Die Weitsicht, die das Bundesverfassungsgericht nicht hatte

Stellen Sie sich bitte vor, der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hätte mit Blick auf die Merz&Co-Klage zur Verfassungskonformität der Verschuldenspolitik von Legislative und Exekutive erklärt:
Wir haben haben grundlegende Bedenken, die wir zunächst zurückstellen. Bundestag und Bundesregierung müssen aber innerhalb der laufenden Legislaturperiode eine vom Grundgesetz vollständig getragene sowie in der Zukunft für übergreifende Probleme taugliche Lösung finden. Wir stellen unsere gravierenden Bedenken vorübergehend zurück, weil wir nicht ausschließen können, dass die Folgen eines Finanzierungsverbots nicht kalkulierbare soziale, wirtschaftliche und die Klimaverbesserung schwächende Konsequenzen haben könnten. Charakteristikum der gegenwärtigen Situation ist für uns, dass uns eine überzeugende Folgenschätzung fehlt und wir uns daher jetzt einer Entscheidung verschließen müssen, wie sie vom Antragsteller gefordert wird…

Wir erinnern in diesem Rahmen an unseren verstorbenen Richterkollegen Ernst-Wolfgang Böckenförde, der sagte: ‚Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.‘ Wir folgen diesem Satz in seinem geistig- kausalen Zusammenhang, fügen heute hinzu: Als Teil des freiheitlichen und säkularisierten Staats wollen wir einen Teil der grundlegenden Bedingungen nicht zerstören.“ Ende.

Ernst-Wolfgang Böckenförde 1986 (Foto: Lothar Schaack auf wikimedia commons)

An der grundsätzlichen Position der Karlsruher hätte sich nichts geändert. Geändert hätte sich, dass Herr Gujer, der erzkonservative Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung es nun endgültig über sich gekriegt hätte. Das hätten wir überstanden. (Gujer bringe das Kunststück fertig, schrieb die Süddeutsche Zeitung, als Schweizer so deutschnational zu poltern, wie es in Deutschland selber niemand diesseits der AfD kann.) Möglicherweise wäre der Verbrauch an Blutdruck senkenden Mitteln auf den Führungsebenen der Unionsparteien gestiegen (da wäre ein „gute Besserung“ angebracht gewesen), aber in den Führungsetagen der Unternehmervereinigungen und in den Unternehmen wäre er gesunken. Aber so war es eben nicht. Ob gelingt, was sich die Fraktionen der Ampel-Koalition und die Bundesregierung als Ersatz für die als gesetzlos erklärten Sondertöpfe nun vorstellen, ist ungewiss.

  • Gewiss ist, dass die Preise auf den Ausstoß von CO 2 steigen werden. Jedes Jahr. Im Wohnungs-, Verkehrs-, Bekleidungs- und Ernährungsbereich werden tiefgreifende Änderungen bezogen auf den Verbrauch kommen. Daher muss spätestens ab 2025 – wie fest versprochen -, den Bürgerinnen und Bürgern ein sogenanntes Klima-Geld als Kompensation für steigende Preise auf den CO 2 -Ausstoss gegeben werden. Mit einem Gegenwert von zwei Tankfüllungen wird es nicht getan sein.
  • Sicher ist auch, dass der Umbau in den Unternehmen in Richtung Klimaneutralität viel, viel Geld kosten wird. Alleine werden die meisten, vorwiegend mittelständischen Betriebe das nicht leisten können – es wird Zuschüsse, verbilligte Kredite und Steuererleichterungen geben müssen.
  • Sicher ist, dass beträchtliche Teile der Infrastruktur mit Blick auf die Klimaneutralität erneuert werden müssen.
  • Sicher ist ferner, dass mehr und besser bezahlte, zudem sehr gut ausgebildete Beschäftigte in Kindertagesstätten, auf den Sozial- und Jugendämtern, in den Grund- und weiterführenden Schulen da sein müssen, um die die Grundlagen zu legen, damit der Umbau von der Personalseite her betrachtet, gelingen wird.
  • Gewiss ist, dass für die Sicherung und Qualifizierung von Krankenhäusern viel Geld in die Hände genommen werden muss.
  • Absehbar ist – last but not least-, dass die Sicherung und der Ausbau der Altenpflege enorm viel Geld kosten wird.

Heute ist davon nichts wirklich gesichert. Es ist zum Lachen, was da von der Opposition als Alternative geboten wird: Das Bürgergeld verringern. Migrationskosten senken. Der CDU-Haushälter Mathias Wolfgang Antonius Middelberg sagt, wenn der Bundesarbeitsminister eine Million Arbeitsplätze schüfe, würden 30 Milliarden Euro eingespart. Sag, wie man das macht, Meister Middelberg, und fang an damit im deutschen Bundestag.

Das ist die Lage. Die eingangs skizzierte Weitsicht hatte das Bundesverfassungsgericht nicht. Was nun kommt und geleistet werden kann, wissen wir nicht.

Siehe auf bruchstuecke auch den Beitrag “Die Verfassungs-Schreiner und ihr Sondervermögen“.

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Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

3 Kommentare

  1. Es ist doch momentan so, dass der Staat alles finanziert: das schädliche Alte, siehe klimaschädliche Milliarden-Subventionen, ebenso wie klimapolitische Fortschritte, siehe öffentlichen Fern- und Nahverkehr, ebenso wie klimapolitisch sehr Fragwürdiges wie E-Autos, was einer Subventionierung von Wohlhabenden und Reichen gleich kommt.
    Die Devise: Wir wollen alles ändern, aber niemandem vergrätzen, der auch nur ein bisschen Einfluss und Macht in diesem Land hat, ob Vielflieger, Autoproduzenten oder tatsächlich unter Heizkosten leidende Bedürftige.
    Könnte das Urteil nicht doch helfen, dass sich politische Parteien endlich ehrlich und damit auch überzeugend positionieren müssen, endlich gezwungen sind, Prioritäten zu setzen, zu sagen, was NICHT geht und diese unglaubwürdige Trippel-Reform-Politik des Sichdurchwurstelns und des sowieso unglaubwürdigen Wirwerdenallenmundgerecht der Merkel-Ära hinter sich lassen müssen.
    Diese Hoffnung verbinde ich mit diesem Urteil. Ein Gericht hat in einer elementaren Frage gut begründet klare Kante gezeigt. Ein Wert an sich und etwas, was die gesamte politische Elite meidet, weshalb sie so unglaubwürdig zu werden droht, wenn sie es nicht schon ist. Vielleicht wird dieses Urteil zum Geburtshelfer für eine neue, den existentiellen Herausforderungen angemessene Art von Politik.

  2. Lieber Wolfgang Storz, der Anteil des Staates an den gesamtwirtschaftlichen Investitionen liegt, wenn ich das richtig im Kopf habe, um die 14 Prozent. Das ist mit Blick auf die Ersatz (Brutto)-Investitionen in die Infrastruktur nicht berauschend. Es ist auch nicht überwältigend viel mit Blick auf neue Betätigungsfelder – Digitalisierung, Förderung neuer Technologien etc.

    Schaut man sich die Abfluss- Situation der Investitionsmittel des Staates an, kann einem schwindlig werden, weil Teile der öffentlichen Verwaltung nicht in der Lage sind wegen fehlender Planung, fehlender Sachkunde und fehlendem Personal Investitionsmittel los zu werden. Echte Engpässe. So komisch es klingt: Diese Engpässe lassen sich nur durch mehr Geld überwinden. Werden die einzelnen Haushalte um die nicht ausgegebenen Mittel gekürzt, wird noch weniger umgesetzt. Aber darum ging des Karlsruhe ja nicht.

    Man muss sich die Dinge im Zeitablauf vor Augen Halten, dann wird das aus dem Karlsruher Urteil resultierende Drama deutlich. Bund, Länder und Sonstige einigen sich darauf, in der Zukunft mehr Mittel für die Umrüstung auf klimaschonende Verfahren bereit zu stellen. Unternehmen beginnen, eine solche Unterstützung in ihre Wirtschaftspläne (Personal, Gebäude und ergänzende externe Finanzierung) einzuarbeiten. Die Beschlussfassung über eine solche Unterstützung der meist mittelständischen Unternehmen stockt. (Wirtschaftspläne müssen umgearbeitet, eventuell Alternativen entwickelt werden). Das geschieht in hunderten Unternehmen. Da stecken die Probleme, die durch Karlsruhe ausgelöst wurden. Entscheidungsunsicherheit, Entscheidungsaufschub und so weiter. Die Dinge müssen aufeinander passen, damit sie funktionieren.

  3. Lieber Klaus Vater, Du hast sicher in allem recht. Auf kurze Frist allemal.
    Aber Du kennst besser als ich die Reichweite einer staatlichen Investition/Subventionierung und/oder die Wirkung einer Unterlassung und allein die Wirkung der jährlich etwa 500 Milliarden Euro an öffentlichen Beschaffungen. Da wird von öffentlichen Institutionen sehr viel gelenkt und gesteuert.
    Wenn das Urteil zu Prioritäten und Klarheiten führt, diese erzwingt, die es bisher nicht gab, dann könnte es doch sein, dass es nach dieser von Dir völlig richtig skizzierten Phase der Desorientierung viel klarer und überzeugender und wuchtiger weitergehen könnte.

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