Selbstüberschätzte Kritik, unterschätzte Kritisierte

Foto: Joschi71 auf wikimedia commons

Kritik am Kanzler, der Bundesregierung und der Ampelkoalition ist eine demokratische Selbstverständlichkeit.  Nachvollziehbar und plausibel ist Kritik dann, wenn sie vor allem auf die politische Ratio und Rationalität der Entscheidungen und des Handelns der Kritisierten zielt und weniger Ausdruck einer Befindlichkeit (z.B. der Schmähung, Enttäuschung, Empörung etc.) der Kritiker ist. Wenn dann noch die Funktionslogik der Sozialen- und Massenmedien dazukommt, für die Erregung und Skandalisierung zum Daseinszweck zu gehören scheinen, werden Kanzler- und Koalitionsbeschimpfung schnell zum täglichen Brot der Öffentlichkeit. Die Kritiker tendieren dazu, die Bedeutung ihrer eigenen Befindlichkeiten zu überschätzen, während sie die Verantwortung und die Vernunft der Regierenden erheblich unterschätzen.

Im Falle der Kritik an der Ampel und insbesondere an Scholz habe ich den Eindruck, dass diese Tendenzen in besonders drastischer Weise erkennbar sind.

1 Dass der Ampel-Koalition von Anfang an grundsätzlich eine Dysfunktionalität innewohnt, ist der Unterschiedlichkeit der Koalitionsparteien geschuldet. Trotz dieser Dysfunktionalität konnten sich die Ampelparteien auf eine Koalition verständigen, wählten einen Kanzler, bildeten eine Regierung und haben in zweieinhalb Jahren des Regierens – auch unter den schwierigen Bedingungen des Krieges Russlands gegen die Ukraine, des Erstarkens des Rechtspopulismus und der zunehmend wahrnehmbaren umfassenden Nachhaltigkeitskrise – einiges umgesetzt und auf den Weg gebracht. Das mag manchen nicht gefallen und nicht genug sein – mir reicht es auch nicht –, aber das laufende öffentliche Gezeter wird dem nicht gerecht.

Die Wiederwahl im Blick

Dass sich jetzt im Frühsommer 2024, 15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl,  im Zusammenhang mit der Aufstellung des Haushaltes 2025 die Dysfunktionalität der Koalition Bahn bricht – mit politisch sonderbaren Volten und Kapriolen und zum Teil chaotischen Diskussionen -, ist nicht wirklich überraschend. Die politische Rationalität des Handelns des Kanzlers könnte dabei folgende sein: Ein Bundeskanzler muss seine Wiederwahl im Blick haben. Ein Kanzler, der nicht mehr wiedergewählt werden will, verliert in dem Moment seine Autorität und „Macht“, in dem dieses erkennbar wird: Am Ende der Merkel-Kanzlerschaft kann man das gut nachvollziehen.

Die Wiederwahl im Blick muss der Kanzler vor allem die Herrschaft über die Abläufe bestimmen und darf das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben. Insbesondere muss er, was das Schicksal der Ampel angeht,  entscheiden können, ob und wann die Ampel auseinandergeht, und darf diese Entscheidung nicht einem der Koalitionspartner überlassen.

Diese Ratio kann manche Positionierung und Kommunikation des Kanzlers z.B. auch in der Diskussion über den Bundeshaushalt erklären. Er will bestimmen, wann die Ampel scheitert. Und dazu gehört, dass er keinem Koalitionspartner jetzt einen Anlass gibt, die Koalition zu verlassen. Dass er den Finanzminister öffentlich stützt, macht es der FDP schwer, die Koalition zu verlassen, dass er zugleich einen Mindestlohn von 15 Euro für das Wahlprogramm ankündigt, zeigt, dass er die Wiederwahl im Blick hat. Man kann diese Ankündigung kritisieren. Allerdings kann, nachdem der Kanzler den lange vor der letzten Bundestagswahl angekündigten und versprochenen 12 Euro Mindestlohn in der Regierung durchgesetzt hat, die neue Ankündigung durchaus Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen.

Natürlich ist der Haushaltsstreit nicht schön. Aber er ist jetzt noch kein wirkliches Problem. Für dieses Jahr gibt es einen Haushalt und die Verabschiedung des Haushalts 2025 hat bis Ende des Jahres Zeit. Dabei ist das Platzen der Koalition über den Haushalt zwar möglich, aber nicht unausweichlich und nach der Europawahl auch nicht wahrscheinlich. Wenn der Ukrainekrieg, die Konjunkturentwicklung oder die Bewältigung der Wetterschäden weitere Ausgaben notwendig werden lassen, kann die Ampel jederzeit eine Haushaltsnotlage beschließen und die Schuldenbremse aussetzen.

Ukrainekrieg als geopolitische Herausforderung

2 Für  die Kritik an der Politik des Kanzlers im Ukrainekrieg gilt besonders, dass die Kritiker sich, innenpolitisch verengt, überschätzen und den Bundeskanzler unterschätzt haben; und wo diese Kritik – inzwischen deutlich leiser – anhält, sich immer noch überschätzen. Die Kritiker überschätzen sich schlicht darin, dass sie davon ausgehen, dass sie zum einen ausreichende Informationen über den Krieg haben, zum anderen die Informationen auch zutreffen, auf deren Basis sie ihre Kritik formulieren. Dieser Wissens-Nachteil gegenüber den Informationen, die nur Regierungsverantwortliche qua Amt haben können und haben, wird durch besonders drastische Befindlichkeitsäußerungen und Vorwürfe kompensiert.

In einem wesentlichen Teil dieser Kritik mag auch noch die Kränkung derjenigen nachwirken, die 2021 eine schwarz-grüne Regierung ersehnt und herbeiargumentiert, und einen Bundeskanzler Scholz und die SPD als stärkste Partei bekommen haben. Die Hauptschwäche dieser Kritik ad personam besteht aber darin, dass sie dem Kanzler fehlende politische Rationalität bei seinen Entscheidungen unterstellt. Dabei hat der Kanzler von Anfang des Ukrainekrieges an die Ratio seiner Politik und ihre Ziele klar kommuniziert, so dass  die politische Rationalität der Entscheidungen des Kanzlers seither evident ist.

Diese Rationalität geht davon aus, dass  niemand weiß, wie lange dieser Krieg dauert, dass Russland offensichtlich weder auf Mensch noch auf Material irgendeine Rücksicht nimmt, und dass geopolitisch die Mehrheit der Welt nicht auf der Seite der Ukraine steht, und große Länder, insbesondere China, Russland von Anfang an aktiv unterstützen.

Auf diesem Hintergrund ist es völlig nachvollziehbar, zum einen der Planung der eigenen Politik die Annahme eines sehr langen Krieges zugrunde zu legen und die vorhandenen Mittel so einzusetzen, dass auch ein langer Krieg begleitet werden kann und nicht zu schnell Waffen und Puste ausgehen; zum anderen den Ukrainekrieg als geopolitisch zu lösende Herausforderung zu verstehen und entsprechende diplomatische Anstrengungen zu unternehmen.

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei einem G 7-Treffen mit Olaf Scholz, im Hotel Borgo Egnazia in Apulien im Juni 2024
(Foto: Ricardo Stuckert / PR auf wikimedia commons)

Nachhaltigkeitspolitik ist zum Erliegen gekommen

3 In der Kritik am Kanzler und der Ampel mag neben der angesprochenen Kränkung noch eine weitere gesellschaftspsychologische Übertragung stattfinden. Es ist das unausgesprochene Leiden von Teilen der Gesellschaft an der Unfähigkeit zur notwendigen Transformation zur Nachhaltigkeit. Der Kanzler als Sündenbock für die Unfähigkeit der Gesellschaft, sich aus den nachhaltigkeitspolitischen Fehlstellungen zu befreien.

Insofern ist diese Kritik am Kanzler auch begründet, denn mit der Kritik am Kanzler kritisiert sich die Kritik – in diesem Fall begründet – auch selbst. Sie wirft dem Kanzler vor, nicht das leisten zu können, was sie selbst nicht zu leisten in der Lage ist, was sie aber selbst zu leisten in der Lage sein müsste.

4 Dieser Zusammenhang mag in einer Demokratie zum Wesen der Kritik an einer demokratisch gewählten Regierung gehören, sie macht damit aber zugleich die Schwierigkeit deutlich, die die demokratischen Gesellschaften haben, sowohl über die Nachhaltigkeitskrise und das, was zu tun ist, zu reden, und die Entscheidungen zu dem, was notwendig ist, mitzutragen.

Dass es diese Bundesregierung zulässt, dass noch weniger über die Nachhaltigkeit geredet wird als in der vorigen Legislaturperiode, und die offizielle Nachhaltigkeitspolitik zwar bürokratisch verwaltet wird, aber weitgehend zum Erliegen gekommen ist, scheint mir indes der politischen Führungsrolle, die die Bundesregierung auch hat, nicht gerecht zu werden, und als politisches Versäumnis der ganzen Ampel kritisierenswert.

Siehe auf bruchstuecke auch „Ich, Olaf Scholz“ und
Tief im Soll: Bilanz der öffentlichen Kommunikation des Kanzlers

Thomas Weber
Thomas Weber (thw) promovierte in Klassischer Philologie, arbeitete über 30 Jahre in unterschiedlichen Funktionen in Landes- und Bundesministerien, von 2009 bis 2024 als Referatsleiter "Nachhaltigkeit" im Bundesministerium der Justiz.

1 Kommentar

  1. Teile in Teilen Thomas Webers Analyse, merke allerdings an, dass eine Analyse der vorliegenden Art den Problemdruck, der sich aus klimatischen, ökonomischen und sozialen Änderungen aufgebaut hat und weiter aufbaut außer Acht lässt. Jede Regierung ist diesem Problemdruck ausgesetzt. Sie kann ihm zeitlich begrenzt ausweichen, aber über längere Zeit nicht. Und wenn eine Regierung und die diese tragenden Parteien/Fraktionen sehen, dass eine ihr innewohnende „Dysfunktionalität“ Problemlösung behindert, muss sie das kommunizieren. Ich möchte das an einem Beispiel erklären: Von Monat zu Monat wächst im Bereich der Altenpflege der Problemdruck durch voranschreitenden Kostendruck, fehlende Personalkapazitäten, unzureichende Gegenfinanzierung und Ausbleiben ausreichender auf die Zukunft – Nachhaltigkeit – ausgerichteter Investitionen in eine spezielle Infrastruktur einschließlich Gebäude, Nahverkehr etc. Vergleichbar der Ausweitung der Investitionen zugunsten der Kinderversorgung zu Beginn des Nullerjahre- Jahrzehnts müsste etwas jetzt, nicht morgen, sondern jetzt auf den Weg gebracht werden. Und dem vorausgehend müsste entsprechend kommuniziert werden. Rechnen wir die unmittelbar Betroffenen und die mittelbar als Familienangehörige Betroffenen zusammen, kommen wir auf eine Zahl von über zehn Millionen Menschen. Beziehen wir weiter die sachlich-medizinisch und sozial benachbarten Bereiche der Teilhabe behinderter Menschen mit ein, wächst die Gesamtzahl noch einmal um einige Millionen. Ich sehe hier kaum nennenswerte Anstrengungen. Die Funktionslogik der Sozialen- und Massenmedien fällt hier übrigens weitgehend weg.

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