„2024, ein Schlüsseljahr für uns und die Ukraine“

Ältere Zivilisten, die von ukrainischen Polizisten in Kiew betreut werden, nachdem Granaten ihr Wohnhaus beschädigten (Foto, Mai 2022: Ministerium für innere Angelegenheiten der Ukraine auf wikimedia commons)

Auch wenn sich die Frontlinie zurzeit nur wenig bewege, könne sich die Lage in der Ukraine nach Einschätzung des Osteuropaexperten Andreas Wittkowsky noch dramatisch ändern – in beide Richtungen. „Insofern wird 2024 in zweierlei Hinsicht zum Schlüsseljahr: ob die Ukraine standhalten kann – und ob wir mit unserer Unterstützung standhalten“, betont er im Interview mit Wolfgang Storz. Noch sei nichts entschieden, doch die westliche Unterstützung müsse kontinuierlicher und langfristiger erfolgen. „Ein Schlüssel liegt zu einem großen Teil in unserer Politik – sie muss vorausschauender, entschlossener und zuverlässiger werden.“

Wolfgang Storz: Der Krieg gegen die Ukraine begann 2014 mit der Besetzung der Krym, der Großangriff folgte im Februar vor zwei Jahren. Gemeinhin wird militärisch die Lage als Patt, als für beide Seiten verlustreicher Stellungskrieg eingeschätzt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Andreas Wittkowsky: Patt und Stellungskrieg sind nicht dasselbe. Auch wenn sich die Frontlinie zurzeit nur wenig bewegt, kann sich die Lage noch dramatisch ändern – in beide Richtungen. Weiterhin führen die Ukrainerinnen und Ukrainer einen Kampf um ihre Existenz. Insofern wird 2024 in zweierlei Hinsicht zum Schlüsseljahr: ob die Ukraine standhalten kann – und ob wir mit unserer Unterstützung standhalten.

Foto: ZIF

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) tätig. X-Twitter @Twittkowskyi

Womit ist zu rechnen?

Andreas Wittkowsky: Militärexperten sind sich weitgehend einig, dass die Ukraine auch 2024 an der Front kaum entscheidende Durchbrüche erzielen wird und sich ihre Unterstützer schon jetzt auf 2025 vorbereiten müssen. Zu massiv sind inzwischen die Minenfelder, Verteidigungsanlagen und die Luftüberlegenheit Russlands. Gleichzeitig leidet die Ukraine unter erheblichen Engpässen bei Waffen und Munition. Hinzu kommen wachsende politische Blockaden in einigen Unterstützerländern. Doch nur wenn die Ukraine wenigstens Teile der besetzten Territorien zurückgewinnen kann, sind Verhandlungen denkbar, die nicht auf eine Kapitulation und Zerstörung des Landes hinauslaufen. Bis dahin muss sie den „Abnutzungskrieg“ fortsetzen, in dem sie die russischen Kräfte systematisch schwächt und ihre eigenen soweit möglich regeneriert.

Das klingt ziemlich düster…

Andreas Wittkowsky: Ich würde es realistisch nennen. Aber zum Gesamtbild gehören auch die Erfolge, die 2023 erzielt wurden. Durch die Rückeroberung der besetzten Gasförderplattformen vor der ukrainischen Küste und präzise Drohnen- und Raketenangriffe auf die militärischen Anlagen auf der Krym wurde die russische Schwarzmeerflotte nach Osten verdrängt. Die Ukraine konnte so den Getreideexport zu See wieder aufnehmen. Erfolgreich sind auch Angriffe der Ukraine auf die Nachschubwege und -lager der Angreifer, inzwischen auch auf russischem Territorium. Die Bahnlinie nördlich des Asowschen Meers und über die Krymbrücke sind von entscheidender Bedeutung für den russischen Nachschub – daher auch das Interesse der Ukraine an deutschen Taurus-Marschflugkörpern.

Systematische Terrorangriffe

Auf Taurus werde ich zurückkommen, zunächst interessiert mich: Als Sie in den ersten Wochen des Krieges die Lage analysierten: Hatten Sie dabei auch an einen solchen Verlauf gedacht?

Andreas Wittkowsky: Nein, sowohl der russische Großangriff als auch die ukrainische Gegenwehr waren für mich voller Überraschungen – zumal ich mich in der Vergangenheit eher mit der zivilen Konfliktbearbeitung beschäftigt habe. Anfang 2022 hatte ich mit Eskalationen an der damaligen Kontaktlinie in der Ostukraine gerechnet, einen Krieg in dem dann eingetretenen Umfang aber nicht für möglich gehalten.

Bis heute ist für mich die Menschenverachtung, mit der Russland diesen Krieg führt, unerträglich. Systematisch werden Terrorangriffe auf Wohnviertel und zivile Ziele durchgeführt. Die Eroberung Mariupols hinterließ eine weitgehend zerstörte Stadt, die zivilen Opfer gingen in die Tausende, viele Tote wurden mit den Trümmern „entsorgt“. Hinrichtungen und wahllose Morde an der Zivilbevölkerung fanden nicht nur in Butscha und Irpin statt, sondern in unzähligen Dörfern im ganzen Land. In den besetzten Gebieten wird gewaltsam russifiziert, die ukrainische Sprache und Kultur verboten, ukrainische Bevölkerung deportiert und russische angesiedelt. Tausende Kinder wurden über die Grenze verschleppt und einer anti-ukrainischen Zwangserziehung unterworfen. Jede Opposition, jeder vermutete Widerstand wird brutal unterdrückt. Zivilisten und vor allem Kriegsgefangene sind der Folter unterworfen, die Haftbedingungen sind unmenschlich. Dies macht umso deutlicher, warum die Ukraine jede Unterstützung verdient.

Bild: Mykola Vasylechko auf wikimedia commons

Wie bewerten Sie die politische Lage? Auch ein Patt? Wer stützt international die Ukraine und wer Putin-Russland? Was hat sich in diesen beiden Jahren an dieser `Front` verschoben? China machte vor Monaten einen Vorstoß in Richtung auf Verhandlungen, auch Frankreich mühte sich mal, die Schweiz soll auf Wunsch von Selenskyj eine Friedenskonferenz ausrichten. Vor diesem Hintergrund die Frage: Gibt es in diesen Wochen irgendwo irgendwelche Treffen von bedeutenden Akteuren, bei denen über eine neue nennenswerte Friedensinitiative verhandelt wird?

Andreas Wittkowsky: Putin hat inzwischen die militärische Kooperation mit Iran, Nordkorea und China ausgebaut. Offenbar ist er davon überzeugt, dass diese Achse der Autokratien einen längeren Atem als die westlichen Demokratien hat. Er spielt auf Zeit.
Weiterhin lässt Russlands Führung, also Putin und der Kreis seiner engsten Vertrauten, keine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft erkennen. Der Kreml hat gerade eine Reuters-Meldung dementiert, Russland habe den USA über informelle Kanäle ein Waffenstillstandsangebot unterbreitet. Putin bestätigt ein ums andere Mal, dass ein anderes Ergebnis als die Kapitulation der Ukraine unakzeptabel ist. In einem aktuellen Interview mit dem US-Moderator Carlson Tucker hat er ganz deutlich erklärt, dass es ihm nicht um die NATO-Erweiterung, sondern um die Korrektur „historischer Fehler“, die Wiedererrichtung eines russischen Imperiums geht. Deshalb bestreitet er das Existenzrecht der Ukraine und einer ukrainischen Nation. Bis zu Putins erneuten Akklamation als Präsident im März 2024 ist hier überhaupt keine Änderung zu erwarten – aber ebenso wenig danach, solange er sich von den US-Präsidentschaftswahlen im November einen Wahlsieg Donald Trumps und damit den Ausfall der westlichen Führungsmacht erhoffen kann.

Und wie sieht es in Europa aus?

Andreas Wittkowsky: Risse zeigen sich auch in der EU: Ungarns Premierminister Orban fährt einen unverkennbar anti-ukrainischen Kurs. In vielen Mitgliedstaaten formieren sich pro-russische Kräfte, denen russische Desinformationskampagnen eine Echokammer bieten. Auch in Deutschland arbeiten kremlfreundliche Kräfte systematisch gegen die Ukraine: Vertreter der extremen Rechten und der neuen Partei BSW werben dafür, die Ukrainehilfen zu beenden und die gerade überwundene Abhängigkeit von russischem Erdgas wiederherzustellen.

Noch ist nichts entschieden

Der Eindruck eines Laien: Es siegt am Ende, wer mehr Ressourcen hat, ob Waffen, Geld oder kämpfende Menschen. Dann siegt nach menschlichem Ermessen doch Putin. Oder? Zumal in Putin-Russland die Kriegswirtschaft auf Hochtouren läuft, im Gegensatz zum Westen. Die EU hatte der Ukraine die Lieferung von einer Million Artillerie-Granaten im Jahr 2023 zugesagt. Geliefert wurden etwa 300 000. Ist das Unfähigkeit von Militärbürokratie und Militär-Industrie? Oder deren bewusstes Hintertreiben einer politischen Entscheidung? Für die Ukraine wird es immer mühsamer, die Hilfe des Westens, vor allem der USA zusammenzubetteln, so muss das inzwischen ja formuliert werden.

Andreas Wittkowsky: Die Masse der Ressourcen ist sehr wichtig. Das sehen wir an den Folgen des Munitionsmangels für die Artilleriegefechte im Stellungskrieg. Sie ist aber nicht der einzige Faktor. Ressourcen müssen auch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort eingesetzt werden – daher die Angriffe auf die Logistik des Gegners. Die Ukraine fügt den russischen Kräften auch wesentlich mehr Verluste zu als sie selbst erleidet. Die Kampfmoral spielt ebenfalls eine Rolle – und die ist in der Ukraine deutlich stärker als in Russland.

Es stimmt aber, dass die Ukraine ins Hintertreffen zu geraten droht, weil die westlichen Lieferungen deutlich hinter ihrem Bedarf zurückbleiben. Die EU, darauf haben Sie hingewiesen, musste gerade eingestehen, sie könne ihre Zusage von 2023, bis zum März 2024 eine Million Artilleriegeschosse zu liefern, erst zum Jahresende erfüllen. Die Hintergründe sind schwer zu durchschauen, aber klar ist: Dies verschlechtert die Lage für die Ukraine. Russland dagegen konnte im Iran Drohnen und in Nordkorea Artilleriemunition erwerben. Die Blockade der US-Hilfen im Kongress, bereits dem Wahlkampf geschuldet, verschärft das Problem erheblich.

Noch ist nichts entschieden. Doch die westliche Unterstützung muss kontinuierlicher und langfristiger erfolgen – vor allem durch den Aufbau entsprechender industrieller Kapazitäten. Längerfristige staatliche Aufträge würden den dazu erforderlichen Planungshorizont schaffen. Kurzum: Ein Schlüssel liegt zu einem großen Teil in unserer Politik – sie muss vorausschauender, entschlossener und zuverlässiger werden.

Welche belastbaren und seriösen Analysen und Umfragen gibt es zu den folgenden beiden Fragen: Wie wirkt sich das auf den Rückhalt, die politische Kraft von Präsident Selensky aus? Wie auf die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung? Es ist ja auch die Rede von sprunghaft gestiegenen Zahlen an Deserteuren in der Ukraine.

Andreas Wittkowsky: Die aktuellen Stimmungsbilder lassen ein hohes Maß an Erschöpfung erkennen. Aber die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sieht keine Alternative zum militärischen Abwehrkampf.
Präsident Selenskyj hat etwas an Popularität eingebüßt, genießt aber in Meinungsumfragen weiterhin Zustimmungsraten zwischen 62 und 77 Prozent und liegt damit deutlich über den Werten aller anderen europäischen Regierungschefs. Seine Fähigkeit, Bevölkerung und Truppen direkt anzusprechen, ihnen Mut zu machen, und auf der internationalen Bühne für sein Land zu werben, findet nach wir vor große Anerkennung – auch wenn die Kritik an seinen innenpolitischen Entscheidungen zunimmt.

Und dann noch das neue Problem der steigenden Zahl von Deserteuren in der Ukraine...

Andreas Wittkowsky: Im Gegensatz zur russischen kenne ich aus der ukrainischen Armee keine Berichte über Deserteure. Problematisch ist aber die Zahl derer, die sich der Einberufung entziehen wollen. Angesichts der erheblichen Opferzahlen (die russischen sind unvergleichlich höher) ist das Risiko für Leib und Leben sehr konkret geworden. Das Potential der Freiwilligen ist inzwischen ausgeschöpft – sie sind schon lange im Einsatz und müssten dringend abgelöst werden. Ihre Angehörigen gehen dafür inzwischen auf die Straße.
Gegenwärtig wird im Kyiwer Parlament sehr kontrovers über ein Mobilisierungsgesetz diskutiert – ein Zeichen demokratischer Kultur selbst in Kriegszeiten. Im Übrigen ist die Verteidigungsbereitschaft in der Ukraine deutlich höher als in Deutschland: nur 36 Prozent der Bundesbürger waren laut einer Umfrage im November 2023 bereit, das eigene Land mit der Waffe zu verteidigen.

Ein Sprung auf die andere Seite der Front. Gemessen an seinen Zielen hat Wladimir Putin seinen Krieg ja bereits verloren, hat er sich und sein Land doch in einen langen Stellungskrieg verwickelt und nicht auf die Schnelle die Ukraine erobert. Was hat sich in 2023 an seinem Rückhalt in der eigenen Bevölkerung geändert?

Andreas Wittkowsky: Putin hat zwar den Blitzkrieg im Frühjahr 2022 verloren, seitdem aber Staatsapparat und Bevölkerung mit erheblichem Propagandaaufwand auf einen langen Krieg eingestellt. Dabei spitzt sich das Kreml-Narrativ dahingehend zu, dass Russland einen Abwehrkampf gegen den weltweit erstarkten Nazismus führe – nicht nur in der Ukraine, sondern auch im übrigen Europa und in Amerika. Gleichzeitig werden nazistische und antidemokratische Bewegungen in diesen Ländern gestärkt, die Putins autoritäre Führung bewundern.

Unterdessen nimmt die Unterdrückung in Russland zu. Oppositionelle werden für die kleinsten Aktionen zivilen Ungehorsams inhaftiert und in absurd anmutenden Prozessen abgeurteilt. Viele Bürgerinnen und Bürger Russlands glauben dennoch, dass es im Krieg um die Wiederherstellung „historischer Rechte“ geht. Verbreitet ist auch der Glaube, die Ukraine habe Russland angegriffen. Es gibt kaum Kritik an der revanchistischen Grundeinstellung. Andererseits wurde Boris Nadjeschdin, den viele für einen Zählkandidaten hielten, von der Präsidentenwahl ausgeschlossen, weil er mit seinen vorsichtig kriegskritischen Positionen mehr Wählerinnen und Wähler mobilisieren konnte, als vom Kreml gewünscht.

Es fällt schwer, die Regierungspolitik zu „lesen“

Als Haltung der Regierung Scholz hat sich bei Kritikern festgesetzt: Deutschland liefert möglichst spät möglichst wenig an militärischer Unterstützung. Die einen sehen darin ein kluges diplomatisches Verhalten, die anderen ein beispielloses historisches Versagen in einer existentiellen Frage. Hat sich an dieser Grundhaltung von Kanzler und damit der Regierung in 2023 etwas geändert?

Andreas Wittkowsky: Im In- und Ausland fällt es manchmal schwer, die Politik der Bundesregierung zu „lesen“. Zunächst hat Olaf Scholz im Februar 2022 mit seiner Rede zur Zeitenwende den russischen Überfall aufs Schärfste verurteilt und die Notwendigkeit begründet, die Ukraine umfassend zu unterstützen. Scholz hat auch dafür geworben, dass Deutschland noch größere Verantwortung übernehmen müsse, falls die USA als Führungsmacht schwächeln. An diesen Worten wird er gemessen.

Andererseits möchte er vermeiden, dass Deutschland im Zweifelsfall allein in vorderster Front steht – er hält die US-Hilfe weiterhin für „unverzichtbar“. Deshalb seine demonstrative Politik, nicht ohne die USA vorzupreschen. Für Europa fordert er mit den Regierungschefs Dänemarks, Estlands, der Niederlande und Tschechiens eine „kollektive Anstrengung, die Ukraine auf längere Sicht zu rüsten“.

Aber wie gleichzeitig mit der Eskalations-Politik von Putin umgehen?

Andreas Wittkowsky: Tatsächlich steht die Politik vor der Herausforderung, mit den Eskalationsrisiken umzugehen, die eine kriegführende, rhetorisch immer aggressiver auftretende Atommacht in der Nachbarschaft mit sich bringt. Das Dilemma liegt darin, diese zu berücksichtigen, ohne dabei als wehrlos zu erscheinen oder den Eindruck einer vorauseilenden Unterwerfung zu erwecken. Dies würde eine Eskalation nachgerade ermutigen. Im europäischen Spektrum wird Deutschland oft als Land wahrgenommen, das übermäßig vom Vorsichtsprinzip geleitet wird. Dabei muss man konzedieren, dass die Herausforderung gerade für die deutsche politische Kultur präzedenzlos ist.

Das ist sicher zutreffend, aber die Frage der politischen Lernfähigkeit muss man schon stellen.

Andreas Wittkowsky: Gerade in den ersten Kriegsmonaten tat sich die Regierung schwer mit Entscheidungen, wie, wann und in welchem Umfang die Ukraine zu unterstützen sei. Selbst wenn man zugesteht, dass sicherheitspolitisch sensible Prozesse auch hinter den Kulissen verabredet werden, war die Kommunikation nicht immer glücklich. Gerade in Scholz‘ eigener Partei werden immer wieder Stimmen laut, die einen Erfolg der Ukraine für ausgeschlossen halten und unterstellen, sofortige Verhandlungen und Territorialkompromisse könnten Frieden und Sicherheit in Europa wiederherstellen.

So entstand verbreitet der Eindruck mangelnder Konsequenz, die Bundesregierung würde ihrem Anspruch nicht gerecht. Der Druck stieg international und zu Hause. Prominente Abgeordnete der Koalition forderten eine schnellere und umfassende Unterstützung der Ukraine und trugen dazu bei, dass Deutschland heute zweitgrößter Unterstützer der Ukraine ist (gemessen am verausgabten Bruttoinlandsprodukt auf Platz 13). Doch weiterhin ist die Frage, ob dies ausreicht. Danach sieht es gegenwärtig nicht aus.

Deutschland verfügt über etwa 600 Taurus-Raketen. Damit könnte das ukrainische Militär sehr wirksam die umfangreichen Befestigungsanlagen der Russen in der Ukraine angreifen; diese konnten ihre Festungen in aller Ruhe anliegen, weil die Ukraine aufgrund verspäteter Waffenlieferungen des Westens diese Arbeiten nicht früher attackieren konnten. Gibt es irgendeinen rational nachvollziehbaren Grund, warum SPD-Kanzler Scholz die Lieferung dieser Raketen verweigert?

Andreas Wittkowsky: Wie bereits gesagt, hat die Ukraine großes Interesse an deutschen Taurus-Marschflugkörpern. Sie würden beispielsweise die Chance vergrößern, die Krym-Brücke über die Straße von Kertsch zu zerstören, der wichtigsten Nachschublinie der russischen Truppen in die Südostukraine. Taurus ist in Reichweite und Durchschlagkraft den ähnlichen Systemen SCALP und Storm Shadow überlegen, die Frankreich und Großbritannien bereits geliefert haben.

Taurus KEPD 350 unter einem Eurofighter Typhoon
(Foto: uploader auf wikimedia commons)

Nach einer längeren öffentlichen Debatte hat Bundeskanzler Scholz im Oktober 2023 eine Lieferung von Taurus mit der Begründung ausgeschlossen, dass diese Länder „etwas können, was wir nicht dürfen.“ [Aktuell, 26-02-204, dazu „Scholz begründet Ablehnung der Taurus-Lieferung„] In der Folge ist in der sicherheitspolitischen Community ausgiebig darüber spekuliert worden, was sich hinter dieser sibyllinischen Formulierung verbirgt. Hat Scholz Sorge vor (hybriden) russischen Vergeltungsmaßnahmen? Möchte er selbst noch eine Eskalationsdrohung im diplomatischen Köcher behalten? Treibt ihn die Sorge, dass nur schwer ersetzbare Bundeswehrbestände abgegeben werden müssen (zumal nur 150 der dortigen 600 Taurus einsatzbereit sein sollen)? Soll die Preisgabe technischen Knowhows vermieden werden? Hat das Kanzleramt trotz aller Bekenntnisse zur Ukraine doch die Absicht, auf ein Einfrieren des Konflikts hinzuarbeiten?

Vor allem aber wurde auf die technologische Komplexität eines Taurus-Einsatzes verwiesen. So müssten wohl Angehörige der Bundeswehr Teil des „Lieferpakets“ werden, um die Programmierung der Zieldaten vor Ort zu gewährleisten. Auch die Briten sollen Angehörige ihrer Streitkräfte vor Ort haben, die dies bei Storm Shadow tun. Diese Erklärung würde der Scholzschen Formel am ehesten entsprechen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob hier schon das letzte Wort gesprochen wurde.

Welche weiteren Schritte macht das Putin-Russland?

Setzen wir einmal voraus, Wladimir Putin siegt militärisch und das bedeutet konkret: die Krym und alle ukrainischen Gebiete, welche die russische Armee momentan besetzt, werden von Russland auf Dauer vereinnahmt und die Kräfte der Rest-Ukraine sind erschöpft, so dass sie ihr Gebiet noch halten kann, aber nicht mehr. Aus seinen Reden, seinem Handeln und dem der russischen Apparate: Welche weiteren Schritte wird das Putin-Russland dann einleiten?

Andreas Wittkowsky: Nach allem, was wir von Putin in den letzten Monaten gehört haben, würde er diesen Status Quo nicht als Sieg akzeptieren. Er würde auch kaum in einen haltbaren Waffenstillstand münden. Vielmehr würde sich erneut die Situation ergeben, die wir schon nach den Minsker Vereinbarungen von 2014-15 in der Ostukraine hatten: ein andauernder Krieg niedriger Intensität an der Kontaktlinie. Außerdem würde Russland die Pause zur Regeneration seines Militärs nutzen, um zum gegebenen Zeitpunkt erneut anzugreifen. Deshalb sind die Überlegungen, man solle die Ukraine zu einem „Minsk 3“ hinleiten, gefährlich.
Fortgesetzt würde auch der hybride Krieg durch Desinformationskampagnen. Schon heute sind diese in Ländern wie Moldova und Georgien sichtbar – immer wieder werden auch die baltischen Länder und Polen bedroht. Nicht auszuschließen ist auch der erneute Einsatz nicht-staatlicher oder paramilitärischer Gewaltakteure. Das Nahziel ist es, die Kontrolle über die Ukraine zu erlangen und gleichzeitig EU, USA und NATO handlungsunfähig zu machen.

Gibt es denn aus Ihrer Sicht das eine große Ziel von Putin, das ihn in allem, was er tut, leitet?

Andreas Wittkowsky: Letzten Endes geht es Putin darum, die USA als Schutzmacht aus Europa zu verdrängen und eine russische Hegemonie über den Kontinent zu erlangen. Wie weit er dabei geht, hängt von der Entschlossenheit des europäischen Widerstands ab. Eine Niederlage der Ukraine wäre eine Ermutigung für weiterreichende Ambitionen. Auch deshalb ist es im europäischen Interesse, ihn dort zu stoppen.

Nun spielt die NATO ausgerechnet in diesem Februar, also zum zweiten Jahrestag des Putin-Krieges gegen die Ukraine, mit Steadfast Defender, einem ihrer größten Manöver seit Jahrzehnten, genau diesen Krisenfall durch: Russland greift ein NATO-Land an. Mit zehntausenden Soldaten, 50 Kriegsschiffen und hunderten Kampfjets. Zwei Abschlussfragen, erstens: Auch wenn ein solches Manöver möglicherweise militärisch umsichtig oder gar überfällig ist, ist es politisch klug oder schädlich mit Blick auf eventuelle Friedensgespräche?

Andreas Wittkowsky: Steadfast Defender sendet ein deutliches Signal, dass sich die NATO nicht überraschen lassen will und für den Fall der Fälle bereit ist. Dazu ist es wichtig, das Verlegen von Truppen und Material über weite Entfernungen – auch über den Atlantik hinweg – und das Zusammenspiel der Streitkräfte vieler Nationen praktisch zu üben. Die Übung ist im Übrigen nicht die erste dieser Art und wird bereits seit einem Jahr vorbereitet. Russland führt regelmäßig vergleichbare Übungen durch.

Wenn Steadfast Defender überhaupt Einfluss auf mögliche Verhandlungen hat (von denen wir aus den genannten Gründen weit entfernt sind) hat, dann einen positiven: Indem sie die politische Geschlossenheit der NATO demonstriert und militärisch abschreckt. Die revanchistischen Ansprüche der russischen Spitzenpolitiker beschränken sich inzwischen nicht auf die Ukraine, sondern auch auf die übrigen Staaten des Warschauer Pakts. Putin hat auch öffentlich verkündet, „Russlands Grenzen enden nirgendwo“.

Der Realität stellen und entgegenstellen

Und zweitens: Ist nach Ihrer Analyse die Gefahr, dass Putin einen solchen weiteren Schritt der Eskalation wagt, in den letzten beiden Jahren tatsächlich auch gestiegen?

Andreas Wittkowsky: Udo Lindenberg sang einst: „Glaubst Du, die Russen wollen Krieg?“ Rein rhetorisch gemeint ist diese Frage inzwischen anders beantwortet worden, als der Hamburger Barde sich das gedacht hatte. In den letzten beiden Jahren hat Russlands politische Führung eine Selbstradikalisierung durchlaufen, die nicht zu unterschätzen ist.
Nikolaj Patruschew, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats und einer der engsten Vertrauten Putins, schwört das Land inzwischen auf einen langen Krieg gegen den Westen ein. Zugleich ist es ein Kampf gegen die bestehende, nicht perfekte, aber weitgehend regelbasierte internationale Sicherheitsordnung. In den Medien, vor allem im Fernsehen, wird die Bevölkerung mit Eroberungsphantasien darauf eingestimmt, schon im Kindergartenalter wird die Jugend wieder militärisch gedrillt.

Dieser umfassende Krieg hat bereits begonnen: der Großangriff auf die Ukraine, die Unterstützung rechts- und linksextremer Bewegungen, die Einflussnahme auf Wahlen in den USA und bei uns, die politischen Morde im Berliner Tiergarten und anderswo. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass die Achse der Autokratien gerade im Jahr der US-Präsidentschaftswahlen weltweit zündelt: in Afrika durch den Nachfolger der Söldnergruppe Wagner (sie trägt den schönen Namen Afrika-Korps und wird vom russischen Verteidigungsministerium kontrolliert), im Nahen Osten durch Terror- und Kampfverbände, die der Iran unterstützt, im westlichen Balkan durch revanchistische Gewaltunternehmer, die eine „Serbische Welt“ schaffen wollen. Bis vor Kurzem haben viele dies für undenkbar gehalten. Doch wir müssen uns dieser Realität stellen – und entgegenstellen. Jetzt.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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