Strategien des Spaltens

Coverbild: Andreas Galling-Stiehler

[…] rette mich vor den Lügnern! Viel zu lange wohne ich schon hier, umgeben von Leuten, die den Frieden hassen. Ich selbst bin zwar auf Frieden bedacht, aber sobald ich auch nur den Mund aufmache, fangen sie schon einen Streit an!1 

Die Begabung der Menschen, in Gemeinschaft ein friedliches Leben zu führen, wird bisweilen von ihrer Leidenschaft für Feindschaften torpediert. Für das professionelle Ausleben von Feindschaften gibt es Strategien. Die Wortzusammensetzung und Herkunft aus dem Griechischen von stratós (Heer) und ágein (Führung) verrät den militärischen Ursprung des Wortes und der damit verbundenen Ideen. Dazu kommt, dass ágein auch verwandt ist mit agṓn, also der Bezeichnung für (Wett-)Kampf.2

In spielerischen und sportlichen Wettkämpfen ist die List sogar im abendländischen Denken ein probates Mittel. Doch allzu gern wird die listige Täuschung als Hinterlist auf die Hinterbühne des Strategischen verbannt. Ganz anders, so der Sinologe Harro von Senger, wird die List in China als „Strategem“ auch im alltäglichen Leben gewürdigt und praktiziert. „Jedes Strategem umfaßt vier Komponenten: Es ist ein (1) bewußt, (2) mit Schläue eingesetztes (3) Mittel, und zwar ein (4) außergewöhnliches, mit dessen Hilfe von einem Ausgangspunkt aus ein Ziel erreicht werden soll.“3

Den Tiger vom Berg in die Ebene locken

Senger weiß von 36 Strategemen als Arsenal von „Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden.“4 Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Kommunikationsstrategien. Je nach Situation gibt es Strategeme, um Realität zu fingieren oder zu verbergen. Auch an die Aufklärung in ungewisser Lage ist gedacht. Dieser spielerische Umgang mit dem Problem der „Fiktion der wahrscheinlichen Realität“5 ist so eindrucksvoll wie erhellend. Bereits sprachlich unterscheiden sich die Strategeme von europäischen Heldenmythen, Stahlgewittern und blutgetränkten Schlachtfeldern des kriegerischen Massenmords. In den Strategemen werden Schafe mit leichter Hand weggeführt (Nr. 12), Tiger vom Berg in die Ebene gelockt (Nr. 15), Tölpel gespielt (Nr. 27), die Rolle des Gastes in die des Gastgebers verkehrt und es darf in aussichtsloser Lage sogar weggelaufen werden (Nr. 36).

In Strategem Nr. 33 geht es um das Zwietrachtsäen. Es soll die List mit der größten Verbreitung sein. „Ist er [der Feind] geeint, dann spaltet man ihn“6, heißt es bereits im 12. Strategem der Lehren des chinesischen Militärstrategen Meister Sun, besser bekannt unter dem Titel ‚Kunst des Krieges‘, eine der Ursprungsquellen der Strategemkunde.

Aber nicht nur in China wird versucht, Feinde zu spalten. In Asterix’ 15. Abenteuer, „Streit um Asterix“7, beauftragt Julius Cäsar den Zwietrachtsäer Tullius Destructivus, das unbesiegbare gallische Dorf mit Mitteln der psychologischen Kriegsführung zu spalten. Destructivus beherrscht die Klaviatur des Spaltens lehrbuchhaft und verfolgt eine „mehrgleisige Spaltung des Feindes“8. Ganz wesentlich ist dabei das „Ausstreuen von Gerüchten“, indem er den Eindruck erweckt, der Zaubertrank wäre von Asterix an die Römer verraten worden. Parallel sorgt er für das „Herbeiführen von Mißverständnissen“, indem er ein fingiertes Operettengefecht mit dem Dorfältesten Methusalix inszeniert und dem Gerücht damit weitere Nahrung gibt. Gleich zu Beginn, quasi als Ouvertüre, geht es um die „differenzierte Behandlung von Feinden“. Nicht Majestix, dem Häuptling des Stammes, sondern Asterix wird ein Geschenk ostentativ überreicht. Majestix fühlt sich in seinem Image verletzt und herausgefordert und das Dorf klatscht und tratscht schon darüber, was es mit der ungewöhnlichen Geste auf sich haben könnte.
Das Strategem scheint aufzugehen. Asterix, Obelix und der Druide verlassen das Dorf. Die Spaltung ist allerdings nur vorgetäuscht. Die gallischen Helden zahlen es dem Zwietrachtsäer mit gleicher Münze zurück. Schließlich verfällt der römische Kommandeur wieder auf die klassische Strategie der Eroberung mit Waffengewalt und verliert.

Ausweitung der Kampfzone

Verschiedene Möglichkeiten der Spaltung eines Gegners lassen sich unterscheiden. Dabei geht es weniger um die physische Aufspaltung, etwa durch Einkesselung, denn dafür gibt es ein eigenes Strategem. Vielmehr geht es um den „psychologischen Bruch im Feindeslager“9. Das Spektrum reicht von der Entzweiung eines Teams, einer Partei oder Koalition bis zu Desinformations- und Propaganda-Kampagnen im Rahmen einer hybriden Kriegsführung. Namensgeber der viel diskutierten Gerassimow-Doktrin ist der gegenwärtige Oberbefehlshaber des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Allerdings wollte dieser wohl eher auf die Gefahr einer Spaltung Russlands durch Einflüsse des Westens hinweisen. Die offensiven Desinformations- und Cyberattacken Russlands im Westen zeugen allerdings von einer Ausweitung der Kampfzone, u.a. mit dem Ziel, den Feind zu spalten.

Zu unterscheiden sind auch vertikale und horizontale Spaltungen. Populismus und Nationalismus sind Anzeichen für einen vertikalen Spaltungsversuch. „Wir sind das Volk“ oder „Die da oben“ sind Parolen der Spaltung von Regierung und Souverän.
Die horizontale Spaltung hat die Uneinigkeit von Gruppen, Ethnien, Geschlechtern, Parteien oder Staaten zum Ziel. Auf den Weltbühnen der Politik werden Bündnisse gebildet und Einheiten zerschlagen. Die europäischen Kolonialmächte taten dies frei nach dem Motto „Teile und herrsche“. Ethnische und religiöse Unterschiede wurden zum Gegenstand des Unfriedens gemacht. Ähnlich wurde mit Ländergrenzen verfahren. Territorialgrenzen wurden auf dem Reißbrett gezogen und Gemeinschaften, die niemals zuvor in territorialen Kategorien gedacht hatten, gespalten.

Heutige Feindkonstellationen wie in Indien und Pakistan oder Sri Lanka gehen auf Strategien der Spaltung durch die früheren Kolonialmächte zurück. Besonders tragisch ist der Fall Ruanda. Kolonialherren und Missionare spalteten die ruandische Bevölkerung in ethnische Gruppen, für die es ursprünglich gar keine Unterscheidungskriterien gab.10 Das danach alles beherrschende Thema der Ethnizität provozierte immer wieder schreckliche Massaker und Genozide.

Nachdem nichts mehr zu spalten ist, bleibt auch der früheren Kolonialgroßmacht, die einst mit Argusaugen auf die hegemonialen Verhältnisse des europäischen Festlands blickte und Zwietracht zu nutzen wusste, nur noch der Brexit als letzte Möglichkeit der Selbstverstümmelung.

Belebte Subjekte, unbelebte Objekte

Andererseits werden Spaltungen von Schurkenstaaten, Räuberbanden, Terror- und IS-Staaten als Befreiung empfunden. Das Übel ist nicht das Strategem an sich, sondern seine Verwendung. Es hängt ab von den Interessen und Zielen, die mit der Spaltung intendiert werden. Diese sind wechselhaft und vergänglich. Die Spaltungen können hingegen ein Eigenleben entwickeln. So wie im Fall der Terrororganisation Hamas, die ursprünglich von Israel zur Spaltung der PLO gefördert wurde. „Die Hoffnung der Regierung in Jerusalem, den Widerstand der Palästinenser durch Spaltung zu schwächen, erwies sich indes als verhängnisvolle Fehlkalkulation: Mit Beginn der Intifada 1987 wandelte sich die karitative Moslemorganisation zum Keim einer schlagkräftigen Terrorgruppe.“11

Auf eine folgenreiche Spaltung der Menschheitsgeschichte weist uns die Literaturwissenschaftlerin Tina Hartmann hin: „Bis zum vierten Jahrtausend vor Christus kannten die indoeuropäischen Sprachen nur zwei Geschlechter: das heutige Maskulinum für belebte Subjekte, das heutige Neutrum für unbelebte Objekte.“12 Die Menschen brauchten für die Entwicklung von Kultur und komplexen Gesellschaftsstrukturen keine weitere Unterscheidung belebter Subjekte. Erst die idiotische Idee der Patrilinearität, also die Erbfolge vom Vater auf den Sohn, führte zur einer Geschlechterspaltung. „Das Männliche blieb das alte, zentrale Geschlecht, von dem aus das Weibliche als Abweichung definiert wurde.“13

Italo Calvino14 erzählt die Geschichte eines Adligen, der im Krieg, von einer Kanonenkugel getroffen, symmetrisch in zwei Hälften geteilt wird. Beide Seiten überleben mit der Besonderheit, dass jede Hälfte ausschließlich nur gute oder böse Charaktereigenschaften besitzt. Die böse Hälfte des Visconte errichtet nach seiner Rückkehr in seiner Heimat ein erbarmungsloses Schreckensregime. Zu seinen Marotten gehört, wahllos Lebewesen und Pflanzen in zwei Hälften zu spalten.

Dann taucht die gute Hälfte auf und macht als Gegenspieler die Untaten seines Pendants wieder gut. Es kommt zum Duell, in dem sich beide Hälften schwer verwunden. Ganz zur Freude des vor Ort ansässigen englischen Schiffsarztes: »Er ist gerettet, er ist gerettet! Laß mich nur machen!«

Die Rettung besteht darin, beide Hälften wieder zu einer Person zusammenzunähen. Die Operation gelingt und der ganze Mensch ist eine »Mischung aus Bosheit und Güte«, allerdings mit der Weisheit »der Erfahrung der beiden nun wieder miteinander verschmolzenen Hälften«.


1  Die Bibel. Psalm 120. https://www.biblica.com/bible/hof/psalm/120/
2  Kluge, Friedrich (1999). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 23., erw. Aufl. Berlin; New York: de Gruyter, S. 19
3  Senger, Harro von (1999). Die List im chinesischen und im abendländischen Denken: Zur allgemeinen Einführung. In: ders. (Hrsg.). Die List. (S. 9-49). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11
4  Senger, Harro v. (2011). 36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch
5  Esposito, Elena (2007). Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Berlin: Suhrkamp
6  Von Senger, Harro (Hg.) (2011). Meister Suns Kriegskanon. Stuttgart: Reclam, S. 9
7  Goscinny, René; Uderzo, Albert (1973). Streit um Asterix. Leinfelden-Echterdingen: EHAPA
8  Senger, Harro v. (2011). 36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 631 f.
9  Senger, Harro v. (2011). 36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 631
10  Berry, John A.; Berry, Carol Pott (1999). Genocide in Rwanda: A Collective Memory. Washington, D. C.: Howard University Press
11  „Gesegneter Aufstand“ in: DER SPIEGEL 9/1993
12  Hartmann, Tina (2023). Frau ist ein misogyner Begriff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 78, Samstag 1. April 2023, S. Z 1
13  ebd.
14  Calvino, Italo (1957). Der geteilte Visconte. Frankfurt a. M.: S. Fischer

Der Beitrag erschien zuerst in Ästhetik & Kommunikation 190/191 Spalte und herrsche?

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

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