Klitterungen. Slavoj Žižek und sein „seltsames Analyseverbot“

Slavoj Žižek, 2015 (Foto: Amrei-Marie auf wikimedia commons)

Bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit Slowenien als Gastland war der Philosoph Slavoj Žižek einer der Redner auf der Auftaktveranstaltung. Er machte den Krieg zwischen Israel und der Hamas, zu dem auch die Vorrednerinnen bereits Statements abgegeben hatten, zu seinem Thema. Seine Ausführungen führten zu erheblicher Unruhe im Saal und bei den anwesenden Repräsentanten der Stadt Frankfurt. Besonders der hessische Antisemitismus-Beauftragte, Uwe Becker (CDU), brachte seine Empörung hörbar zum Ausdruck. Anschließend äußerte sich der Direktor der Buchmesse Juergen Boos erleichtert, dass die Rede bis zu ihrem Ende gehalten werden konnte. Die Frankfurter Rundschau fand, Becker sei zu weit gegangen. Sie veröffentlichte das Redemanuskript mit Zustimmung des Autors. Ich sehe hingegen wichtige Argumente, Uwe Becker zu danken, dass er die auf Festveranstaltungen zu übende vornehme Zurückhaltung aufgab und die Provokation publik machte.

Gleich zu Beginn erklärte Žižek, dass er den Angriff der Hamas ohne Wenn und Aber verurteile. „Ich gebe Israel das Recht, sich zu verteidigen und die Bedrohung zu vernichten.“ Er wolle allerdings auf ein „seltsames Analyseverbot“ aufmerksam machen. Wer es für notwendig erachte, den Hintergrund der Situation zu analysieren, werde in der Regel beschuldigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen.

Richtig scheint zu sein, dass es Analysen des Nahostkonflikts gibt, die solche Vorwürfe auf sich ziehen (Pamphlete mit pseudowissenschaftlichem Anstrich sind hier nicht gemeint). Zu ergänzen ist, dass es andere, von Žižek nicht erwähnte Analysen des Nahostkonflikts gibt, denen umgekehrt vorgeworfen wird, den Zionismus und eine angebliche israelische Apartheidpolitik zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Das behauptete Analyseverbot scheint vor allem deshalb seltsam zu sein, weil es niemanden beeindruckt und von niemandem befolgt wird.

Das Ziel: Eine Zweistaatenlösung zunichte machen

So operiert Žižeks Eingangsthese mit einer doppelten Unterstellung: dass Analysen des Konflikts logischerweise der palästinensischen Sache zuträglich wären und dass sie zweitens deswegen unterdrückt würden. Hat er die unzähligen Essays, Studien und wissenschaftlichen Publikationen übersehen, in denen die Lage der Palästinenser zumeist ausführlich und oft mit viel Sympathie behandelt wird? Oder wollte er sein Publikum manipulieren, indem er sich dieser Rhetorik bediente? Žižeks Einstieg irritiert, da er sich selbst bei vorhandenen (und keineswegs unterdrückten) Analysen informiert hat, oft von kritischen israelischen Autor:innen.

In seiner Rede folgte ein Parallelschluss der einfachen Art: So wie die Definitionsmacht über Antisemitismus bei den Juden liege, müssten auch die Palästinenser bestimmen dürfen, „wer ihr Land stiehlt und sie ihrer elementaren Rechte beraubt“. Für eine Begründung dieser stark vereinfachten Gegenüberstellung nahm er sich keine Zeit, der nächste Vergleich wartete schon. Am Tag des Massakers habe der Sprecher der Hamas, Ismail Haniyya, unmissverständlich die Vertreibung aller Israelis zum Ziel seiner Organisation erklärt. „Ekelhaft“, fand Žižek, aber die jetzige Regierung Israels erhebe ebenfalls einen – jüdischen – Alleinanspruch auf das Land, der eine Verhandlungslösung ausschließe.

Die Gründergeneration Israels, fuhr Žižek fort, habe immerhin nicht verhehlt, das Land den Palästinensern weggenommen zu haben. Dann habe es das Konzept Land für Frieden gegeben, in dem ein eigener Palästinenserstaat vorgesehen war. Selbst der Mauerbau an der Grenze zum Westjordanland zeuge noch von der Anerkennung einer besonderen Einheit unter palästinensischer Verwaltung. „All dies löste sich in Luft auf“. Dieser kurze historische Abriss soll wohl den Hintergrund liefern, dessen Tabuisierung Žižek bekämpfen will. Er ist einseitig und folglich falsch, schockierend falsch angesichts der Ereignisse, die am 7. Oktober gerade erst geschehen sind. Denn diese Darstellung unterschlägt die meist terroristischen Interventionen, mit denen palästinensisch-arabische und proiranische Kräfte eingegriffen haben, nicht aus Verzweiflung, sondern mit Berechnung. Das Ziel war immer, eine Zweistaatenlösung oder Abkommen Israels mit den Nachbarländern oder eine road map oder auch eine Autonomiebehörde zunichte zu machen.

“Antisemitischer Zionismus”

Es gab mindestens zwei führende Akteure im Nahen Osten, Anwar as-Sadat und Yitzchak Rabin, die mit allem, was ihnen möglich war, versucht haben, im Nahostkonflikt eine grundsätzlich andere, zukunftsweisende Richtung einzuschlagen. Beide wurden ermordet. Die dritte Persönlichkeit, die in dieser Reihe zu nennen ist, war Yassir Arafat. Um zu überleben, arrangierte er sich bei vielen Anlässen. In diesem politischen Freiraum wuchs und wucherte Hamas. Die drei Namen repräsentierten jeweils starke Kräfte im eigenen wie auch im gegnerischen Lager und auf internationaler Ebene, die auf eine friedliche Lösung drängten. Wer die damaligen Schlüsselereignisse, ihre Urheber, deren Motive und vor allem: die Reaktionen darauf mit keiner Silbe erwähnt, darf sich nicht wundern, wenn er nicht ernst genommen wird.

Yitzhak Rabin, Bill Clinton, Yasser Arafat at the White House 1993-09-13
(Foto: Vince Musi / The White House auf wikimedia commons)

Žižek erwähnte den innenpolitischen Konflikt um Netanjahus Justizreform und den heftigen Widerstand der israelischen Opposition gegen den „Weg in die Diktatur“. Mit dem Hamas-Angriff sei die Krise zumindest vorübergehend überwunden, „der Geist der nationalen Einheit hat sich durchgesetzt – ein klassischer politischer Schachzug, bei dem die innere Spaltung überwunden wird, wenn sich beide Seiten gegen einen äußeren Feind verbünden“. Was soll uns diese mehrdeutige Formulierung sagen? Dass die Bürgerinnen und Bürger Israels jetzt zusammenrücken, ist kein Schachzug ihrer Regierung, sondern die erste Reaktion auf das, was ihnen angetan wurde.

Im nächsten Abschnitt wandte sich Žižek sowohl gegen ein Verständnis für „Elemente des Antisemitismus unter den Palästinensern“ als auch gegen ein Verständnis für „die israelische Besatzung“. Bei der Verteidigung der palästinensischen Rechte wie auch bei der Bekämpfung des Antisemitismus dürfe man keine Kompromisse schließen, sondern man solle „in beide Richtungen bis zum Ende gehen“. Denn diese beiden Kämpfe seien „zwei Momente desselben Kampfes“1.

Das mag als abstrakte Konstruktion gut gemeint sein, und wir kennen ja viele solcher Konstruktionen, wonach man über das eine nicht reden soll, wenn man zu dem anderen schweigt. Doch die Überraschung folgte auf dem Fuß. Um die These von ein und demselben Kampf zu untermauern, führte Žižek ein von ihm als „antisemitischer Zionismus“ bezeichnetes Phänomen an, wozu er religiöse Fundamentalisten in den USA, den norwegischen Terroristen Anders Breivik und den deutschen Nazi Reinhard Heydrich (1904 – 1942) zählte, seinerzeit Chef der berüchtigten Geheimen Staatspolizei Gestapo. Der SS-Mann soll die Idee eines jüdischen Staates befürwortet haben?

Ein neurechtes, geschichtsfälschendes Narrativ

Reinhard Heydrich
(Foto: Archibald Tuttle auf wikimedia commons)

Einen Wortlaut von Heydrich gab Žižek nicht wieder, auch eine Quelle nannte er nicht. Da schämt man sich als Zuhörer, weil man vielleicht eine allgemein bekannte Tatsache übersehen oder vergessen hat? Auf der Suche nach einem entsprechenden Zitat stoßen wir auf einen markigen Satz, den Heydrich 1935 im Kampfblatt der SS, „Das Schwarze Corps“, von sich gegeben haben soll: „Als Nationalsozialist bin ich Zionist“. Ein gefundenes Fressen für Antizionisten von ganz rechts bis ganz links: Dann ist der Zionismus noch schlimmer als gedacht? Und umgekehrt: Die Ausrottung der Juden lag vielleicht gar nicht in der Absicht der SS?

Das Zitat wurde von Günther Deschner (1941 – 2023) ausgegraben, der 1977 eine Heydrich-Biographie publizierte. Deschner war ein weit rechts stehender Journalist, der zum Netzwerk GRECE des rechtsextremen Franzosen Alain de Benoist gehörte. Der Biograph kann seine Bewunderung für Heydrichs „unbändige Vitalität“, „Effizienz, Perfektion und Macht“ nicht unterdrücken, einen Anflug von Grauen lässt er nicht erkennen. Die „Endlösung der Judenfrage“ habe Heydrich organisiert, obwohl er „die Zionisten bewunderte“. Er sei eben eine sehr „zerrissene Persönlichkeit“ gewesen, schließt Deschner mitfühlend.

Doch das ist nicht Žižeks Quelle. Mittlerweile hat er im Freitag (paywall) eine umfangreiche Rechtfertigung veröffentlicht. Dort nennt er Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf – Die Geschichte der SS, 1966, als die Stelle, wo er Belege über Heydrichs „zionistischen Antisemitismus in seiner reinsten und deutlichsten Form“ gefunden habe. Höhne ist auch nicht besser, sprich: zuverlässiger als Deschner. Bei dem ehemaligen Spiegel-Redakteur Höhne, der sich von der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Abwehrangehöriger inspirieren ließ, findet man Relativierungen, Entschuldigungen und Umdeutungen der Nazizeit in ihrer reinsten und ursprünglichen Form, nämlich im westlichen Nachkriegsdeutschland. Dieser Autor scheiterte bspw. mit dem durchsichtigen Versuch, die Waffen-SS von einer Beteiligung an den Konzentrationslagern freizusprechen.

Höhne gibt Heydrich wie folgt wieder (das ist die Passage, die Žižek jetzt zitiert): „Die Zionisten bekennen sich zu einem streng rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren eigenen jüdischen Staat aufzubauen. / … / unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen.“ Aus diesem Satz geht lediglich hervor, dass Heydrich 1935 Zionisten als nützliche Gehilfen für seinen Auftrag betrachtete, Deutschland und dann Europa „judenfrei“ zu machen. Für die unerbittliche Durchsetzung dieses Projekts seien alle, auch „vorläufige“ Mittel zu nutzen, wie er seine Mitarbeiter wiederholt einschwor, Emigration, Zwangsumsiedlung, Deportation und schließlich Vernichtung.

Die Geschichte von Heydrichs „Wohlwollen“ wird von wissenschaftlich arbeitenden Historikern ausdrücklich nicht geteilt, sie ist ein neurechtes, geschichtsfälschendes Narrativ. Der Ideologiekritiker Žižek geht hier eine ideologische Querfront zu Autoren ein, die sonst nicht zu seiner bevorzugten Lektüre gehören. Freilich gibt es in der Palästina-Solidarität seit jeher solche Querfronten2, man ist daran gewöhnt, dass der Zweck die Mittel heiligt und es fällt gar nicht mehr besonders auf.

Ein fast schon pathologischer Vergleich

Auch scheint Žižek nicht verstanden zu haben, was es bedeutet, dass Heydrich als Leiter des Reichssicherheitshauptamts der oberste Geheimdienstler der Nazis war. Er war also nicht nur gefürchtet für Bespitzelungen, falsche Verdächtigungen, Festnahmen im Morgengrauen und Morde in Folterkellern, sondern auch für Desinformation, Ablenkung, Täuschung und psychologische Kriegsführung. Oft wird vergessen, dass die Nazis versuchten, ihre „Endlösung“ bis zuletzt geheimzuhalten, dass sie von Umsiedlung in städtische Zentren sprachen statt von Deportation in Ghettos oder Konzentrationslager und von Arbeitseinsatz im Osten statt von Vernichtung. Da waren ein paar Kontakte und Geschäfte mit zionistischen Büros nützlich, um den eliminatorischen Antisemitismus zu verschleiern.

Immerhin hat es ein Vierteljahrhundert nach Heydrichs Tod gebraucht, bis irgendwer auf seine vermeintlichen zionistischen Sympathien aufmerksam geworden ist und trotz der bekannten Neigung zu Intrigen aller Art im NS Führungszirkel sind entsprechende Sticheleien oder Andeutungen gegenüber Heydrich nicht überliefert. Er war eben ganz und gar nicht für Sympathie bekannt, schon gar nicht gegenüber Juden.

Bekannt war und bleibt Heydrich als Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, zu der er die Vertreter der zentralen Reichs- und Parteibehörden eingeladen hatte, um sie „in die langfristig angelegten Pläne einzuweihen, die die ‚Endlösung der Judenfrage’ herbeiführen sollten“ (Dokumentation der Berliner Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz). Die Entscheidung zum Massenmord an den europäischen Juden war da schon gefallen; Hermann Göring, die Nummer Zwei in der NS Hierarchie, hatte Heydrich am 31. Juli 1941 mit der Durchführung beauftragt. Die Tötungsmaschinerie war angelaufen: zum Zeitpunkt der Konferenz hatte sie bereits eine halbe Million Opfer gefordert.

Heydrich war weder zu diesem noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt ein „antisemitischer Zionist“. Wie ist es möglich, einen Architekten des Holocaust als jemanden zu präsentieren, der mit der Idee des Zionismus sympathisiert habe? Mit diesem fast schon pathologischen Vergleich hat Žižek seiner eigenen Philosophie einen schweren Schlag versetzt. Es ist Uwe Becker zu verdanken, dass er die auf Festveranstaltungen zu übende vornehme Zurückhaltung aufgab und die Provokation publik machte.


1  Tags darauf wurde Žižek in einem Kommentar für den Wiener Standard (18.10.) noch deutlicher: „Hamas und israelische Hardliner sind zwei Seiten einer Medaille.“

2  Deutsche Nazis halfen z.B. dem Schwarzen September bei der Vorbereitung des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München. Ein Jahrzehnt später trainierte die Wehrsportgruppe Hoffmann in einem libanesischen Militärlager der Fatah.

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Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

2 Kommentare

  1. Kein Analyseverbot – aber ein Analyse-Gebot …
    Zunächst nur eine persönliche Beobachtung: Bei einer Gedenkveranstaltung gestern, dem 9. November, auf dem Alten Synagogenplatz in Heidelberg sprach der Rabbi der hiesigen Jüdischen Gemeinschaft. Natürlich kam er u.a. auch auf den 7. Oktober dieses Jahres zu sprechen. Und erwähnte, dass es “natürlich vorhersehbar” gewesen sei, dass das von der Hamas verübte Pogrom weltweit zu noch mehr Judenhass führen würde. Heute, einen Monat später, nicken wir natürlich alle: natürlich war das vorhersehbar – wirklich? Ich bin zwar studierter Politikwissenschaftler, und vielleicht war (oder bin) ich dennoch etwas naiv, aber ich erinnere mich, dass ich das so nicht vorhergesehen habe oder zumindest nicht so “natürlich” fand (und finde): Warum waren die Reaktionen, auch in der arabischen Welt, bei Musliminnen, bei Palestinenserinnen, in der globalen Linken etc. nicht die: Das (der Terror, das Pogrom der Hamas) geht nun wirklich zu weit, das geht gar nicht, nicht in unserem Namen, das sind nicht unsere Methoden, so kann man auch berechtigte Anliegen nicht erreichen etc. etc. Woher kommt es also, dass dies nicht die Reaktionen waren? Sind die tatsächlichen Reaktionen denn wirklich “natürlich”? Bzw. was genau sind die Gründe dafür? Die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik (die “natürlich” kritisiert und sogar bekämpft werden darf und muss) erscheint mir als Erklärung für das Pogrom und die vielfache Zustimmung dazu – von der Sonnenallee über Djenin bis nach Washington – nicht ausreichend. “Natürlich” (?) gibt es Antisemitismus – aber das ist nicht ausreichend, um zu erklären: warum jetzt, warum so breit? Hier besteht – meine ich – ein massiver Bedarf, ja das Gebot nach genaueren Analysen …

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