Schockstarre oder Weckruf?

Screenshot: Website SPD
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Das Ergebnis der Landtagswahlen in Hessen und Bayern wurde für die Parteien der Ampelkoalition die erwartbare Katastrophe, insbesondere für die SPD in beiden Bundesländern ein schmerzlicher Absturz. Das Wahlergebnis ist wegen des erkennbaren Rechtsruckes auch eine Gefahr für das ganze Land. Denn, wenn nichts passiert, treibt Deutschland bis zur Bundestagswahl 2025 einer rechten bis rechtsextremen Mehrheit zu, wenn man die Landtagswahlen 2024 mit im Blick hat. Aber das Wahlergebnis bietet auch Chancen, wenn die Ampelkoalition es als Weckruf erkennt. Mehr als 80% der Wähler:innen haben demokratischen Parteien ihre Stimme gegeben. Für keine der Parteien der Regierungskoalition sind in den Landtagswahlen des nächsten Jahres Erfolge zu erwarten. Die Parteien werden nicht in Konflikten gegeneinander, sondern nur durch eine gemeinsame Politik miteinander Erfolge erringen und einen weiteren Rechtsruck verhindern können 

Für Menschen, die Politik schon länger beobachten, mag die Situation auf den ersten Blick vergleichbar sein mit der nach der Landtagswahl 2005 in Nordrhein-Westfalen: In beiden Fällen war in Bundesländern mit 17 ca. Millionen Bevölkerung gewählt worden, in beiden wurden die Parteien der amtierenden Bundesregierung deutlich abgestraft Allerdings war die Wahl 2005 mit dem Machtverlust der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen verbunden, heute haben sich nur die schon bestehenden Machtverhältnisse mit einer deutlichen Rechtsverschiebung stabilisiert.  

Olaf Scholz wird angesichts dieser Situation nicht den Fehler von Gerhard Schröder 2005 wiederholen und für Frühjahr 2024 vorgezogene Neuwahlen ausrufen. Aber der Schock dieses Wahltages muss zum Weckruf werden, wenn das Land nicht in eine rechts dominierte Katastrophe treiben soll. Dazu ist eine Handlungsperspektive erforderlich, die unmittelbar an die Sorgen der Menschen anknüpft. 

DAFÜR FOLGENDE PUNKTE: 

  1. In der Asyl- und Migrationspolitik sollten Bundesregierung und Koalitionsparteien eine klare Linie und einheitliche Sprache finden. Am wichtigsten sind zwei Punkte:  Asylbewerbern den Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt zu eröffnen und ein Milliardenpaket an Hilfe für die Kommunen für alle Unterkunfts- und Integrationsmaßnahmen aufzulegen. Dann verliert die Debatte um Sozialleistungen für Asylbewerber an Gewicht, weil ein großer Teil der Asylbewerber von Leistungsempfängern zu den dringend benötigten Beitragszahlern für Sozialversicherung wird. Kommunen, die bereit sind zur Integration, müssen sie auch finanziell verwirklichen können. Es gilt offen darüber zu sprechen, dass die Flüchtlingsfrage letztlich nur durch eine globale Umverteilung von Reichtum und Rechten von Nord nach Süd gelöst werden kann.
    Allen Änderungswünschen beim Individualrecht auf Asyl, bei den humanen nationalen, europäischen und internationalen gegenwärtigen Rechtsnormen, sollte gleichzeitig eine klare Absage erteilt werden.  In weiten Teilen auch der bürgerlichen Mitte wird betont, dass die Festlegungen von Obergrenzen, beschleunigte Abschiebungen, Sachleistungen statt Geldleistungen keine Lösung bieten. Über Einkaufs-Kreditkarten (nicht Sachleistungen) und wirklich humane Asylbewerber-Zentren, finanziert und kontrolliert von der Europäischen Union, sollte ohne Scheuklappen diskutiert werden. Was soll daran inhumaner sein als direkte Geldleistungen, und bei humanen Zentren schlechter als die Elendssituation von Geflüchteten auf Lampedus
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  1. Im Zentrum sollte ein Bildungs- Sozial- und Wohnungspakt stehen. Das sind die drei Bereiche, die auch mit der Flüchtlings- und Migrationsfrage etwas zu tun haben, aber vor allem große Teil der hier lebenden Bevölkerung mit deutschem und migrantischem Hintergrund betreffen. Unser Bildungssystem ist schon in eine Katastrophe geraten, die Sozialsysteme sind nicht in der Lage, neue entstehende Armut zu verhindern und in Verschränkung mit Bildung dafür zu sorgen, dass nicht Jahr für Jahr 10 bis 15% eines Altersjahrganges ohne abgeschlossen Berufsausbildung oder Studienplatz dastehen, bei gleichzeitig enormen Arbeits- und Fachkräftemangel.
    Der Bundeskanzler hat aufgrund der äußeren Bedrohung durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ konstatiert und 100 Milliarden Sondervermögen zur Verbesserung unserer Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO auf den Weg gebracht. Die zunehmende innere Spaltung unserer Gesellschaft droht zu einer ähnlich großen Katastrophe zu werden und die Demokratie zu gefährden. Das verlangt eine zumindest vergleichbar große Anstrengung, den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft sowie die Zustimmung zum demokratischen Staat zu sichern. Es ist höchste Zeit auch für Bildung und Ausbildung, soziale Sicherung und Wohnung einen finanzkräftigen Solidarpakt aufzustellen. Denn eine Bevölkerung, die immer stärker unter den Lasten schlechter Bildung, löchriger Sozialsysteme und fehlender Wohnungen leidet, wird nicht nur der Aufnahme von Geflüchteten immer skeptischer begegnen, sondern auch der weiteren Unterstützung der Ukraine immer ablehnender gegenüberstehen. Insofern stehen die beiden Seiten einer Friedens-Sicherung in sehr engem Zusammenhang. 
  1. Entbürokratisierung und Digitalisierung sollten dringend beschleunigt und für die Bürger:innen endlich greifbar werden. Mit einem gut kommunizierten Masterplan, der innerhalb der nächsten zwei Jahre sichtbare Verbesserungen aufweist beim Umgang mit den Behörden, der Erstellung von Personalausweisen und Pässen, der An- und Abmeldung von Kraftfahrzeugen, der Vereinfachung und Digitalisierung von Antragstellungen gleich welcher Art, bei Arbeitsagenturen und Jobcentern, bei Sozialämtern und Rentenversicherungen u.ä., wäre viel Frustration abzubauen. Das ist nicht nur Dienst an Bürger:innen, sondern hilft auch dem Arbeitskräftemangel in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung entgegenzuwirken. 
  1. Auch wenn es jetzt bei den Wahlen vom 8. Oktober keine unmittelbare Rolle spielte: Im Blick auf das nächste Jahr sollte eine „Offensive Ost“ unabdingbar sein. Wenn man, wie ich, öfter durch die östlichen Bundesländer Deutschlands fährt, so ist der riesige Fortschritt bei der Erneuerung der Städte, in der Verbesserung der Infrastruktur und der Umweltqualität unübersehbar. Aber es fehlt unverändert die Gleichheit bei Entgelt und Arbeitsbedingungen, die Vertretung von Menschen aus Ostdeutschland in der mittleren und höheren Führungsebene in allen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft, öffentlichen Verwaltung, Medien und Kultur. Hier ist, über die Aktivität von Ostbeauftragten hinaus, ein Masterplan erforderlich, diesen Zustand rasch zu ändern. 
  1. Last not least sollten Bundesregierung und Koalitionsparteien zu einer Kommunikationsoffensive auf einheitlicher Grundlage finden. Ich bin nicht der Meinung, dass die beklagte Politikverdrossenheit vor allem eine Folge fehlender oder falscher Kommunikation ist. Sie ist in erster Linie eine Folge von vielen Versäumnissen und nicht wenigen Fehlern. Aber auch gute Politik – und die Bertelsmann-Studie bescheinigt der Bundesregierung ja eine Politik, die besser ist, als ihr Ruf – muss immer wieder transparent gemacht und erklärt werden. Pannen wie beim Gebäude-Energiegesetz dürfen nicht passieren, weil sonst rechte Populisten wochenlang Stimmung gegen die Demokratie machen mit Punkten, die keinerlei reale Grundlage haben. Der FPD sollte klar sein, dass sie mit weiterer destruktiver Politik Gefahr läuft, bei der auch Bundestagswahl 2025 die 5%-Hürde zu unterschreiten.   
  1. Das Engagement Deutschlands zur Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg bedarf einer besseren und fortlaufenden Erklärung durch den Bundeskanzler. Es sollte klar gemacht werden, dass diese Unterstützung keine Alternative zu Verhandlungen ist, sondern dazu dient, Verhandlungen auf Augenhöhe überhaupt erst den Weg zu bahnen; und was es für Europa bedeuten würde, wenn Russland die Ukraine teilen und große Teile ihres heutigen Staatgebietes in die Russische Föderation eingliedern könnte. Das führte zu einem neuen Gewicht der Macht atomarer Drohung und zur Rückkehr der Blöcke des Kalten Krieges mit all ihren Konsequenzen nach Europa, mit einer nach Osten verschobenen Blockgrenze. Das würde ein stabile Friedens- und Sicherheitsordnung auch unter Beteiligung Russlands auf absehbare Zeit unmöglich machen. 

Der Schock des Wahlabends kann zur Lähmung führen oder er kann ein Weckruf sein. Die Bundesregierung sollte aus dem inhaltsleeren Deutschlandpakt, den der Bundeskanzler angeboten hat, einen „Aktionsplan“ machen, der an den genannten Punkten mit Inhalten gefüllt wird. Mancher wird sagen, die Wirtschaft ist in diesem Plan vergessen. Aber Betrieben und Branchen stehen schon heute Mittel in Milliardenhöhe zu Verfügung. Weitere Mittel könnten über Abschreibungs- und Investitionserleichterungen noch mobilisiert werden.  Die Angst um Arbeitsplätze steht aber bei den Sorgen der Bürger:innen angesichts von Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel nicht obenan. Jetzt ist ein Aktionsplan erforderlich, der die akuten Bedrängnisse der Bürger:innen wirkungsvoll behebt. 

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Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

3 Kommentare

  1. Mit einem bloßen ‘Weiter so’ und ‘Jetzt erst recht’ ist es nicht getan. Diese 6 Punkte sind nicht neu und bringen die SPD nicht voran sondern näher an die 5 Prozent Klausel. Nicht noch mehr Ideologie ist gefragt sondern intelligentes Zuhören. Ein dafür Beispiel im Interview Kuhn zum miserablen Resultat der Grünen : https://www.tagesspiegel.de/politik/ex-grunen-chef-kuhn-zu-wahlniederlagen-wir-mussen-uns-fragen-warum-wir-so-viele-leute-nerven-10602283.html

    1. Das sehe ich nicht so . Mein Beitrag ist Ergebnis des Zuhörens. Auch und gerade nach dem Zuhören ist politisches Handeln gefragt, das die Sorgen derer aufnimmt, denen man zuhört. Die SPD verdrängt das Flüchtlingsthema bis jetzt und hat auch an den anderen Punkten viel zu wenig bewirkt. Die Menschen wollen von Politikern Zuhören und Handeln.

  2. Klaus Langs Beitrag gehört zu den wenigen weiterführenden Arbeiten, die sich dem Migrationsthema widmen. Die Realisierung all dessen, was er vorschlägt, benötigt Zeit und einen überaus kräftigen politischen Willen. Es gibt freilich im vorderen Teil der politischen Bühne eine Art „Konstellation“, die vorab abzuräumen wäre. Der „Mister 5-Prozent“ an der Spitze des Bundesfinanzministeriums hat sich dieser Tage an dieser Konstellation zu schaffen gemacht.

    Der „Gesamtstaat“ müsse auch dadurch entlastet werden, dass Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die Gesundheitsausgaben für nach Deutschland Flüchtende überprüft würden. Und ganz Schlaue wollen Überweisungen von Asylsuchenden in die jeweilige Heimat unterbinden. Denn auch das gehöre zu den sogenannten „Pullfaktoren“, die Immigration förderten. Die Bundesregierung stochert in dieser Frage im Nebel herum, wie die Bundespressekonferenz am 6. Oktober hinlänglich zeigte. Sie hat keine Ahnung und keine anständige Quelle hierzu. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regierungspressekonferenz-vom-6-oktober-2023-2228156

    Was lernt Mensch aus solchen Abläufen und Diskussionen? Man kann mit Einspardiskussionen und Herumgezerre an Leistungsgesetzen, die zudem durch Verfassungebote belegt sind, keine Migrationsdebatte gewinnen. Denn was einem „Mister 5-Prozent“ vernünftig erscheint, halten die 20-Prozenter der Weidels und Chrupallas für Killefitt. Und das kommt unter die Leute.

    Mir fehlt, kurz gesagt, in dieser Debatte mit ihren Ressentiments der Stolz der Demokraten auf den Zivilisations-Standard in Deutschland. Der Stolz mag die auf dem rechten Flügel nicht beeindrucken, er hält aber die in der Mitte und auf der echten linken Seite zusammen.

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