ersten Wahlgang; das Rennen war offen, da der langjährige Amtsinhaber, ein profilierter Grüner, nicht mehr antrat.

Im nicht weit entfernten baden-württembergischen Mannheim — ähnlich strukturiert wie Offenbach: sehr hoher Migrationsanteil, viele Menschen mit schlecht gefüllten Geldbeuteln, grassierende sogenannte Bildungsferne — war es dagegen wie in Offenbach: Trotz hoher Spannung – CDU-Mann siegt mit hauchdünnem Vorsprung in dieser SPD-Hochburg – gingen von den 210.000 Wahlberechtigten lediglich 31 Prozent zur Stichwahl.

Es heißt nun, man müsse etwas tun

In Offenbach heißt es nun, man müsse etwas tun. Um etwas zu tun, dazu hatten alle Verantwortlichen viel Zeit: Denn bereits bei der OB-Wahl 2011 wählte ebenfalls nur jeder 4. Berechtigte. Die Abstinenz ist also bereits gut abgehangen.

Um die Offenbacher Verantwortlichen zu schützen: Ob auf lokaler, regionaler Ebene, ob auf Landes- oder Bundesebene, keiner der Verantwortlichen nutzt die Zeit. Denn anerkannte Wahlforscher machen seit langem „auf eine wachsende demokratische Repräsentationslücke“ aufmerksam. Und das obwohl sich die Bandbreite des Parteienangebotes seit einigen Jahren mit AfD und weiteren Gruppierungen (Klimaliste, Freie Wähler, Die Partei etc.) programmatisch ständig verbreitert.

„Sozial prekäre Milieus wählen fast gar nicht mehr“, sagt Bertelsmann-Forscher Robert Vehrkamp. Diese Gruppen resignieren, denken und erleben, wir haben ja doch keinen Einfluss. Vehrkamp: „Die repräsentative Demokratie wird immer weniger repräsentativ.“ Wahlforscher wie Horst Kahrs, Rosa Luxemburg-Stiftung, gehen davon aus, dass 50 Prozent der Arbeiter und Angestellten in Produktion und Dienstleistungssektoren in der Regel nicht mehr zur Wahl gehen.

Ein Beleg für den Befund der Repräsentationslücke: Etwa 30 Prozent der BürgerInnen verfügen (nur?!) über einen Hauptschulabschluss. 85 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben studiert. Hauptschulabschluss-Absolventen sind dort eine Rarität. Das heißt, Angehörige eines sozial prekären Milieus wählen eventuell nicht, weil niemand aus ihrem Bildungs- und Kulturkreis kandidiert. Wie auch? Bei der Auswahl der Kandidaten – ob zu Kommunal-, Landtags- und erst recht Bundestagswahlen – spielt auch eine Rolle, dass die Parteien von ihnen inzwischen verlangen, viele tausende bis einige zehntausende Euro in den eigenen Wahlkampf zu investieren.

Armin Schäfer, Politikwissenschaftler, hat mit Kollegen diese Form politischer Ungleichheit untersucht. Die Forscher bestätigen zunächst einmal die Resignations-Befunde der anderen Wahl-Forscher. Eines ihrer Beispiele: Bei der Bundestagswahl 2017 lagen in Köln zwischen dem Stadtteil mit der geringsten und dem mit der höchsten Wahlbeteiligung beinahe 45 Prozent. Und sie sehen diese direkten Zusammenhänge: Wo Arbeitslosigkeit und Armut hoch sind, ist die Wahlbeteiligung gering — und umgekehrt. Ein Befund, der verallgemeinert werden kann: Wer gut verdient und gebildet ist, wählt deutlich häufiger als Geringverdiener ohne Abitur.

Eine soziale Einseitigkeit, die zu weiteren Ungleichheiten führt. Die Forscher-Gruppe um Schäfer untersuchte deshalb, welche Politik ein solch` studierter Bundestag (siehe oben) so produziert. Welche Interessen berücksichtigt er, welche nicht? Auch diese Befunde präsentieren sie in ihrem Buch „Die demokratische Regression“: Projekte und Wünsche von BürgerInnen mit höherer Bildung und höherem sozialen Status werden vom Bundestag „viel häufiger politisch umgesetzt“ als die Wünsche von Menschen, die „weniger Ressourcen haben“. Bundestagsabgeordnete reagieren also auffallend stark auf Forderungen von Unternehmern, Beamten und Gebildeten — und deutlich weniger auf Wünsche einkommensschwacher Gruppen. Schäfer: „Es gibt eine Schieflage bei den politischen Entscheidungen zugunsten derjenigen, denen es ohnehin besser geht.“

Warum soll es in den Stadtparlamenten in Offenbach, Kassel, Frankfurt und Mannheim anders sein?

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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