Offen für jeden Strohhalm – eine Antwort

Screenshot: Website NATO

Auf „Interessenpolitik und Menschenrechte – eine Erwiderung“ eine Antwort. Es freut mich, dass wir an sehr vielen wichtigen Punkten einer Meinung sind. Natürlich sind die Grundlagen und Errungenschaften der liberalen Demokratie und des sozialen Rechtsstaates unvollendet und fehlerhaft, ständig zu verteidigen und möglichst zu verbessern. Aber dass Verbesserungen möglich sind, ist ja ein entscheidendes Kennzeichen der Qualität dieses Systems. Andererseits ist es auch immer fragil und bedroht, weil der Rechtsstaat nur rechtsstaatlich verteidigt werden kann. An einer entscheidenden Stelle, Ingrid, verschiebst Du bewusst oder unbewusst den Grund meiner Fassungslosigkeit. Ihre Ursache ist, so formuliere ich deutlich, dass „dem Westen, der USA und der NATO wegen ihrer Osterweiterung… eine Mitschuld, vielleicht sogar die Hauptschuld an diesem Krieg gegeben“ wird.

Ich begründe das dann damit, dass die NATO als Führungsmacht seit fast 80 Jahre die Grundlage des politischen Systems und der gesellschaftlichen Lebensweise ist, die auch Du des Verteidigens wert findest, und dass es legal und legitim, keiner Kritik bedürftig war, dass die osteuropäischen Staaten NATO Mitglieder geworden sind.

Natürlich kann man dennoch skeptisch gegenüber weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine sein und den Ruf nach Verhandlungen und Diplomatie immer wieder erneuern, auch wenn der im Nichts verhallt. Das macht mich dann nicht fassungslos, sondern ratlos.

Ich widerspreche dir

Meine Position ist Ergebnis vieler Überlegungen, offen für neue Entwicklungen, für jeden Strohhalm, der die Zerstörung der Ukraine verhindert und den gesamten Krieg nicht zu Lasten der Ukraine als souveränem Staat beendet – aber ich sehe das bis heute nicht. Niemand ist doch gehindert, diplomatische Schritte auf Russland hin zu unternehmen, öffentlich oder geheim. Alle mir bekannten Vorschläge wollen die Gewichte aber zu Lasten der Ukraine schon vor jedem Verhandlungsbeginn verschieben durch Reduzierung der Waffenlieferungen an die Ukraine und/oder deren partiellen oder zeitweisen Verzicht auf Gebiete und Gebietsansprüche. Eine Einschränkung der Waffenlieferungen würde nicht zu mehr Diplomatie, sondern zum Erfolg Russlands und zu unser aller Nachteil führen.

Diplomatie zur Beendigung des Angriffskrieges kann erst dann erfolgreich werden, wenn der „zweifellos richtige und dringliche“ Appell an Putin aufgrund militärischer Unterstützung der Ukraine und wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland sowie des diplomatischen Drucks durch andere Staaten (die allerdings ohne weitergehenden militärischen und ökonomischen Druck des Westens sofort erlahmten), nicht mehr „absehbar folgenlos“ ist.

Ich widerspreche Dir an einem Punkt, wenn Du schreibst, „die westliche Ukraine-Politik hat eine westlich-imperialistische und eine global-politische Komponente“. Die global-politische sehe ich darin, den Macht- und Einflussbereich autoritärer und totalitärer Regime, also vorwiegend China und Russland im Verbund mit dem Iran, Nordkorea und Syrien, global nicht weiter wachsen zu lassen. Ich nehme an und hoffe, dass Du diese Position teilst. Ich sehe allerdings keine „westlich-imperialistische“ Komponente, denn in keinem Fall streben die Ukraine selbst oder die Nato oder einer ihrer Mitgliedsstaaten die Besetzung, Beherrschung oder Vernichtung andere souveräner Staaten oder Teilen von ihnen an. Das wäre Imperialismus, so wie ihn Russland am Beispiel der Ukraine exemplarisch praktiziert.

Xi Jinping und Wladimir Putin, BRICS-Gipfel 2015
(Foto: Pressedienst des Präsidenten Russlands auf wikimedia commons)

Hat Russland je gefragt…

Du unterscheidest dann feinsinnig, dass es nicht darum gehe „dem Westen, den USA oder der NATO“ eine Mitschuld oder gar Hauptschuld an dem Krieg in der Ukraine zu geben, aber machst dann genau das, indem Du in Frage stellst, ob der Westen alles getan hat, den Krieg zu vermeiden. Ich sehe in dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts viele Ungereimtheiten in der russischen Politik, auch in den Beziehungen der NATO oder des Westens zu Russland. All die Debatten um die NATO-Osterweiterung ändern aber nichts daran, dass die osteuropäischen Staaten schließlich der NATO beigetreten sind, ein Akt, dessen Legitimität und Legalität auch von Russland damals nicht bezweifelt worden ist. Russland hat sich zwar machtpolitisch bedrängt gesehen – aber was sollte den Westen zwingend dazu veranlassen, darauf Rücksicht zu nehmen?

Hat Russland je gefragt, ob der Aufbau der Basis für Atomwaffen in Kaliningrad Deutschland oder den Westen bedroht? Der Westen, insbesondere Deutschland, hat politische und besonders ökonomische Brücken gebaut, die sich nicht als tragfähig erwiesen haben. Parallel dazu wurde in Russland die Stalin-Ära enttabuisiert, verbunden mit imperialistischen Ansprüchen nach außen und repressivem Vorgehen nach innen zur Einschränkung von Opposition und Zivilgesellschaft. Nichts an dem, was der Westen, die USA, die NATO nach 1989/1990 getan oder unterlassen haben, kann aus meiner Sicht die Annexion der Krim und die militärische Unterstützung oder Initiierung der Separationsbestrebungen im Osten der Ukraine 2014 und den Angriffskrieg vom Februar 2022 rechtfertigen. Die Demokratie kann sicher nicht immer „von oben und von außen durchgesetzt werden“, wobei wir gerade den 8. Mai hinter uns haben, der Tag, der uns an das exakte Gegenteil erinnert. Aber der Angriff auf die Demokratie in einem anderen souveränen Staat muss auf seinen Wunsch hin auch „von außen und von oben verteidigt werden“. Nicht umsonst schützt die UNO-Charta dieses Recht der Unterstützung zur Selbstverteidigung bedingungslos.

Wertebasierte Realpolitik

Ich teile Deine Meinung, dass strategische Operationen bei der Verteidigung der Ukraine eine große Rolle spielen, die aber m.E. das hartnäckige und vielleicht naiv klingende Erinnern daran, dass Putin und die Führung Russlands diesen Krieg begonnen haben und jederzeit beenden könnten, nicht überflüssig machen. Sehr zutreffend formulierst Du, dass es darum geht, den Krieg als Mittel zur Realisierung imperialer Machtansprüche von Russland und China zu ächten. Dieses Ziel sollte auch angesichts eines „katastrophischen Potentials“ nicht aufgegeben werden, denn was wäre damit gewonnen? Aber wohl anders als Du sehe ich es auch als legitimes Ziel an „den globalen Führungsanspruch des Westens, der Nato, der USA auch noch über die globale Zeitenwende zu retten“.

Damit komme ich auf den Ausgangspunkt zurück: Wenn wir darin übereinstimmen, dass es selbstverständlich ist, „die Staats- und Lebensform der westlichen Welt, die in ihr gewährleisteten Regeln von Freiheit und Zivilgesellschaft als (allerdings unvollendete) Grundlagen und Errungenschaften der liberalen Demokratie und des sozialen Rechtsstaates zu verteidigen“ und dies bislang im Einflussbereich des Westens, der NATO und USA besser gelungen ist und weiter gelingt als in den autoritären und totalitären Macht- und Einflussbereichen Russlands oder Chinas, dann ist der Erhalt dieser Vormachtstellung im Sinne der Sicherung der liberalen Demokratie und des sozialen Rechtsstaates auch im 21. Jahrhundert ein legitimes, ja geradezu zwingendes Interesse. Das ist wertebasierte Realpolitik.

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Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

3 Kommentare

  1. Wenn man über die Rolle der Nato spricht, scheint es mir sinnvoll zwischen Kontext und Rechtfertigung zu unterscheiden. Was auch immer man über die Nato-Osterweiterung denkt, sie ist keine Rechtfertigung für den russischen Angriff auf die Ukraine. Will man aber den tragischen Entwicklungspfad von der Gorbatschow Euphorie bis Butscha erklären, dann ist dafür der historische Kontext ein wichtiges Element. Wie konnte es geschehen, dass aus der großen Hoffnung eines gemeinsamen Europas unter Einschluss von Russland nichts übriggeblieben ist?

    Wenn man nicht von der Unvermeidlichkeit von Geschichte ausgeht, sind Entscheidungen in der Vergangenheit danach zu untersuchen, wie sie bestimmte Entwicklungen gefördert oder behindert haben. Da gibt es in den letzten dreißig Jahren viele Momente, bei denen ein anderes Verhalten des Westens besser geeignet gewesen wäre, Russland für eine andere Politik zu gewinnen oder Putin in die Schranken zu weisen.

    Natürlich hat niemand das Recht, einem anderen Land zu verbieten, der Nato oder der EU beitreten zu wollen. Aber zumindest was die EU angeht, hat die EU sich auch immer die Option offengehalten, einen solchen Wunsch nicht zu erfüllen. Die Türkei befand sich seit den sechziger Jahren im EU-Wartesaal. Es gab gute interne Gründe, sie nicht aufzunehmen, aber auch gute geopolitische Gründe, sie aufzunehmen. Möglicherweise wäre bei einem Beitritt die autoritäre Wende unter Erdogan nicht erfolgt, ebenso ist vorstellbar, dass die EU an der Herkulesaufgabe der Integration der Türkei zerbrochen wäre.

    So wurde auch die Option der Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine im Westen unterschiedlich beurteilt. Nicht weil Merkel oder Sarkozy 2008 in irgendwelcher Weise das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine in Frage gestellt hätten, sondern weil nicht alles, was völkerrechtlich legitim auch politisch klug ist. Dazu gehört bei einer Entscheidung nicht nur die eigene Absicht, sondern auch die Wahrnehmung durch andere im Auge zu haben.
    Die Nato mag nach ihrem Selbstverständnis und auch für den neutralen Beobachter ein Verteidigungsbündnis sein, dass keinerlei expansive, gegen den Willen anderer Staaten gerichtete Neigungen hat, dies befreit Entscheidungsträger aber nicht von der Notwendigkeit zur Kenntnis zu nehmen, dass dies in diesem Fall von Russland fundamental anders gesehen wird. Diese russische Haltung mag völkerrechtswidrig, imperialistisch oder gar verrückt sein, aber sie ist da und damit ein realpolitisches Faktum. Es ist dann eine politische Risikoabwägung, ob versucht wird, durch partnerschaftliche Kooperationen den östlichen Nicht-EU Staaten schrittweise den Weg in den westlichen Orbit zu ermöglichen, ohne darüber den Dialog mit Russland abreißen zu lassen, oder ob man glaubt, dass die Russen als Verlieren des kalten Krieges sowieso keine Alternative haben als einen Natobeitritt der Ukraine und Georgiens grummelnd hinzunehmen. Ich denke, darum ging letztendlich die Meinungsverschiedenheit zwischen Bush und Merkel/Sarkozy bei der 2008er Diskussion um die ukrainische Natomitgliedschaft.

    Nun ist es müßig über verpasste Gelegenheiten zu jammern, da ja heute Entscheidungen auf der Grundlage der Realitäten von 2024 zu treffen sind. Klaus Lang hält Verhandlungen in der gegeben Lage für aussichtslos. Da hat er Recht. Ich halte einen militärischen Sieg der Ukraine für aussichtslos und da habe ich recht. Was ist also in einer Situation doppelter Aussichtlosigkeit zu tun?

    Man kann hoffen, dass mit westlichen Waffenlieferungen die Ukraine den Stellungs- und Abnutzungskrieg länger durchhält als Russland; oder das Risiko entschlossener militärischer Eskalation in der Hoffnung eingehen, dass die Russen vor die Wahl zwischen Rückzug und Armageddon sich für ersteres entscheiden, weil sie doch nicht völlig verrückt sind; oder aber man kann in der einen oder anderen Variante über ein „Einfrieren der Unrechtssituation“ sprechen und dies mit der energischen wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der freien Ukraine verbinden. Bei allen drei Optionen geht es nicht darum, vor dem chinesisch-russischen Autoritarismus zurückzuweichen, sondern wie gleichzeitig ein größtmögliches Maß an Freiheit verteidigt und ein die Ukraine immer mehr verwüstender und unendliches Leid bringender Krieg gestoppt werden kann.

    Dieses Dilemma hat General Skibizki, als stellvertretender Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes unverdächtig ein Putinversteher oder Appeasment- Politiker zu sein, vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem Economist zum Ausdruck gebracht. Er sähe keine Möglichkeit für die Ukraine, den Krieg allein auf dem Schlachtfeld zu gewinnen. Selbst wenn es der Ukraine gelänge, die russischen Streitkräfte an die Grenzen zurückzudrängen – eine Aussicht, die in immer weitere Ferne rückt -, würde das den Krieg nicht beenden. „Solche Kriege könnten nur durch Verträge beendet werden“ und „gegenwärtig ringen beide Seiten um die ‘günstigste Position’ im Vorfeld möglicher Gespräche”.

    Natürlich wäre es für die Ukraine besser, aus einer Position der Stärke zu verhandeln, aber letztendlich wird es darum gehen, aus der Position heraus zu verhandeln, in der sie sich befindet. Wobei Russland ohne konsequente westliche Unterstützung der Ukraine und möglicherweise sogar kalkulierte Eskalationsdrohungen nicht an den Verhandlungstisch wird gebracht werden können. An einen Verhandlungstisch, an dem die berechtigten ukrainischen Forderungen voll umfänglich nicht werden durchgesetzt werden können.

  2. Wenn ich die letzten Sätze von Frank Hoffers Kommentar lese, so kann ich nur sagen: Dem stimme ich zu. Und darum sind eine weitere entschiedene Unterstützung der Ukraine ebenso wie die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland, deren Ende in beiden Fällen nicht absehbar sein und deren Eskalation nicht ausgeschlossen werden dürfen, so notwendig. Nicht um Russland zu besiegen, sondern um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen – mit Hilfe der diplomatischen Bemühungen all derer, die es wollen und dabei keinen Diktatfrieden Russlands im Auge haben oder vorwegnehmen wollen.
    F. Hoffer stellt zu Recht die Frage, was in den zurückliegenden mehr als dreißig Jahren passiert ist, dass die Chance einer gemeinsamen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands sich in eine neue Kriegs- und Konflikt-Unordnung verkehrt hat. Hat sich Russland unter Boris Jelzin im Umfeld seiner Wiederwahl 1996 und in seiner zweiten Amtszeit und dann besonders deutlich unter Wladimir Putin nicht weg von einer stabil werdenden politischen Demokratie und einer demokratischen Zivilgesellschaft hin zu einer autoritäreren und plutokratischen Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt? Wird denn übersehen, dass 1991/1922 die ersten von Russland unterstützten Separationsbestrebungen in Staaten der ehemaligen Sowjetunion stattfanden und 1993 in den Hauptleitsätzen der Außenpolitik der Russischen Föderation Osteuropa als zur russischen Einflusssphäre gehörig angesehen wurde, eine Position, die den osteuropäischen Staaten als bedrohlich erscheinen musste.? Dennoch wurde noch vor jedem NATO-Beitritt ehemaliger GUS-Staaten 1997 die „Grundakte“ der Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Russischen Föderation unterzeichnet und hatte Bestand, bis sich der Nato-Russland-Rat nach der Annexion der Krim kaum mehr traf und schließlich im Zusammenhang mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine beendet wurde. Trotzdem gab es in all den Jahrzehnten politische Kontakte und intensive wirtschaftliche Kooperation aufgrund derer sich Russland wohl sehr sicher wähnte. Es ist unbestritten, dass der Westen, die NATO, die USA Fehler gemacht haben. Aber keiner davon rechtfertigt das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine, weder 2014 noch 2022. Und es bleibt natürlich die Frage, ob die Aufnahme der Ukraine in die NATO 2008 schon damals einen Angriffskrieg Russlands ausgelöst oder ob mehr Konfliktbereitschaft damals nicht die jetzige Situation verhindert hätte.
    Aber darüber zu spekulieren ist momentan müßig. Der Schritt zu Verhandlungen jenseits von Niederlage und Diktat“frieden“ führt nur über den auch von Frank Hoffer skizzierten Weg.

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