Interessenpolitik und Menschenrechte – eine Erwiderung

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Selbstverständlich ist es legitim und aus meiner Sicht sogar zwingend geboten, auf die Demokratisierung der Welt als einen unverzichtbaren Moment auf dem Weg zu einer dauerhaften und nachhaltigen Ächtung von Krieg zu pochen; selbstverständlich ist es angesichts der zunehmenden Verbreitung von Autokratie und Faschismus im Denken und Handeln geboten, die Staats – und Lebensform der westlichen Welt, die in ihr gewährleisteten Regeln von Freiheit und Zivilgesellschaft als (allerdings unvollendete) Grundlagen und Errungenschaften der liberalen Demokratie und des sozialen Rechtsstaats zu verteidigen – auch und aktuell vielleicht besonders gegenüber Russland. In seinem Beitrag “Interessenpolitik – mit oder ohne Menschenrecht” ist Klaus Lang „fassungslos“, dass nicht alle, die diese Position teilen, ihm auch in seiner Perspektive auf den Ukrainekrieg folgen und wie er meinen, durch weitere Waffenlieferungen an die Ukraine „den Bombenterror Russlands und den Vormarsch seiner Truppen“ stoppen zu können „sowie der Ukraine erkennbar die Chance zu geben, verlorene Gebiete zurückzuerobern“. Erst danach, so meint er, könnten „Verhandlungen … in Angriff genommen werden“. Ich hingegen bin der Meinung, Verhandlungen müssten sofort in Angriff genommen werden – und will das im Folgenden erläutern.

Ich bin wie Du, Klaus, fassungslos – allerdings wissend, dass meine Fassungslosigkeit Dich nicht per se ins Unrecht setzt, genauso wenig wie Deine Fassungslosigkeit meine Sicht der Dinge per se delegitimiert. Ich bin fassungslos, ob Deiner Argumentationsführung, die kein Abwägen, kein Nachfragen, keine Relativierung zulässt, kein Handeln in Prozessen und Zeitabläufen – nur bedingungslose Zustimmung oder Ablehnung im Hier und Jetzt. Ich nenne das eine Kriegsrhetorik, die nicht wirklich hilft.

Du hast selbstverständlich recht, dass „der Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine eine russisch-imperialistische und eine global-politische Komponente“ hat. Es geht Putin um Macht und Einfluss und durchaus auch um ökonomische Interessen; gleichzeitig richten sich der Krieg und seine Protagonisten „gegen die Staats – und Lebensform der westlichen Welt, gegen Demokratie und Rechtsstaat, gegen Freiheit und Zivilgesellschaft“. Genauso zweifellos hat allerdings die westliche Ukraine-Politik eine westlich-imperialistische und eine global-politische Komponente. Auch hier geht es um Macht, Einfluss und durchaus auch ökonomische Interessen; gleichzeitig verteidigt „der Westen“ mit seiner ökonomischen, politischen und militärischen Unterstützung der Ukraine auch „die Staats – und Lebensform der westlichen Welt“, Freiheit, Demokratie und Wohlstand als (noch einmal: unvollendete) Grundlagen und Errungenschaften der liberalen Demokratie und des sozialen Rechtsstaats.

Katastrophales Potential

Es geht nicht darum, „dem Westen, den USA und der NATO“ wegen ihrer Osterweiterung und/oder ihrer interessenpolitisch grundierten Geo-Politik eine Mitschuld oder gar Hauptschuld am Krieg in der Ukraine zu geben. Es geht vielmehr darum, dass der Westen nicht wirklich alles getan bzw. unterlassen hat, was er unter Wahrung seiner Interessen und des allgemeinen Interesses an Frieden, Wohlstand und Demokratie hätte tun bzw. unterlassen können, um diesen Krieg zu verhindern. Und dass er auch jetzt nicht alles tut bzw. unterlässt, dass er tun oder unterlassen könnte, um diesen Krieg zu beenden. Es geht darum, dass nicht nur Russland sondern auch der Westen akzeptieren müssen, dass imperiale Motivationen und Praktiken der Geo-Politik unter den gegebenen Weltverhältnissen ein katastrophisches Potential enthalten, das die Schuldfrage zweitrangig werden lässt. Die Demokratisierung der Welt ist ein unverzichtbares Moment auf dem Weg einer dauerhaften und nachhaltigen Ächtung von Krieg als einem inakzeptablen Mittel der Politik, sie kann aber nicht – wie wir schon seit Immanuel Kant wissen – in gewaltförmiger Weise „von oben und von außen“ durchgesetzt werden, sondern sie muss „von unten und von innen“ wachsen.

Selbstverständlich haben demokratische Organisationen und Staaten das Recht, Demokratisierungsprozesse zu unterstützen und zu fördern, vielleicht sogar zu initiieren, aber sie können sie nicht durch gewaltsame Interventionen ersetzen. So wie sich DemokratInnen innerstaatlich zu Parteien und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen verbinden, um Demokratisierungsprozesse zu befördern und gegen Gegner und Feinde zu sichern, so können sich auch demokratische Staaten zu supranationalen Institutionen verbinden, die gleichsam einen Machtbereich der Demokratie im Konflikt mit Autokratien und Diktaturen markieren.
Es ist aber schon innerstaatlich nicht immer einfach, trennscharf zwischen wertebasierten und –orientierten politischen Parteien und Gruppierungen sowie sozialen Bewegungen auf der einen Seite und Interessensverbänden, die vorrangig ihren (ökonomischen) Vorteil im Blick haben, zu unterscheiden. Geopolitisch haben Politik und Ökonomie fast immer eine Doppelstruktur zugrundeliegender Interessen und Werte. Umso dringlicher ist die programmatische Trennung zwischen der Beförderung von Demokratisierungsprozessen einerseits und der Verfolgung ökonomischer Interessen andererseits. Umso kontraproduktiver sind falsche Vereinseitigungen der Nato zum Demokratieagenten oder auch Denunziationen aller Bemühungen um unverzügliche Verhandlungen im Ukraine-Konflikt als Verrat an der Integrität der Ukraine, als „Zeichen militärischer Schwäche, politischer Ohnmacht und moralischer Unzuverlässigkeit“ des Westens, „als Bruch eines Versprechens zur Sicherung von Völkerrecht und Menschenrechten“.

“Bestimmende Weltmacht”

Je enger Interessenspolitik und Menschenrechte miteinander verwoben sind, umso dringlicher ist eine praktische Abwägung unterschiedlicher, gegensätzlicher, aber miteinander verflochtener Interessen, Werte und Belange. So wurde beispielsweise in westlichen Staaten die Legitimität der Nato-Osterweiterung von kaum jemand bezweifelt, dennoch gab es gewichtige Einsprüche gegen deren praktischen Vollzug – auch von „unverdächtiger Seite“ wie US-Sicherheitsexperten (vgl. den sehr informativen Wikipedia-Eintrag zur Nato-Osterweiterung) oder auch von Bundeskanzler Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Der ehemalige FDP-Außenminister hat beispielsweise den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes nach dessen Auflösung „grundsätzlich das Recht zugestanden, der NATO anzugehören, jedoch deutlich gemacht, es gehe ‚jetzt aber darum, dieses Recht nicht auszuüben‘.

Hans-Dietrich Genscher (1927-2016) (Foto, 1977: Ludwig Wegmann auf wikimedia commons)

Strategische Optionen spielen im Ukraine-Konflikt eine sehr viele größere Rolle als es der zweifellos richtige und dringliche, dennoch absehbar folgenlose Appell an Putin – „Stoppen Sie die Zerstörung und Verwüstung der Ukraine, beenden Sie Sterben und Verelendung der Menschen“ – eingesteht und auch als in den hiesigen Medien offen kommuniziert wird. Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine verfolgen aktuell nicht das Ziel, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Es geht auf absehbare Zeit „nur“ noch darum, dass Russland den Krieg, den es mit erheblichem Aufwand und erbarmungsloser Härte gegen die Ukraine führt, nicht gewinnt. Eines der zentralen Motive ist dabei die Ächtung des Krieges als einem zum Scheitern verurteilten Instrument imperialer Machtansprüche nicht nur von Russland sondern auch von China.
Ein weniger ehrenvolles Motiv dürfte allerdings darin liegen, die eigene, ebenfalls imperial orientierte Geopolitik gegen potentiellen Widerstand u.a. aus Russland abzusichern, um so unangefochten den globalen Führungsanspruch des Wesens, der Nato, der USA auch noch über die aktuelle Zeitenwende zu retten. Genau dies hat Olaf Scholz schon in einem Beitrag in foreign affairs vom Dezember 2022 unmissverständlich artikuliert: Zwar markiere die globale Zeitwende den Übergang in eine „multipolare Welt“; die Vereinigten Staaten würden darin allerdings die Rolle einer „bestimmenden Weltmacht“, wie sie sie in den letzten 30 Jahren eingenommen haben, „auch in 21. Jahrhundert beibehalten“

Wieso ausgerechnet Realpolitiker des Formats von Klaus Lang, der allen Respekt für erfolgreiche Politiken im Spannungsfeld von Interessen und Werten, Machtverhältnissen und grundsätzlichen Überzeugungen verdient, jetzt im Ukraine-Konflikt zu Fundamentalradikalen mutieren, macht mich nicht nur fassungs-, sondern auch ratlos.

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Ingrid Kurz-Scherf
Ingrid Kurz-Scherf ist emeritierte Professorin für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt "Politik und Geschlechterverhältnis" am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterpolitik, Politischer Feminismus, Arbeits- und Sozialpolitik, Politische Ökonomie der Demokratie, Gewerkschaften.

2 Kommentare

  1. Um die Fassungslosigkeit auf beiden Seiten wenigstens zu minimieren, führte vielleicht die Frage weiter: welche Waffen werden geliefert? Denn: Was kann Frau Kurz-Scherf dagegen haben, wenn die Ukraine Panzer-Abwehrraketen und Luftabwehr-Raketen erhält, um die ständigen Angriffe effektiver als bisher abwehren zu können? So wie es Israel gegenüber dem Angriff der Iraner vermochte.
    Und wer wie sie sofort verhandeln will, müsste sie nicht wenigstens ihre Einschätzung preisgeben: an wem scheitert das in der Hauptsache? Böte Putin öffentlich Verhandlungen über einen Waffenstillstand an, wer würde da Nein sagen. Böte einer aus dem Westen das an, warum sollte Putin Ja sagen.

    1. Sehr richtig! Von den Kritikern der westlichen Waffenlieferungen (die bekanntlich nur zögerlich und stockend erfolgen) wird ein Popanz aufgebaut, als würde man Verhandlungen zu Waffenstillstand und Frieden ablehnen. Man ignoriert dabei, dass Verhandlungen aus einer Position der Schwäche auf eine Kapitulation hinauslaufen. Das müsste eigentlich gerade Gewerkschaftern bekannt sein.

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