Pessimistische Blicke, nostalgische Seufzer im Nachbarland

In Hamburg-Blankenese versuchten sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz fröhlich lachend an Fischbrötchen und gelobten sich nach einer zweitägigen gemeinsamen Kabinettssitzung „gegenseitige Faszination“. In der „Süddeutschen Zeitung“ geißelte der Schriftsteller und frühere Verlagsboss des Frankfurter Fischer Verlags, Jörg Bong, „Baerbocks Verachtung“, weil die Goethe-Institute in Bordeaux, Lille und Straßburg geschlossen werden sollen (vier weitere von Paris bis Toulouse bleiben bestehen). Und am selben Tag (11.Oktober) veröffentlichte die Zeitung „Le Monde“ eine Umfrage unter unseren Nachbarinnen und Nachbarn: Sie bestätigt, dass die Franzosen an der guten Laune bei Fischbrötchen und der angeblichen „katastrophalen Ignoranz“ der deutschen Außenministerin an Goethe-Instituten kein Interesse haben. Das diesjährige Stimmungsbild eines führenden Forschungsinstituts belegt vielmehr eine tiefe Unzufriedenheit der Befragten mit der Demokratie, eine wachsende Wut und eine ebenso wachsenden Neigung, die rechtsradikale Marine Le Pen vom „Rassemblement National“ für regierungsfähig zu halten.

Seit zehn Jahren befragen Ipsos-Sopra Steria für Le Monde, die Jean Jaurès-Stiftung, das Forschungszentrum von Sciences Po (Cevipof) und das Institut Montaigne 1500 repräsentative Personen ab 18 Jahren über französische Brüche oder Verwerfungen (fractures francaises). Die dramatischen Veränderungen in diesem Herbst spiegeln die monatelangen, harten Auseinandersetzungen über die Rentenreform Macrons wider, die er letztlich nur über eine Ausnahmeregelung am Parlament vorbei durchsetzen konnte. Spuren hinterließ aber auch der gewalttätige Aufruhr im gesamten Land nach der Erschießung des 17jährigen Nahel durch einen Polizisten und das Video, das diese Tat bewies.

Kaufkraft ist die größte Sorge

Innerhalb von zwei Jahren ist die Stimmung im Land gekippt. „Wütenden Protest“ äußerten 2021 31 Prozent der Befragten, jetzt (September 2023) waren es 45 Prozent. Die Zahl der allgemein Unzufriedenen lag bei 51 Prozent. Die Preise, die Inflation und niedrige Löhne treiben die Französinnen und Franzosen um: Für 46 Prozent ist daher die Kaufkraft (pouvoir d’achat) die größte Sorge. Der Krieg in der Ukraine, die Arbeitslosigkeit, die terroristische Bedrohung, die Migration oder die Zukunft des Schulsystems interessieren fünf bis sieben Prozent der Befragten, obwohl die Schulen seit Wochen in den Schlagzeilen sind und Präsident Macron sie nach den gewalttätigen Krawallen, an denen sich viele sehr junge Kids aus den Vorstädten beteiligten, zur Chefsache erklärt hat.

An dem Stimmungsbild fällt auf, dass sich die unzufriedenen und schlecht gelaunten Nachbarn mit der Gegenwart und drängenden Problemen wie dem Klimawandel eher weniger auseinandersetzen. 82 Prozent meinen, dass es mit ihrem Land bergab gehe, 34 halten diese Entwicklung für unumkehrbar. Zu diesem pessimistischen Blick passt auch der nostalgische Seufzer, dass früher alles besser war: Ihn teilen im übrigen nicht nur die Rentner, sondern auch die unter 35jährigen. Zu den „Werten der Vergangenheit“ gesellt sich in diesem Herbst der überwältigende Wunsch der Französinnen und Franzosen nach „einem echten Chef zur Wiederherstellung der Ordnung“: 82 Prozent der Befragten wünschen sich eine autoritäre Führung. Wo sie herkommen soll, bleibt im Ungefähren, denn den politischen Parteien und den gewählten Abgeordneten im Parlament misstrauen die Befragten. Das Vertrauen in Emmanuel Macron liegt in diesem Herbst bei 34 Prozent.

Welch ein Erfolg für Marine Le Pen

Foto: Jérémy-Günther-Heinz Jähnick auf wikimedia commons

Ausgezahlt hat sich dagegen das sittsame und staatstragende Verhalten der Rechtsradikalen unter Marine Le Pen während der teilweise grobschlächtigen Rentenauseinandersetzung im Parlament. Ihre Partei, den Rassemblement National, halten inzwischen 44 Prozent der Franzosen für fähig, das Land zu regieren (2019 waren es 33 Prozent), nicht zuletzt weil diese Partei nahe an den eigenen Sorgen sei: So sagen es heute 40 Prozent, vor drei Jahren waren es nur 29 Prozent. Welch ein Erfolg für Marine Le Pen, die seit einem Jahr mit allen Mitteln der Propaganda das Bild der nationalen Kümmerin pflegt. So stellen auch die Meinungsforscher Schritt für Schritt und Jahr für Jahr eine Veränderung fest. Zwar seien nach wie vor Zweidrittel der Franzosen überzeugt, das die Partei Le Pens rechtsradikal sei, aber es wird ihr zunehmend eine Regierungskompetenz zugetraut.

Das gilt für die andere Seite im politischen Parteienspektrum nicht. Die „Unbeugsamen“ des linksextremen Volkstribuns Jean-Luc Melenchons gelten 57 Prozent der Befragten als eine Gefahr für die Demokratie, die die Gewalt schürten (60 Prozent bejahen das). Auch die jüngsten Inszenierungen dieser Partei in der Nationalversammlung lehnen die Franzosen ab. Mit ihren Tumulten und ihrem Boykottverhalten während der Rentenauseinandersetzungen hätten die „Unbeugsamen“ ein schlechtes Bild abgegeben (die rechten Republikaner schneiden dabei nicht viel besser ab). Für jeden zweiten Franzosen spielen die Melenchonisten im Parlament eine zu radikale Rolle.

Schlechte Laune und Neigung zu Protesten

Vertrauen genießen im Augenblick in unserem Nachbarland nur noch wenige Institutionen: Mit 43 Prozent liegt die EU an der Spitze. Ein historisch einmaliges Ergebnis. Und auch die Gewerkschaften sind aus den Demonstrationen gegen die Rentenreform gestärkt hervorgegangen: 40 Prozent der Befragten vertrauen ihnen, vor vier Jahren waren dies 12 Prozent weniger. Mit 33 Prozent erhalten die Medien einen Vertrauensvorschuss vor den sogenannten sozialen Medien.

Der Blick zurück auf Zeiten, in denen angeblich alles besser war, blockiert den Blick nach vorn, auf den Klimawandel und die ökologischen wie sozialen Herausforderungen? Diese Fragen lassen sich die Französinnen und Franzosen stellen, schieben aber die Verantwortung gerne auf die Wirtschaft und den Staat: 36 Prozent meinen, dass die Unternehmen ihre Produktion umstellen müssten. Veränderungen in der eigenen Lebensgestaltung halten nur 29 Prozent für wichtig. Die schlechte Laune und die Neigung zu wütendem Protest überwiegen noch. Ob angesichts dieser deprimierenden Lageschreibung seines Landes voller düsterer Aussichten Emmanuel Macron das Fischbrötchen in Blankenese geschmeckt hat?

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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