Verordneter Philosemitismus: Die deutsche Nahostpolitik sieht nur die Vergangenheit

Bild: dimitrisvetsikas1969 auf Pixabay

Als ich früher bei der SPD über die Notwendigkeit einer wertegeleiteten Politik sprach, erwiderte eine junge Genossin: „Wir können Wahlen nur mit der Kernbotschaft gewinnen: mehr netto vom brutto.“ Damit werden die Triumphe Margaret Thatchers komplett. 1981 sagte sie: „Economics are the means; the object is to change the soul.“ Wenn wir voraussetzen, dass Menschen nur von materiellen Eigeninteressen getrieben werden, hat der Neoliberalismus unsere Seelen verändert. Denn Menschen werden nicht nur vom Fressen angetrieben, sondern ebenso von Moral – auch wenn das Fressen zuerst kommt. Damit die Menschen aber von Werten überzeugt werden, müssen diese Werte klar artikuliert und glaubwürdig vertreten werden.
Die Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, auf denen auch die Grundwerte der SPD beruhen, sind in verschiedenen religiösen Traditionen zu finden, doch erst die Aufklärer haben sie klar und übergreifend formuliert. Inzwischen ist die Aufklärung aber zum Objekt der Verachtung geworden. War sie nicht das Zeitalter der Menschenrechte, gleichzeitig auch der Sklaverei und des Kolonialismus?

Dieser Vorwurf verwechselt Korrelation mit Kausalität. Die Aufklärer waren Linksintellektuelle, die ihre Kämpfe bekanntlich nicht immer gewinnen. Aber sie waren die ersten, die den Kampf gegen Eurozentrismus, Sklaverei und Kolonialismus aufnahmen – oft unter Androhung von Todesstrafe, Gefängnis oder Exil. Auch wenn sie nicht alle Kämpfe sofort gewannen, so gewannen sie doch einige, und das hat später andere angefeuert.

Heute soll die Aufklärung schuld an vielen Sünden der Moderne sein nach der Ansicht einer sehr verbreiteten Mischideologie, die sich links nennt. Ich nenne sie lieber woke, oder postkolonial – zwei schwammige Begriffe, die überlappen. Woke ist ein Begriff, der inkohärent ist, weil er auf einer Spaltung von Gefühlen und Gedanken beruht, die uns alle verwirrt hat. Die Gefühle haben die Linke immer geleitet: auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, die Verbrechen der Vergangenheit wiedergutzumachen. Doch wird das von einem zutiefst reaktionären Gedankengut unterminiert. Wer tribalistisch statt universalistisch denkt, wer Macht ohne Gerechtigkeit sucht, wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgegeben hat – der ist nicht mehr links.

Vermutlich teilen die meisten hier mehr als Emotionen, sondern auch die linksliberalen Prinzipien des Universalismus, der Gerechtigkeit und des Fortschritts. Doch warum werden diese Werte nur noch als Sonntagsreden verworfen? Haben wir sie nicht glaubwürdig genug vertreten?

Der verordnete Antifaschismus der DDR

Im Fall der aktuellen deutschen Nahostpolitik müssen wir sagen: nein. Werte sind Ideen, die unsere Zukunft lenken sollen, aber die deutsche Nahostpolitik ist weder auf die Zukunft noch auf die Gegenwart gerichtet, sondern nur auf die deutsche Vergangenheit. Vor fünf Jahren schrieb ich ein Buch, das die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung lobte – nicht als völlig gelungen, geschweige dann vollendet. Doch ich hatte Respekt vor der ersten Nation, die ihre Verbrechen ins Zentrum ihrer historischen Narrativen gestellt hat. Bei den meisten Nationen warten wir noch darauf, dass sie ihre vergangenen Verbrechen anerkennen – denken wir an Spanien oder Polen. Aber in den letzten Jahren ist die deutsche Fixierung auf die Vergangenheit zu einer Leugnung der gegenwärtigen Realitäten geworden, die sich jede wertegeleitete Zukunft verbaut. Was dabei herauskommt, ist verordneter Philosemitismus.

Als ich zur Vergangenheitsaufarbeitung der DDR forschte, stolperte ich über den Begriff „verordneter Antifaschismus“: War es nicht richtig, dass einer vom faschistischen Gedankengut verseuchten Nation Antifaschismus verordnet wurde? Ich habe viele ehemalige Dissidenten aus dem Osten dazu interviewt. Sie erzählten, dass egal, was sie sonst in der DDR kritisierten, war der Antifaschismus echt und richtig, sicherlich für die erste Generation. Mit der Zeit aber wirkte der Antifaschismus tatsächlich verordnet, von Politik und Medien wiederholt, bis er hohl klang, leblos – und offen für grobe Instrumentalisierungen, wie etwa der Rede vom antifaschistischen Schutzwall.

Heute ist die bedingungslose Unterstützung von allem, was die israelische Regierung tut, auch problematisch. Neulich sagte mir ein Kollege, dass er, wenn nach einem Statement gefragt werde, zunächst die Schutzweste anziehe, indem er den Hamas-Terror scharf verurteile. Eine Schutzweste brauche ich nicht. Oder muss ich erzählen, wie ich zwei Tage lang vor Schock und Entsetzen sprachlos war, bis mir später einfiel, dass mich Hamas beinahe direkt getroffen hätte? Denn eine meiner Töchter – wir sind auch israelische Staatsbürger – hatte eine Reise nach Israel geplant, die sie kurzfristig verschieben musste. Da sie eben Raves mag, wäre sie auf dem das Supernova-Festival nahe dem Gazastreifen gewesen. „Klar,“ sagte sie, als wir telefonierten, „Das ist ein weltbekannter Rave, da wollte ich immer hin.“ Danach könnte ich nur zittern.

Bild: Screenshot ARD Tagesschau

Netanjahu: Nur Nationalismus und Machtansprüche

Ich war aber auch Philosophieprofessorin in Tel Aviv, als Netanjahu den Friedensprozess tötete. Er ist ausdrücklich in die Politik gegangen, um die Zweistaatenlösung zu verhindern. Seine Anhänger waren es, die Fotos von Rabin in SS-Uniform hochhielten, und die Rabin schließlich erschossen. Nun sitzen sie gemeinsam in einer Regierung, von der es nicht einmal Lippenbekenntnisse zu Menschenrechten gibt: nur Nationalismus und Machtansprüche, die auch Israels eigene Sicherheit, ebenso wie seine Werte, gefährden. Zu schweigen von den Gefahren, die davon für andere ausgehen.

Israelische und amerikanische Zeitungsleser wissen, dass der Friedensprozess absichtlich unterlaufen wurde, etwa von Netanjahus öffentlicher Unterstützung der Hamas. Heute sind die Mehrheit der Israelis der Meinung, dass am 7. Oktober auch das Sicherheitskonzept des Staates zerstört wurde. Selbst wenn es allein um den Schutz jüdischen Lebens ginge, können militärische Mittel Israel nicht retten ohne eine ernstgemeinte, von der internationalen Gemeinschaft geforderte politische Lösung. Deutschland ist Israels zweitwichtigster Partner. Vor dem Hintergrund seiner Nazi-Vergangenheit wäre eine deutsche Forderung nach einer politischen Lösung die einzig richtige.

So hat das Auswärtige Amt schon während der rot-grünen Regierung gedacht. An die Haltung der damaligen Regierung nach dem 11. September könnte man auch anknüpfen. Damals war ich froh, in Berlin zu sein, wo die Erschütterung und Mitgefühl für die Opfer von Al-Kaida auf den Straßen zu spüren waren. Selbst als die Bush-Regierung den Krieg vorzubereiten begann, sagten noch viele Berliner: man müsste Verständnis für das Trauma der Amerikaner haben. Die rot-grüne Regierung hat damals aber auch verstanden, dass Trauma keine Basis für eine vernünftige Außenpolitik ist und hat den Krieg gegen Irak in erfrischend undiplomatischen Tönen verurteilt. Der Philosoph Michael Walzer schrieb mir damals: Werden die Deutschen uns vor dem Krieg retten? Leider nicht, aber Deutschland war damals ein Leuchtturm für demokratisch denkende Menschen. Und damals war es noch möglich, zwei unterschiedliche Verbrechen zu verurteilen, ohne Angst zu haben, dass man dabei eines relativierte.

84 Prozent aller antisemitischen Straftaten hierzulande begehen weiße rechte Biodeutsche

Dagegen heute? Es ist wichtig, dass aus der deutschen Geschichte eine Verantwortung für Israels Sicherheit abgeleitet wird – wie auch immer man ‚Staatsräson‘ verstehen will. Aber die blinde Unterstützung dieser Regierung wird noch weniger zu Israels Sicherheit beitragen als die Unterstützung von Bushs Kriegen zum Weltfrieden beigetragen hätte. Jede wirksame Unterstützung Israels muss an die universellen Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekoppelt sein. Daher müssen diese Werte auch für Palästinenser gelten.

Seit den Osloer Friedensverhandlungen haben sich die israelischen Regierungen immer weiter von diesen Werten wegbewegt, doch die Regierung, die vor knapp einem Jahr gewählt wurde, tritt sie mit Füßen. Da ich an die Macht der Aufklärung glaube, dachte ich, dass die deutsche Politik mehr Informationen bräuchte, als meist in den hiesigen Medien vorhanden sind. Ich habe daher mit einigen führenden Politikern dieses Landes gesprochen. Ob sie z.B. wüssten, dass der Minister für Staatssicherheit nicht in der israelischen Armee dienen durfte, weil er von israelischen Gerichten als anti-arabischer Terrorist verurteilt wurde?
Ja, antworteten die Politiker, das wüssten sie. Es sei sehr traurig, sogar entsetzlich. Aber sie könnten nichts machen, auch nichts öffentlich sagen. Aber wenn nicht sie, wer denn sonst?

Glauben sie wirklich, dass diese Haltung das Leben der Juden – in Israel oder in Deutschland – sicherer macht? Ich selbst bekomme langsam Angst, weil ich überzeugt bin, dass diese einseitige Haltung zu einem Backlash führen wird. Wie kann Deutschland an einer Nahost-Politik festhalten, die so eindeutig mit seinen erklärten Werten und Interessen kollidiert? Hinter vorgehaltener Hand werden solche Fragen gestellt, während gleichzeitig der Kampf gegen Antisemitismus von rechts instrumentalisiert wird, um braune Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen – obwohl nach Berichten des Bundesinnenminsteriums 84 Prozent aller antisemitischen Straftaten von weißen rechten Biodeutschen begangen werden.

Gibt es Antisemitismus unter braunen Menschen? Natürlich, wie auch unter schwarzen und weißen, unter linken und rechten. Es gibt ihn bei allen, die nicht verstehen, dass der Universalismus die einzige Antwort auf jede Form des Rassismus ist. Antisemitismus ist eine Form des Rassismus, und kann nur mit allen Formen gemeinsam bekämpft werden. Dass Antisemitismus in vielen muslimischen Ländern verbreitet ist, wird niemand bestreiten. Aber warum wird immer noch über antisemitische Karikaturen auf einem indonesischen Bild gesprochen, während die Reichsbürger, die vor weniger als einem Jahr von 3000 Polizisten wegen eines geplanten Staatsstreichs verhaftet wurden, aus der medialen Berichterstattung fast verschwunden sind? Und warum wird die Angst vor dem Antisemitismus im Kulturbetrieb derartig thematisiert, während Deutschland gleichzeitig wirtschaftlich und energiepolitisch mit Qatar und Iran eng verbunden ist – den stärksten Unterstützern von Hamas? Die Verlagerung auf den Kampfplatz der Kultur beginnt der deutschen Kulturpolitik nach innen wie außen jede Glaubwürdigkeit zu nehmen. Es gibt bereits ausländische Kulturorganisationen, die die Förderung deutscher Stiftungen von ihren Webseiten verschwinden lassen, wie auch Wissenschaftler und Künstler, die keine Einladungen aus Deutschland annehmen wollen. Nicht nur Werte, sondern auch Pragmatismus sollten uns hier leiten: Deutschland isoliert sich gerade in der internationalen Gemeinschaft selbst.

In den USA mit Angst vor dem Antisemitismus groß geworden

Albert Einstein wird dieser Satz unterstellt: Immer das Gleiche zu wiederholen und andere Folgen zu erwarten ist die Essenz von Dummheit. Er hat ihn nicht gesagt, aber er stimmt trotzdem. Was wir statt einer Symbolpolitik (wie etwa neue parlamentarische Resolutionen) brauchen, sind gemeinsame Anstrengungen gegen jede Form der Diskriminierung und Gewalt auf der Basis von Grundwerten. Noch eine autobiographische Bemerkung, da oft behauptet wird, dass ich als jüdische Amerikanerin die Angst der deutschen Juden nicht verstünde. Doch entgegen hiesiger Annahme kommen nicht alle amerikanischen Juden aus New York. Ich bin im tiefsten Süden der USA geboren. Die letzten Juden wurden dort zwar vor meiner Geburt gelyncht – nicht so oft wie Afroamerikaner, aber immerhin. Auf unsere Synagoge wurde vom KuKluxKlan ein Bombenanschlag verübt, als ich ein Kleinkind war. Ich bin also mit der Angst vor dem Antisemitismus großgeworden, den es nicht nur in Deutschland sondern auch beim KuKluxKlan gab.

Ku klux klan, Mäerz 2020 (Foto: Volstand auf wikimedia commons)

Allerdings: es gab drei Synagogen in Atlanta, Georgia, und es hat einen Grund, warum unsere zum Terrorziel wurde. Der Rabbiner war ein Mitstreiter von Martin Luther King. Die meisten Juden waren zu verängstigt, um sich an die Seite der Bürgerrechtsbewegung zu stellen. Aber dieser Rabbiner (zusammen mit einigen wenigen Gemeindemitgliedern, darunter meine Mutter) hat es gewagt, im Namen der jüdischen universalistischen Tradition, die in der Bibel verankert ist. Bis heute gibt es eine tiefe Verbindung zwischen dieser Synagoge und der Ebenezer Baptist Church, der Kirche Martin Luther Kings. In dieser stolzen Tradition bin ich aufgewachsen. Sie lehrt uns: weil Juden Fremde in Ägypten waren, sollen wir uns immer auf die Seite der Fremden und Diskriminierten stellen.

Während der Osloer Friedensverhandlungen brachte ich Zwillingsmädchen zur Welt. Ich habe dem einem einen hebräischen, dem anderen einen arabischen Namen gegeben. Auch wenn sie selten einer Meinung sind, sind beide stolz auf diese Namensgebung – auch nach dem 7. Oktober, obwohl die Namen ihnen nun Schwierigkeiten von mehreren Seiten machen, in einer immer tribalistischer werdenden Welt.

Die universalistische jüdische Tradition ist die der großen deutsch-jüdischen Geister, deren Abwesenheit hierzulande ständig betrauert wird – ob Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Karl Marx, Eduard Bernstein, Albert Einstein, Walter Benjamin oder Hannah Arendt. Alle werden mit Briefmarken und Ausstellungen geehrt, während ihre moralischen und politischen Haltungen vergessen wurden.

Weil Einstein Sozialdemokrat war, sollte ihm in den USA das Einreisevisum verweigert werden. Weil er sich unermüdlich für die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner wie auch gegen den McCarthyismus eingesetzt hat, wurde er von der FBI bis zu seinem Tod verfolgt. Einstein kannte auch den Antisemitismus und glaubte deshalb, dass eine jüdische Heimat nötig sei; allerdings kein jüdischer Staat. Und dennoch schrieb er 1929 an Chaim Weizmann – ich schließe mit einem Zitat, das wirklich von Einstein kommt: „Falls wir zu einer ehrlichen Kooperation und ehrlichen Verträgen mit den Arabern nicht in der Lage sein sollten, dann haben wir absolut nichts aus unserer über zweitausendjährige Leidensgeschichte gelernt.“

Wir danken Susan Neiman für die Freigabe des Vortrags, gehalten zum 50. Jahrestag der SPD-Grundwertkommission, für bruchstuecke. Unter dem Titel „Philosophin Susan Neiman: Wer die Hoffnung auf Fortschritt aufgibt, ist nicht mehr links“ erschien der Text auch in der Frankfurter Rundschau.

Susan Neiman
Prof. Dr. Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Geboren in Atlanta, Georgia, studierte sie Philosophie an der Harvard Universität und der Freien Universität Berlin. Bevor sie 2000 die Leitung des Einstein Forums übernahm, war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Sie ist Autorin von neun Bücher, die bisher in fünfzehn Sprachen übersetzt wurden.

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