AfD und der populistische Moment

Heute wird intensiv bis geschwätzig – Gutachten, Wahlanalysen, Bücher jagen einander – und bedingt erfolgreich gestritten, was Rechtspopulismus ist, woher er kommt, wohin er geht und so weiter. Es wird gerne immer wieder ganz von vorne angefangen. Zitat: „Der Geist steht … rechts. Stärker noch in Frankreich und in den USA als in der Bundesrepublik sind alle die politische Identität entwickelter kapitalistischer Gesellschaften betreffenden Streitfragen von konservativen beziehungsweise neokonservativen Ideologien `besetzt`. Gegen diese Art der kulturellen Hegemonie ist dieses Buch gerichtet.“ Das Suhrkamp-Büchlein, 136 Seiten, mit diesem Rückseiten-Text — ist wann erschienen? Vor zwei Monaten, einem? Richtig: vor 34 Jahren.

Kurzer Einschub: Diese Rezension wiederum wurde von mir vor ungefähr acht Jahren geschrieben. Und nun weiter im Text über dieses steinalte Suhrkamp-Bändchen. Was hat der Autor Helmut Dubiel zu bieten?

Helmut Dubiel, Philosoph und Soziologe, bereits 2015 gestorben, einst auch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, rekonstruiert, wie eine neokonservative und neurechte Intelligenz seit den 1960er Jahren in den USA und der damaligen Bundesrepublik bedeutende Begriffe und Debatten umdefinierte und besetzte; Befunde, welche die Grundthese von Antonio Gramsci bestätigen, politische Macht sei meist Folge einer zuvor erarbeiteten kulturellen Hegemonie. Dubiel reinterpretiert zentrale Begriffe: Demokratie, Kultur, Gleichheit, Wohlfahrt, Neue Klasse, Fortschritt. Und kommt dabei zu dem Schluss: Bann und Macht dieses neurechten Denkens könne nachhaltig nur gebrochen werden, wenn die Linke den Begriff Fortschritt neu buchstabiere.

Wer sorgt für die symbolische Integration der Gesellschaft?

Dubiel sieht in der folgenden Zäsur ein Einfallstor für den Rechtspopulismus: Es habe angelehnt an Ideen von John Maynard Keynes (Ausbau von Sozialstaat, öffentlicher Infrastruktur, antizyklische Nachfragesteuerung, Einbindung der Gewerkschaften) eine historisch besondere Ordnungspolitik gegeben. Das Besondere: Sie habe die Interessen der abhängig Beschäftigten als allgemeine Interessen anerkannt. Deshalb habe der Staat überzeugend „als klassenneutraler Agent des allgemeinen Wohls und als Treuhänder privatkapitalistischer Interessen zugleich“ auftreten können. Dieser Politiktypus habe also zugleich zweierlei geleistet: Massenloyalität erzeugen und die Volkswirtschaft politisch steuern. Aber: Bereits in den 1980er Jahren habe diese Politik aus ökonomischen Gründen nicht mehr funktioniert. Damit blieb vor allem eine Aufgabe unerledigt: Wer sorgt für die symbolische Integration der Gesellschaft und wie?

Populismus ist nun für Dubiel keine eigenständige Ideologie, sondern eine politische Taktik der Provokation für politische Organisationen, die in diesen Zerfallssituationen reüssieren wollen, indem sie ein Angebot für die künftige symbolische Integration unterbreiten: die Gemeinschaft gegen das etablierte politische System mobilisieren und alles „Gemeinschaftsfremde“ ausgrenzen; jene Ressentiments und Ängste weiter schüren, die zuvor vor allem bei den unteren Schichten wegen ihres Ausschlusses von Macht und Chancen und der Folgen von Modernisierung erzeugt wurden; `das Volk`, eigentlich nur ein Phantom, als empirisches Schreck-Gespenst inszenieren, das „in die Gärten“ der etablierten Politik einbricht und sie erschreckt; die Wiederherstellung vertrauter vormoderner Zustände als vertraute Zukunft anpreisen.

Mit einem Rückgriff auf Untersuchungen des Literatursoziologen Leo Löwenthal führt Dubiel den Begriff der „umgekehrten Psychoanalyse“ ein. Danach nähert sich der rechtspopulistische Agitator seinem Publikum mit genau der gegenteiligen Intention, mit welcher der professionelle Analytiker auf seinen Klienten zugeht. Dubiel: „Die neurotischen Ängste, die kognitiven Verunsicherungen und Regressionsneigungen werden aufgegriffen und mit dem Zweck systematisch verstärkt, den Patienten nicht mündig werden zu lassen.“ In diesen sozialpsychologischen Aspekten seien auch Erklärungen für die Tatsache zu finden, so Dubiel, mit Verweis auf Arbeiten des bedeutenden britischen Soziologen Stuart Hall, warum auch jene Wahlbürger, die von der Sparpolitik getroffen seien, massenhaft eine anti-wohlfahrtsstaatliche Politik akzeptierten.

Faktor Subjektivität

Der US-Wissenschaftler Laurence Goodwynn habe für solche Phasen der Umbrüche den Begriff des „populistischen Moments“ geprägt: Es kommt zu Schüben an Modernisierung (aufgrund neuer Techniken, sozialer oder ökologischer Verwerfungen), welche die aktuelle etablierte Balance zwischen Wirtschaftsinteressen, sozialstruktureller Machtverteilung und kulturellen Mentalitäten ins Wanken bringen, so dass „ganze Bevölkerungsteile in dieser erdbebenartig sich entladenden Strukturspannung gesellschaftlich obdachlos werden“. Die von diesen Schüben betroffenen Bevölkerungsgruppen seien zuvor auch emotional an die bestehende soziale Ordnung gebunden gewesen — diesen Gefühlen werde abrupt der Boden entzogen —, das sei der populistische Moment.

Dubiel geht davon aus, vereinfacht gesagt, dass die Marxisten der Existenz von Subjektivität, also der „schwer greifbaren“ Existenz von Statusängsten, Glückserwartungen, Gerechtigkeitsansprüchen, Kränkbarkeiten und Bedürfnissen nach kultureller Identität im politischen Prozess keine oder nur eine geringe Bedeutung zumessen, während die Populisten (am anderen Ende der Skala) ihnen geradezu „eine pathologische Bedeutung beimessen“. Er rät, „dem Faktor politischer Subjektivität einen größeren Stellenwert einzuräumen“, sei dieser doch besonders in Zeiten der Umbrüche für theoretische Arbeiten wie für die praktische Politik „höchst relevant“.

Wie kann diesem Populismus der Boden unter den Füssen weggezogen werden? Indem die vagabundierenden politischen Subjektivitätspotentiale wieder in die bestehende demokratische Ordnung integriert werden. Und wie geht das? Nach Dubiel muss eine demokratisch progressive Antwort unter anderem „in nichtstrategischer Absicht Gelegenheit … für herrschaftsfreie Diskurse“ schaffen. Denn er sieht Ambivalenzen: Das Motiv von gekränkter nationaler Identität sei nicht per se ein rechtspopulistisches Motiv, bedienten sich doch auch linke Befreiungsbewegungen in entkolonialisierten Gesellschaften dieses Motivs. Auch das Bedürfnis nach religiöser Heilsvergewisserung sei politisch nicht für immer festgelegt: Es könne eine repressive Gesellschaft kulturell stabilisieren, aber dem Protest gegen diese Ordnung auch Kraft verleihen. Und die im industriellen Modernisierungsprozess unterdrückten Bedürfnisse nach Naturnähe und Regionalität würden zwar meist von der politischen Rechten mobilisiert, seien aber deshalb keinesfalls rechte Bedürfnisse. Dubiel hat die Zuversicht, dass es in Gesellschaften mit einer lebendigen politischen Kultur und gesicherten Kommunikationsfreiheiten keinen Anlass gäbe, „vor populistischen Momenten Angst zu haben“.

Helmut Dubiel: Was ist Neokonservatismus? edition suhrkamp, 1985. 136 Seiten, 16 €

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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