Dialogischer Stil, dogmatischer Inhalt

Screenshot: youtube

Als Alt-Grüner habe ich lange mit den Auftritten vieler Grünen-Politiker:innen gehadert. Niemand hat mich daher so für sich eingenommen wie Robert Habeck. Er formuliert Dilemmata, geht auf Gegenpositionen zumeist sogar freundlich ein, demonstriert Bescheidenheit und zeigt Verletzlichkeit. Vom äußeren Ton her wirkt auch seine Osteransprache 2024 so. Aber während er sonst ehrlich auf die eigentlichen Fragen und Spannungsverhältnisse kommt, übertüncht er hier die eigentlichen Fragen, betoniert Dogmen und vermeidet die Frage nach dem Ausgang des Ukraine-Krieges.

Sein Dogma 1: Nur die Ukraine darf entscheiden, zu welchen Bedingungen sie den Krieg zu beenden bereit ist! So banal diese Feststellung scheinbar ist (natürlich wird keine Nato der Ukraine den Frieden kommandieren), so anders ist die Frage: „Sind wir verpflichtet zur Unterstützung jedes Kriegsziels und jeder Maßnahme der ukrainischen Regierung?“ Dass dies natürlich schon jetzt nicht so ist, zeigen die Bedingungen, die westliche Länder an die Lieferung zum Beispiel von Marschflugkörpern knüpfen. Denn theoretisch nach dem Völkerrecht hätte die Ukraine als angegriffenes Land sogar das Recht, mit westlichen Waffen Moskau anzugreifen. Dass ihr das vom Westen aus bekanntlich guten Gründen verwehrt wird, zeigt auch in der westlichen Logik, dass die Ukraine nicht frei ist zu tun, was sie theoretisch darf. Also: Wir als unterstützende Staaten haben sehr wohl ein Recht mit zu entscheiden, was mit unserer Hilfe angestrebt wird. 

Dogma 2: DIE Ukraine ist entschlossen, sich mit ALLEN Konsequenzen gegen den russischen Angriff zu verteidigen. An dieser als unbedingt anzusehenden Entschlossenheit gibt es aber zunehmend Anlass zu zweifeln: Zum einen ist offensichtlich nur eine kleine Minderheit der wehrfähigen Ukrainer bereit, wirklich mit allen Konsequenzen SELBST für die Abwehr des russischen Angriffs einzustehen. Und zum Zweiten: Welche ukrainische Repräsentanz verkörpert wirklich den Grad der Entschlossenheit? Parlamentsdebatten spielen keine öffentliche Rolle, es gibt keine Volksabstimmung – nur der Präsident und unklare Führungsstrukturen stehen für den Willen DER (?) Ukraine. – ( Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich zweifle nicht im Geringsten an der absoluten Ablehnung des russischen Angriffskriegs durch die große Mehrheit auch der russisch-sprachigen Ukrainer – wohl aber an der Bereitschaft, dafür unendlich viele Opfer zu bringen!) 

Dogma 3: Die (einst aus dem Vietnamkrieg bekannte) Domino-Theorie, dass nämlich ein russischer Sieg über das Nicht-NATO-Mitglied zum anschließenden Angriff Putins auch auf NATO-Mitglieder führen würde. Wer dies ernsthaft meinte, würde das Herzstück der NATO, nämlich die unbedingte Beistandsverpflichtung in Frage stellen. Ich glaube daher: Sie ist genauso bloße Mobilisierungs-Rhetorik wie die einstige US-These vom Fall ganz Südostasiens an den Kommunismus, wenn Vietnam fiele. Zusätzlich absurd ist diese neue Domino-Theorie angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse:
Russland verfügt im gesamten Riesenreich über 1,3 Millionen Soldaten, allein die europäischen NATO-Staaten (ohne die Türkei) verfügen über ebenfalls 1,3 Millionen Soldaten. Also selbst wenn ein Trump und Erdogan das Nato-Europa sich selbst überließen, wäre Russland weit vom 3:1 Verhältnis entfernt, die ein Angreifer für eine gute Siegeschance braucht. Zudem sind die NATO-Truppen technisch den russischen weit überlegen, von der Erschöpfung der russischen Armee nach einem – eher unwahrscheinlichen – totalen Sieg über die Ukraine ganz abgesehen. 

Dogma 4: JEDES Einfrieren des Krieges wäre nur der Auftakt zu einem neuem, noch brutaleren russischen Angriff. Auch hier soll mit der dogmatischen Fliegenpatsche schon jeder Gedanke an Waffenstillstand verscheucht werden. Dazu wird den „Mützenichs“ unausgesprochen unterstellt, sie wollten die Waffenlieferungen einstellen und der Ukraine dem Good-Will eines Wladimir Putins ausliefern. Aber was ist so unmöglich an dem Gedanken eines Waffenstillstands entlang einer (vielleicht gegenseitig bereinigten) Frontlinie – mit einer neutralen z.B.10-Kilometer-Zone, in der Truppen der Friedensvorschlags-Mächte wie Brasilien, der Türkei und Indien stationiert sind?  Eine solche Linie zu durchstoßen und die genannten Staaten zu brüskieren, würde Russland einen ungeheuer teuren Preis kosten. Und eine zur Defensive frisch erholte Ukraine hätte selbst in diesem Fall eine gute Abwehrchance. Natürlich unter der Bedingung, dass alle verschleppten bzw. verhafteten Ukrainerinnen in die Kernukraine zurückkehren können. Auch für dieses Ziel ist die Unterstützung von für Russland wichtigen Mächten wie Brasilien, Indien und Südafrika wichtig.

Das Dogma 4 unterschätzt außerdem die psychologische Wirkung von Krieg und Nicht-Mehr-Krieg auf Russland. Krieg schafft eine fiebrige Mobilisierungsatmosphäre, in der das Regierungslager zum unbedingten Zusammenhalt gezwungen wird. Zwischentöne dürften dagegen eher in einer Nicht-Mehr-Kriegs-Situation lauter werden. Die Anzeichen sprechen dafür, dass auch die Putin-tolerierende Mehrheit den Krieg nicht will – und nach einem Einfrieren erst recht keine Neuauflage von 2022. 

Zusammengefasst: So sympathisch mir der Mensch Robert Habeck und sein allgemeiner Politikstil sind – in seiner Oster-Ukraine-Rede klafft ein großer Widerspruch zwischen dialogischer Form und anti-argumentativem Inhalt. Anti-argumentativ, weil er solche auf der Hand liegenden Gegenargumente nicht einmal diskutiert, sondern nur seine Dogmen postuliert.

Meine Frage: Was ist der sachliche Konflikt hinter den Kulissen zwischen den „Mützenichs“ und den „Habecks“? 

Ich vermute, dass es tatsächlich gar nicht um die Frage: „Kapitulation der Ukraine – ja oder nein“ geht. Sondern um den Preis für ein Kriegsende. Ob sich die Ukraine im Wesentlichen mit den russischen Eroberungen abfindet und auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet. Oder eben nicht!

Ich weiß nicht, wie es den Leserinnen dieses Textes geht, aber ich habe den Eindruck, dass hinter den Kulissen zwischen Unter-Unter-Händlern ein zähes Ringen um die Konditionen eines Kriegsendes stattfindet. Von dem wir nichts mitbekommen – und auf das sich sowohl die „Mützenich“-Bemerkung bezieht als auch die einschwörende Rede von Robert Habeck.  

Ich sehe DREI Hauptpositionen in der Ukraine-Frage. Erstens diejenigen, die unseres lieben Friedens und billigen Gases wegen, die Ukraine mehr oder weniger zur Kapitulation auffordern (Was ich eine abstoßende Position finde!). Zweitens die totale Gegenposition derjenigen, die bereit sind, die Ukraine unbegrenzt zum totalen Sieg im Sinne der Rückeroberung aller Gebiete und zur demütigenden Niederlage Russlands zu unterstützen (Was ich zunehmend auch als abstoßend empfinde – auch weil es nicht unser Leben und unsere Gesundheit sind, die für den heldenhaften Kampf der anderen riskiert werden) und Drittens: Starke militärische Unterstützung der Ukraine, aber nicht zum Endsieg über Russland, sondern zur Aushandlung eines Kompromisses auf Augenhöhe, der die garantierte Souveränität der heute unbesetzten Ukraine einerseits beinhalten müsste, aber andererseits die zumindest stillschweigende Anerkennung der russischen Eroberungen und Annexionen. 

Exkurs: Es gibt einen eklatanten Mangel an Bewusstsein für Zerfallsprozesse von Viel-Völker-Staaten

Obwohl fast alle blutigen Konflikte in Europa nach 1945 Folgen und Spätfolgen der Auflösung von Viel-Völker-Staaten sind, werden sie mit den Kategorien von westeuropäischen Nationalstaaten vor 1945 analysiert und bewertet. Also nach dem Schema, das für Konflikte zum Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich passte – aber nicht für die gegenwärtigen. 

Seit 1912 sind drei Riesenstaaten (das Osmanische Reich, das Habsburger Reich und die Sowjetunion) und dazu noch der jugoslawische Vielvölkerstaat zerfallen. Und nur in den seltensten Fällen fand dieser Zerfall einigermaßen einträchtig entlang klarer Grenzen statt – wie ausnahmsweise 1991 zwischen Tschechien und der Slowakei. 

Typisch für Zerfallsprozesse von Vielvölkerstaaten ist: 

  • Während ihrer Existenz spielen die Grenzen der Untergliederungen kaum eine Rolle. Was hat die Sowjetbürgerinnen auf der Krim im Jahre 1954 interessiert, dass damals die Halbinsel von der Russischen Föderativen Sowjetrepublik abgetrennt und der Ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert wurde? Fast nichts! (Immerhin hat sich der Parteichef der bis dahin russischen Krim so gegen diesen Bruch der russischen Verfassung gewehrt, dass er seines Amtes enthoben wurde.) In der Lebensrealität aber blieb alles gleich: Vom wirtschaftlichen und politischen System bis zu den Banknoten und den Briefmarken. Dieser Mangel an Bedeutung von Untergrenzen innerhalb von Viel-Völker-Staaten hat Gebietseinheiten ermöglicht, die ethnisch sehr heterogen waren.
  • Dies ändert sich schlagartig mit dem Zerfall, wenn aus Untereinheiten plötzlich souveräne und vor allem national-bewusste Staaten werden. Wie mit der Divergenz zwischen völkerrechtlichen und ethnischen Grenzen umgehen? 
    Auffallend ist den meisten neuen Nationalstaaten das Fehlen des Gegenseitigkeitsprinzips: Ob im unabhängigen Kroatien oder im Georgien nach 1990 – pathetisch wird das Recht auf nationale Unabhängigkeit gegenüber dem bisherigen Viel-Völker-Staat eingefordert und es gleichzeitig genauso selbstverständlich den Minderheiten im eigenen neuen Staat verweigert – so den kroatischen Serben oder den Abchasen. 
  • Für den EU-Russland-Konflikt wichtig ist das sehr widersprüchliche Verhalten von EU und NATO gegenüber Serbien/Kosovo: Meines Erachtens richtigerweise hat die NATO nach den bosnischen Erfahrungen 1999 im Kosovo interveniert und die albanisch-kosovarische Bevölkerung vor der serbischen Soldateska geschützt.
    Indem sie aber mit brutaler Gewalt Serbien zum Abzug aus diesem serbischen Territorium gezwungen und 2008 auch den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt hat (was ich letztendlich richtig finde), hat sie aber das auch gegenüber Russland hochgehaltene Prinzip der Unverletzlichkeit völkerrechtlicher Grenzen selbst gebrochen. (Sie hat formal das Gleiche gemacht wie Russland mit den sogenannten ostukrainischen Volksrepubliken.) 
Fotografiert vom Gjeravica-Gipfel aus, Kosovos höchstem Berg (2656 m)
(FitimSelimi auf wikimedia commons)

Ein – für mich sogar schlüssiges – EU-Argument für den Bruch des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen war: Der überwiegend kosovarischen Bevölkerung sei es nicht mehr zuzumuten, weiter im serbischen Staatsverband zu leben. 

Genauso empfindet es aber umgekehrt auch die serbische Bevölkerungsmajorität im Nordzipfel des Kosovos (Das immer wieder in die Schlagzeilen geratene Gebiet um Mitrovitza), die den Anschluss an das direkt angrenzende Serbien verlangt. Nur hier schaltet die EU mal wieder um: Vom „ethnischen Unzumutbarkeitsargument“ (wie bei den Kosovaren) auf das „Unverletzlichkeit-Argument der Grenzen“, mit dem die EU die befriedende Bereinigung des Konflikts ablehnt.

Diese westliche „Völkerrechts-Moral à la carte“ zerstört moralische Glaubwürdigkeit. Statt dieser moralisch-völkerrechtlichen Beliebigkeit braucht es endlich ein Bewusstsein für die Besonderheit von Zerfallsprozessen (von Vielvölkerstaaten) und realistische Kriterien für Zugehörigkeiten und Aufteilungen.

Aus dem Amt getrieben

Im Ukraine-Konflikt schon vor 2022 haben sich mindestens zwei Ebenen überlagert: Die innenpolitische Dimension von zunehmender Autokratie (Russland) und tendenzieller Demokratie (Ukraine) einerseits und andererseits die der Nicht-Übereinstimmung der ethnischen mit den völkerrechtlichen Grenzen. Bekanntlich war vor 2013 eine ungefähre Hälfte der ukrainischen Bevölkerung nicht nur russisch-sprachig, sondern auch überhaupt Russland-orientiert. Das dokumentierte sich im (unbestritten demokratischen) Wahlergebnis noch 2010 für den Russland-freundlichen Präsidenten Janukovitch. Der 2013 durch Umstände aus dem Amt getrieben wurde, die wir im Westen – wenn es sich um einen westlich orientierten Politiker gehandelt hätte – wahrscheinlich mit Begriffen wie Putsch bezeichnet und auf jeden Fall als illegal betrachtet HÄTTEN. (Auch wenn meine persönlichen Sympathien den überwiegend Europa-und Modernisierungs-freundlichen Maidan-Demonstranten gehören, es widerspricht unserem basalen Demokratieverständnis, wenn eine Massendemonstration einen demokratisch gewählten Präsidenten aus dem Amt treiben kann. Und dass man aus Russisch-Putinscher Sicht die Billigung eines solchen Vorgangs durch den Westen auch als Zeichen für westliche Machtpolitik werten kann, ist so unverständlich nicht.) 

Euromaidan-Collage: Im Uhrzeigersinn von oben links: Eine EU-Flagge weht am 27. November 2013 auf dem Maidan, die Oppositionsaktivistin und populäre Sängerin Ruslana spricht am 29. November 2013 zu den Menschen auf dem Maidan, Pro-EU-Kundgebung auf dem Maidan, Euromaidan auf dem Europaplatz am 1. Dezember, ein mit Fahnen und Plakaten geschmückter Baum, Menschen, die Schläuche auf die Miliz richten, Sockel der umgestürzten Lenin-Statue. (Lystopad auf wikimedia commons)

Aus dieser Perspektive wird eine Reaktion (des „nun halte ich mich auch nicht mehr an Regeln“) verständlicher, auch wenn die anschließende Besetzung der Krim und das Vorgehen in den „Volksrepubliken“ nicht zu entschuldigen sind. Ein Vorgehen, das schon 2014 und erst recht 2022 auch die ganz große Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer gegen Russland aufgebracht hat. Insofern hat Putin paradoxerweise die Schaffung EINER ukrainischen Nation vollendet. So dürfte die – vielen sowjetisch-russischen Militäreinsätzen eigene – Extrem-Brutalität die „russischen Ukrainer“ gegen Russland aufgebracht und erst von einer eigenständigen Ukraine überzeugt haben.

Waffenlieferungen – zu welchem Zweck?

Aber auch wenn es angesichts des Tabubruchs „Angriffskrieg und Massaker“ (wie dem von Butscha) schwerfällt, das zur Kenntnis zu nehmen: Aus einer „naiv-nationalen“ Sicht der russischen Mehrheitsbevölkerung heraus ist die Ukraine genauso wenig AUSLAND wie es für die zentralspanische Bevölkerung ein abgetrenntes Katalonien oder für die englische Bevölkerung ein unabhängiges Schottland wären. Das sollten wir vor Augen haben und nicht die Putin=Hitler-Gleichsetzung, von einem unersättlichen Gebietsausdehner. Das schreibe ich als jemand, der Putin moralisch genauso bewertet wie wohl fast alle Leserinnen dieses Textes.

Aber genauso wie der Westen Mitte der 90er mit dem Massaker-verantwortlichen Präsidenten Milosevic verhandelt hat, so kann auch dieser Krieg nur durch Verhandlungen mit Putin beendet werden. Putin hat im Februar 2022 hoch gepokert und ist peinlich gescheitert. Dies zuzugeben wäre wahrscheinlich auch sein physisches Ende. Darum braucht es eine auch für ihn gesichtswahrende Lösung. Und so zeichnet sich als einzig möglicher Kompromiss LAND (die Krim und Ostgebiete) gegen FRIEDEN (in Freiheit und Souveränität der Ukraine) ab. Die Frage sind nicht Waffenlieferungen an sich – sondern zu welchem Zweck? Für das zunehmend unrealistische Ziel der Rückeroberungen und des SIEGS über Russland ODER für Verhandlungen auf Augenhöhe und einen Kompromiss?

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Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

1 Kommentar

  1. Ich konzentriere mich bei meiner Kommentierung auf den folgenden Aspekt in dem Text des Bahn-Experten Hendrik Auhagen; siehe die eigenen biografischen Angaben. Er führt aus: “Bekanntlich war vor 2013 eine ungefähre Hälfte der ukrainischen Bevölkerung nicht nur russisch-sprachig, sondern auch überhaupt Russland-orientiert. Das dokumentierte sich im (unbestritten demokratischen) Wahlergebnis noch 2010 für den Russland-freundlichen Präsidenten Janukovitch. Der 2013 durch Umstände aus dem Amt getrieben wurde, die wir im Westen – wenn es sich um einen westlich orientierten Politiker gehandelt hätte – wahrscheinlich mit Begriffen wie Putsch bezeichnet und auf jeden Fall als illegal betrachtet HÄTTEN.”
    Damit teilt Auhagen die Erzählung von Putin, das jetzige angeblich nicht-demokratische ukrainische Regime sei mit vereinten Kräften von CIA, anderen westlichen Geheimdiensten und Rechtsradikalen installiert worden, um Russland zu vernichten. Weil diese Erzählung für Putin Grundlage für seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist, deshalb muss sie nicht falsch sein.
    Jedoch: Gegen diese Erzählung kann einiges eingewandt werden. So macht beispielsweise der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge in einer Analyse vom 31.3.2014 (dokumentiert in dem Suhrkamp-Band: Euromaidan, Was in der Ukraine auf dem Spiel steht) auf Folgendes aufmerksam: Beispielsweise auf der Krim (Zahlen von 2001) leben etwa 60 Prozent Russen und 25 Prozent Ukrainer. Jedoch sprachen sich bei Umfragen in 2013 und 2014 jeweils deutlich weniger als die Hälfte (Höchstwert: 41 Prozent) der Befragten für eine Vereinigung mit Russland aus. Mit anderen Worten: Für die Bevölkerung ist nicht einmal die geschichtspolitisch so naheliegende Wiedervereinigung der Krim mit Russland selbstverständlich.
    Ein zweiter Beleg: Ein möglichst gutes Verhältnis der Ukraine zu Russland war vor allem für die ukrainische Partei der Regionen ein Thema. Viel Anklang fand sie mit ihrem Programm im Osten und im Süden der Ukraine. Jedoch stimmten bei Umfragen sogar im sogenannten russlandfreundlichen Osten maximal ein Drittel der Bevölkerung für eine Vereinigung mit Russland.
    Ein dritter Beleg: Alle Umfragen in den Jahren zwischen 2004 und 2014 zeigten jeweils eine klare Bevölkerungsmehrheit für eine Mitgliedschaft in der EU, lediglich ein Viertel der Bevölkerung plädierte in diesem Zeitraum jeweils alternativ für eine Zollunion mit Russland und Belarus.
    Das heißt: Wenn während des Maidan viele Zehntausende wochenlang in Kiew oder Charkiw für etwas mehr Demokratie und weniger Putin-Russland demonstrierten und damit ihr Leben riskierten, dann vertraten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine. So sehen CIA-Putsche aus.

    Auhagen legt zudem Wert auf die Feststellung, wir alle — wer immer das sein mag — sollten vor Augen haben, dass Putin NICHT mit Hitler gleichgesetzt werden könne und dass es sich bei ihm NICHT um einen “unersättlichen Gebietsausdehner” handle. Richtig ist: Es gibt viele Hinweise, warum es angemessen ist, Putin mit Hitler zu vergleichen, aber nicht gleichzusetzen. Auch ist er eventuell kein unersättlicher Gebietsausdehner — welch` eine Sprache: wenn Putin mit Gebietseroberungen gesättigt werden kann, dann ist er also gut, wenigstens erträglich, ja? —, auch das kann richtig sein, was Auhagen annimmt. Das ändert jedoch nichts daran, dass er ein Imperialist ist, denn er sieht in seinem Russland eine Großmacht, die das komplette Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, also uneingeschränkt auch alle inzwischen souveränen Nachfolgestaaten wie die Ukraine, die baltischen Staaten etc. etc., als seine Einflusssphäre betrachtet. So hat Russland bereits seit 2010 in mehreren Gesetzen festgehalten, der russische Staat habe das Recht und die Aufgabe, “die Interessen und Rechte von Russen und Russischsprachigen im Ausland … zu schützen” und im Notfall auch mit eigenen Streitkräften auf fremden Territorium zu verteidigen; so der Inhalt einer Militärdoktrin aus 2010.
    Vor diesem Hintergrund deutet Putin-Russland die Ereignisse rundum den Maidan, im Februar 2014, folgerichtig als “verfassungswidrigen Umsturz und bewaffnete Machtergreifung”. Auhagen hält es für verständlich, das so zu sehen, wir (im Westen) würden das umgekehrt ja auch so sehen – aber wir könnten ja auch mal was falsch sehen; auf diese Idee kommt Auhagen gar nicht.

    Bleibt zum Schluss noch die mir von Auhagen zudem bereitete Irritation: Der Westen und die Ukraine müssten sich um eine gesichtswahrende Lösung für Putin einsetzen, denn alles andere bedeutete dessen “physisches Ende”. Hat Putin soviel Fürsorge verdient? Ich vermute, Fürsorge des Westens stachelt ihn zu noch mehr Imperialismus an.

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