Es geht in dem neuen Buch Armin Nassehis nicht um Kleinigkeiten: Der Autor möchte klären, warum moderne Gesellschaften sich so schwertun, auf kollektive Herausforderungen – von Migrationsbewegungen und der COVID-Krise bis hin zum Klimawandel – zeit- und sachgerecht zu reagieren. Damit greift er ein in aktuellen politischen Debatten weit verbreitetes Unbehagen auf, versucht, es auf den Punkt zu bringen und seine strukturellen Ursachen zu erhellen. Es ist nicht das erste Mal, dass Nassehi sich mit diesem Thema beschäftigt; es stand bereits im Mittelpunkt seiner 2021 erschienenen Monografie „Unbehagen“.[1] Leser/innen, die sich tiefer in die Argumentation Nassehis einarbeiten möchten, sei zumindest ein Blick auch in dieses Buch empfohlen. Das neue Buch, „Kritik der großen Geste„, das auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet, lässt sich wohl als Versuch verstehen, die Botschaft des Autors noch weiter auszuarbeiten und einem breiteren Publikum zu vermitteln.
Die Grundthese des Buches, bei der Nassehi sich stark an die Systemtheorie Niklas Luhmanns anlehnt, mutet zunächst einfach an: Moderne Gesellschaften sind keine „Gemeinschaften“, die sich als kollektives und kollektiv handlungsfähiges Subjekt charakterisieren lassen. Auch der Staat beziehungsweise das politische System ist nur ein Teilsystem unter anderen und lässt sich nicht als Verkörperung einer kollektiv handlungsfähigen Gesellschaft begreifen. Die moderne Gesellschaft stellt vielmehr das Ensemble funktional ausdifferenzierter und untereinander nur lose gekoppelter Teilsysteme dar, die sich in ihren Operationen allein an den je eigenen Codes und Programmen orientieren: Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Bildung, Kunst.
Wie lässt sich die Einheit der Gesellschaft fassen?
Soweit es um soziale Probleme geht, die sich im Rahmen und mit den Mitteln der einzelnen Teilsysteme bearbeiten lassen, hat sich die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, wie Nassehi mit Luhmann betont, als historisch einzigartig effizient erwiesen. Anders verhält es sich jedoch mit Problemen wie dem Klimawandel, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen und zu ihrer Bewältigung synchrone Veränderungen in nahezu allen Teilsystemen der Gesellschaft erfordern. Hier stößt man auf eine Schwierigkeit der Luhmann’schen Theoriekonstruktion, auf die auch Luhmann selbst in seinem letzten großen Werk[2] keine rechte Antwort zu finden vermochte: Wie lässt sich die Einheit der Gesellschaft jenseits der funktional ausdifferenzierten Teilsysteme genauer fassen? Wie lässt sich erklären, dass es durchaus so etwas wie eine begrenzte Synergie der Teilsysteme geben kann, die verhindert, dass sie sich verselbständigen und in alle vier Himmelsrichtungen davonmarschieren? Von Luhmann eingeführte Formeln wie „Interpenetration“ oder „strukturelle Kopplung“ bleiben diffus und unbefriedigend. Mit seiner Fragestellung stößt Nassehi genau in diese Schwachstelle der Luhmann’schen Theorie und nimmt dabei Probleme auf, die Luhmann freilich schon in seinem bekannten Buch über „Ökologische Kommunikation“ aus dem Jahr 1986 gesehen hatte.[3]
Man kommt ihrer Lösung vielleicht näher, wenn man die Rolle individueller Akteure in der funktional differenzierten Gesellschaft berücksichtigt – der gleichen Individuen beziehungsweise „psychischen Systeme“, die Luhmann als zur Umwelt sozialer Systeme gehörig erklärt und entsprechend nachrangig behandelt hatte. Das ist der Gedanke, mit dem Nassehi über Luhmann hinausgeht: Unter der Formel der „individuellen Freiheit“ bürden moderne Gesellschaften den Individuen faktisch erhebliche Integrationsleistungen auf, die die Beteiligten enorm fordern und vielleicht überfordern.
Woher kommen Resignation und Desinteresse?
Immerhin pflegen die Individuen ja Mitgliedschaften in verschiedenen sozialen Systemen, sie „individuieren“ sich überhaupt erst, indem sie sich in je unterschiedlichen Kombinationen solcher Mitgliedschaften engagieren. Sie müssen die Rollen, die sie in heterogenen Systemen einnehmen, in ihrer Person verbinden und stellen so auf biografisch-lebenspraktischer Ebene Zusammenhänge zwischen den Systemen her, die den Systemen selbst nicht präsent sind – das kann sehr anstrengend sein. In demokratischen politischen Systemen sind die Individuen zudem nicht nur als Selbstdarsteller/innen, sondern als Wähler/innen und kompetente Vertreter/innen ihrer Interessen gefordert. Schließlich verfügen die Bürger/innen in Demokratien über ein eigenes, systemübergreifendes Medium kommunikativer Vernetzung: die Öffentlichkeit – Nassehi nimmt hier explizit auf das Habermas’sche Konzept Bezug. Typischerweise ist es auch das Medium der Öffentlichkeit, in dem systemübergreifende gesellschaftliche Krisen sichtbar gemacht, kommuniziert und starke Botschaften in Gestalt „großer Gesten“ verkündet werden.
Allein, die Erfahrung zeigt, dass diese so überzeugend erscheinenden Botschaften oft folgenlos bleiben, ins Leere laufen, Resignation und Desinteresse erzeugen. Warum ist das so? Die Erklärung liegt für Nassehi in einer Übersteigerung der an das Medium der Öffentlichkeit gerichteten Erwartungen. Dabei unterscheidet er zwei Aspekte:
Zum einen dürfen die in der Öffentlichkeit artikulierten Einsichten, Forderungen, Botschaften nicht mit den die alltägliche Lebenspraxis der Individuen leitenden Präferenzen gleichgesetzt werden. Ungeschützt könnten die Individuen die Komplexität einer modernen Gesellschaft gar nicht aushalten. Nassehi macht das an dem fiktiven Beispiel einer „typischen“ Familie mit zwei Kindern deutlich, deren alltägliche Abläufe schon durch kleine Veränderungen in der Umwelt empfindlich gestört werden können (Kapitel 10). Um sich gegen solche Störungen abzuschirmen, entwickeln die Menschen Handlungsroutinen, die eine faktisch nicht vorhandene Kontinuität des Lebens inszenieren und damit – das hatte Nassehi schon in seinem früheren Buch betont – „Gesellschaft“ im Sinne eines Zusammenhangs handlungsfähiger Subjekte überhaupt erst herstellen. Diese Routinen verleihen sozialen Interaktionen eine fast algorithmische Regelhaftigkeit, die durch die aktuelle Ausbreitung von KI-Technologien nur sichtbar gemacht wird, wie der Autor in einer schönen Pointe (S. 48) anmerkt.
Folgenlose Warnungen
Die in die Lebenspraxis eingebauten Regelmäßigkeiten, zu denen als zentrales Element auch das Konsumverhalten gehört, erstrecken sich nicht nur auf das private und politische Handeln, sondern auch auf die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt und ihrer Probleme. Die „multiplen Krisen“, von denen in der Gegenwart so viel die Rede ist, sind ja in Wahrheit zu einem großen Teil gar nicht so neu, wie auch Nassehi betont. Die ökologische Krise beispielsweise ist bereits seit Jahrzehnten von den einschlägigen Experten diagnostiziert und ihre Verschärfung vorausgesagt worden. Aber diese Warnungen blieben unterhalb des „Latenzschutzes“ einer durch lebenspraktische Routinen beruhigten öffentlichen Wahrnehmung, die die Welt als im Prinzip „normal“ und „in Ordnung“ inszenierte; und so blieben die Warnungen der Experten weitgehend folgenlos.
Die Krisenerscheinungen – aktuell geht es nicht nur um die ökologische Krise, sondern auch um die durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöste geopolitische Zeitenwende, und den Vormarsch des Populismus in den westlichen Demokratien – können sich freilich derart zuspitzen, dass die immunisierenden Narrative sich beim besten Willen nicht länger aufrechterhalten lassen. Es kommt dann zu einer „Visibilisierung“ der zuvor latent gehaltenen Krisen (Kapitel 2). In der Folge wird nach „großen Transformationen“ zu ihrer Bewältigung gerufen, dazu werden starke Botschaften und „große Gesten“ verkündet. Mit einer solchen Situation haben wir es, so Nassehi, in der Gegenwart zu tun.
Das Problem dabei ist, dass nicht nur die sozialen Wahrnehmungsroutinen nur mit großen Verzögerungen und Simplifizierungen auf die Krisen reagieren, sondern auch die politischen Reaktionen langsam und unterkomplex ausfallen. Eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte hinweg angenommen hat, Verteilungskonflikte seien die dominante Form sozialer Konflikte, und ihren politischen Betrieb entsprechend arrangierte, wird sich schwertun mit Herausforderungen wie dem Klimawandel, bei denen es sich im Kern eben nicht um Verteilungskonflikte handelt. Auch die Lebenspraxis der Individuen – so betont Nassehi über Luhmann hinausgehend – stellt ein „System“ dar. Systeme aber sind immer „träger“ und „konservativer“ als die Umwelt; das heißt, sie können auf Ereignisse in der Umwelt nicht eins zu eins, sondern immer nur selektiv reagieren.
Der großen Transformation fehlt der Adressat
Zum zweiten: Die hohen Erwartungen an die Öffentlichkeit scheitern nicht nur an dem faktisch in die Lebenswelt der Individuen eingebauten Konservativismus, sondern noch aus einem weiteren Grund: Die Öffentlichkeit ist nicht die Gesellschaft, als die sie sich gern inszeniert. Die Gesellschaft ist vielmehr – wie oben bereits herausgestellt – in funktional spezialisierte Teilsysteme ausdifferenziert und deshalb als Kollektiv gar nicht ansprechbar. Eine sachgerechte Reaktion auf umfassende, die Gesellschaft als Ganzes betreffende Krisen ist nur möglich, wenn es gelingt, die einzelnen Systeme zu einer synchronen, aber je nach System höchst individuellen Reaktion zu veranlassen. Die Forderungen nach „großen“ Transformationen müssten also erst einmal auf die Codes und Programme der verschiedenen Teilsysteme hin kleingearbeitet werden, um sie dort bearbeitbar zu machen: Was lässt sich im Modus kollektiver Entscheidungen bewältigen, was in der Sprache der Preise, welche Maßnahmen sind rechtskompatibel, welche gehen mit den Erkenntnissen der Wissenschaft konform?
Überdies zeigt sich, dass Maßnahmen in einzelnen Teilsystemen oft ungeplante Nebenfolgen in anderen Teilsystemen evozieren, was ihre Sinnhaftigkeit insgesamt in Frage stellen kann. Die politisch angestrebte Umstellung der Heizungssysteme auf Klimaneutralität beispielsweise kann so teuer werden, dass niemand sie mehr bezahlen kann. Als weiteres Beispiel nennt Nassehi die COVID-Krise: Der gesundheitspolitisch verordnete Lockdown im Bildungswesen hatte schwerwiegende Nebenfolgen in Gestalt familiärer Krisen und psychischer Erkrankungen, die die beim Infektionsschutz erzielten Erfolge mindestens fragwürdig machten. Nebenbei: Hier korrigiert Nassehi auch unauffällig sein Kokettieren mit dem chinesischen Modell in seinem früheren Buch, wo er noch von einem im Vergleich zu Europa „erheblich erfolgreichere(n) Krisenmanagement in China“ gesprochen hatte.[4]
Auch die Nebenfolgen müssen berücksichtigt und in den Reaktionen der Teilsysteme reflektiert werden. Dazu sind pluralistisch strukturierte Gesellschaften zwar eher in der Lage als das zentralistisch-autoritäre System Chinas. Aber es bleibt das Problem, dass sie über keine Instanz verfügen, die die Reaktionen der Teilsysteme und ihre wechselseitigen Nebenwirkungen voraussehen und koordinieren könnte; auch das politische System ist mit einer solchen Erwartung überfordert. Und so fehlt den wortgewaltig in der Öffentlichkeit verkündeten großen politischen Gesten und Transformationsforderungen schlicht der Adressat. Das heißt zwar nicht, dass die Kontroversen, Programme und Forderungen der demokratischen Öffentlichkeit völlig wirkungslos wären. Aber der Weg zur Umsetzung in zielführende Politik ist lang und steinig, löst sich in viele kleine Schritte auf, in denen der ursprüngliche kollektive Elan der Akteure bald auf der Strecke bleibt.
Wer- statt Was-Fragen
Aber wie kommt es dann, dass die Selbstpräsentation in der Öffentlichkeit gerade heute so beliebt ist? Die Antwort liegt für Nassehi in den psychischen Gratifikationseffekten der durch die Medien erzeugten Illusion der Identität von Öffentlichkeit und Gesellschaft. Die Gesellschaft – so erläutert der Autor es in einem prägnanten Bild – erscheint den Akteuren wie ein Text, den sie als Schriftsteller selbst anfertigen; sie schieben die selbst kreierten Figuren wie „Zinnsoldaten“ (S. 59) hin und her. Das kann als ungemein erhebend und selbstbestätigend erlebt werden, mit der Folge, dass immer mehr Akteure auf der Suche nach solchen Erlebnissen – unterstützt vor allem auch durch die digitalen Medien – in das Rampenlicht der Öffentlichkeit drängen. Der Preis dafür ist freilich, dass der Fokus politischer Auseinandersetzungen sich von der Sach- auf die Anerkennungsebene, von Was- auf Wer-Fragen (Kapitel 12) verschiebt.
Die Beteiligten belasten sich nicht länger mit der mühsamen Arbeit an Sachproblemen. Sie dürsten nach der Erfahrung einer Gemeinschaftlichkeit, die sich in der Konfrontation mit vermeintlichen „Eliten“ oder dem „System“ bewährt, und in der sie sich bedingungslos aufgehoben und anerkannt fühlen. An die Stelle sachlicher Arbeit tritt die „Bewirtschaftung und Pflege von Ressentiments“ (S. 170). Hierin sieht Nassehi eine Hauptursache der aktuellen Konjunktur von Identitätspolitik und Populismus in ihren linken wie rechten Varianten. Die Folge ist, dass die Sachkompetenz demokratischer Politik stärker leidet denn je, mehr noch: dass der unpersönliche Streit zwischen heterogenen politischen Positionen als Basis der Demokratie überhaupt in Gefahr gerät.
Bilanz grüner Ideen, Bewegungen und Parteien
Armin Nassehi hat eine aufschlussreiche Analyse der aktuellen politischen Kultur vorgelegt, die sich nicht nur durch ungewöhnliche Tiefenschärfe auszeichnet, sondern auch die gesellschaftstheoretische Debatte voranbringt. Zwei kritische Anmerkungen kann der Rezensent sich gleichwohl nicht verkneifen:
Erstens: Auch wenn Nassehi diesem Eindruck entgegenzuwirken versucht, bleibt der Tenor seiner Analyse am Ende durchaus pessimistisch, beinahe defätistisch: Verzichtet auf „große“, aber vergebliche Botschaften, so rät er den politischen Akteuren, und konzentriert Euch stattdessen auf die kleinen, aber vielfältigen und deshalb viel wirksameren Maßnahmen. Aber könnte man, ohne die Substanz der Thesen Nassehis preiszugeben, die Argumentation nicht genau umgekehrt aufbauen und ihr damit eine weniger defätistische Färbung geben? Das Argument würde dann lauten: Die „großen“ Botschaften sind keineswegs überflüssig. Im Gegenteil, sie sind unverzichtbar, gerade um das Terrain für die zweifellos notwendigen kleinen Schritte vorzubereiten, die andernfalls vielleicht gänzlich ausbleiben würden. Nassehis Beobachtungen bezüglich der politischen Kurzatmigkeit von Protestbewegungen und ihren Visionen treffen weitgehend zu, wie das Beispiel der „Fridays-for-Future“-Bewegung erneut demonstriert hat. Aber von einem soziologischen Beobachter sollte man doch etwas mehr Langsicht erwarten als die Bewegungen selbst zu entwickeln imstande sind.
Wie ist etwa die langfristige Erfolgsbilanz der immerhin schon fast fünfzigjährigen Geschichte der grünen Ideen, Bewegungen und Parteien in Europa einzuschätzen? Auch wenn die Welt heute vom Zustand der Klimaneutralität weiter entfernt ist denn je, ist die Bilanz der Bewegung vor allem in Europa keineswegs nur negativ: Die Treibhausgasemissionen in Europa sind deutlich gesunken; Photovoltaikanlagen und Windkrafträder verbreiten sich teilweise schneller als geplant, viele Kommunen haben Klimaschutzpläne verabschiedet. Immer mehr Industriebranchen, sogar die Bauwirtschaft, arbeiten an Plänen zur Umstellung der Energieversorgung auf klimaneutrale Energiequellen, für die es auch gute betriebswirtschaftliche Argumente gibt: Sonnen- und Windenergie stehen, sind die nötigen Investitionen in Infrastruktur und Speichersysteme einmal getätigt, kostenlos zur Verfügung und müssen im Gegensatz zu fossilen Energien nicht erst aufwändig aus der Erde gefördert werden. Und China, das bislang noch die Weltrangliste der Investoren in fossile Energiequellen anführt, ist auch Spitzenreiter bei den Investitionen in klimaneutrale Technologien sowie im Begriff, sich als Weltmarktführer im Bereich der E-Mobilität zu etablieren. Gewiss: das alles reicht bislang bei weitem nicht aus, um die Pariser Klimaziele zu erreichen, aber es ist nicht nichts. Doch selbst dieses Wenige wäre ohne den langfristigen Vorlauf grüner Ideen und Konzepte wohl kaum möglich gewesen. Langzeitstudien sind eine Stärke der Soziologie und wären auch auf diesem Feld zweifellos lohnend; auch Nassehis Studie hätte profitiert, wenn er mehr Gebrauch davon gemacht hätte.
Allgemeine Abhängigkeit vom Medium Geld
Mein zweiter Einwand gegen Nassehis Argumentation betrifft die Kapitalismuskritik, genauer: Die Kritik der Kapitalismuskritik. Nassehi hält, wie er in Kapitel 5 deutlich macht, von Kapitalismuskritik nicht viel. Und wer wollte ihm darin, dass unter diesem Etikett viel Unsinn verbreitet wird, widersprechen? Aber mit seiner Behauptung, dass „Kapitalismustheorie als Gesellschaftstheorie nicht wirklich taugt“ (S. 71) schießt er, wie ich finde, über das Ziel hinaus und verschenkt Potentiale seiner eigenen Analyse. Das „ökonomische System“, wie er es nennt – ich selbst würde lieber mit Hayek von einem Marktsystem sprechen, besser: von einem System entgrenzter Märkte – ist eben nicht bloß ein System wie jedes andere. Es ist nicht nur viel stärker als die anderen Systeme – selbst als die Wissenschaft – global ausgerichtet, sondern durchdringt die Gesellschaft via Social Media bis in ihre letzten Winkel und privatesten Regungen. Doch auf diese Phänomene geht Nassehi kaum ein.
Kapitalismus, wenn man darunter ein System entgrenzter Märkte versteht, unterwirft die ganze Gesellschaft den ihm inhärenten Wachstumsimperativ. Nassehi hält dem entgegen, auch die anderen Systeme – von der Wissenschaft, der Politik bis hin zur Kunst – müssten wachsen und hätten keine eingebauten Stoppregeln. Das mag sein, aber um wachsen zu können, brauchen sie alle erst einmal eines: mehr Geld. Das freilich können sie nicht mit eigenen Mitteln generieren. Es muss vielmehr, auf welchen Wegen auch immer (Steuern, private Stiftungen, Spenden) aus der Wirtschaft abgezweigt und ihnen zugewiesen werden. Aufgrund der gemeinsamen Abhängigkeit vom Medium Geld entsteht eine latente Abhängigkeit der nichtwirtschaftlichen Subsysteme von der kapitalistischen Wirtschaft, die sich mit den von Nassehi gezeichneten holzschnittartigen Konzepten der „Hierarchie“ oder gar „Monarchie“ (Kapitel 6) nicht fassen lässt: Krankenhäuser bevorzugen die finanziell lukrativen Behandlungen, die Wahlchancen von Politikern hängen von der Finanzkraft ihrer Sponsoren ab und Universitäten werden zu Maschinen zur Einwerbung von Forschungsgeldern. Die Systeme sind eben nicht alle gleich in ihrer Verschiedenheit, sondern eines ist „gleicher“ als die anderen. Statt in der systemtheoretischen Vogelperspektive zu verharren, in der alle Systeme gleich und alle Katzen grau sind, hätte es Nassehis Krisenanalyse gutgetan, wenn er – mittels Kapitalismustheorie – einen Schritt auf die historische Wirklichkeit hin gemacht hätte.
1 Armin Nassehi, Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021.
2 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt am Main 1997.
3 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1986.
4 Nassehi, Unbehagen, S. 196
Armin Nassehi: Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken.
224 Seiten, 18€. Beck 2024. ISBN-13 : 978-3406823220
Unter dem Titel „Große Gesten oder kleine Schritte“ erschien die Rezension zuerst auf Soziopolis.