Systemkritik am Limit. Stiefmütterlich behandelter Veränderungswille

Das ausführliche Lob für Buch und Autoren stand bereits vor einiger Zeit an vielen anderen Orten, auch in der Süddeutschen Zeitung. In Kürze der Inhalt der dortigen Rezension: Die beiden Politikwissenschaftler Ulrich Brand, Universität Wien, und Markus Wissen, Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, erweiterten präzis, umfassend und kompetent jene Analysen, die sie in ihrem – in mehrere Sprachen übersetzten — Bestseller „Imperiale Lebensweise“ (Oekom Verlag, München, 2017) darlegten. Ebenso schärften sie in dem neuen Buch ihre Grundsatzkritik: Da die Logik des heutigen Kapitalismus auf unaufhörliches Wachstum ausgelegt sei, würden alle bisher angepackten Konzepte von Decarbonisierung und ökologischer Modernisierung viel zu kurz greifen — eben solange mit dieser Logik nicht gebrochen werde. Die Autoren belegten auch dies „akribisch mit guten Argumenten“, so der Autor der SZ.
Wer nicht zum ersten Mal einen längeren Text, ein Buch zu diesem Thema liest, wer eventuell auch das Buch der beiden Autoren von 2017 gelesen hat, der fragt sich: Na und? Und jetzt?

Inzwischen nähere sich dieser Kapitalismus dem Limit, informiert die SZ-Rezension über das Buch weiter, da es schwieriger werde, die Kosten seiner Expansion zu externalisieren, wie bisher vor allem in Länder des globalen Südens. Zugleich nähmen die Auseinandersetzungen um die Sicherung von wichtigen Rohstoffen zu, die — wie Nickel, Lithium, Kobalt — für diese Modernisierung gebraucht würden. Deshalb brächen all diese Krisen, bisher nur ein Problem für ferne Länder, nun „zunehmend auch in den Alltag der kapitalistischen Zentren ein …“, also in unseren Alltag, und ließen sich „politisch-institutionell kaum einfangen.“

Das sattsam Wiederholte

Soweit das hier zitierte Lob aus berufenem Munde. Das Lob ist berechtigt, aber berechtigt ist auch diese Anmerkung: Die beiden klugen Köpfe machen zum wiederholten Mal das, was in linken Autoren-Kreisen seit Jahren gang und gäbe ist, nämlich die Gegenwart noch einmal unter Berücksichtigung aller Aspekte aller feministischen, marxistischen und kolonialismuskritischen und sonstigen weiteren sozialwissenschaftlichen Diskurse erschöpfend akribisch-penibel-filigran zu analysieren, begleitet von Wehklagen über Stillstand und Fehlentwicklungen — das Ganze über 200 und mehr Seiten, um dann noch, so kurz vor Buchschluss, pflichtschuldig 30 Seiten über das einzufügen, was die Linke, die gesellschaftlichen FortschrittsanhängerInnen tun könnten, sollten, müssten — in Anbetracht einer Blockadehaltung, die inzwischen von einer bedrohlich großen Mehrheit der Gesellschaft eingenommen wird.

Warum sich nur auf mageren 30 Seiten Gedanken über das strategisch Neue machen, warum dagegen in der Hauptsache das schon sattsam Wiederholte zum wiederholten Mal auf vielen Seiten wiederholen. Spannend wäre doch: Was folgt aus dem Analysierten? Schließlich geht es um das „Dreieck von Analyse, Kritik und Veränderungswillen“ (Stephan Lessenich, Gesellschaftstheoretiker, Direktor des Instituts für Sozialforschung). Und so sollte das Dritte, der Veränderungswille, nicht so stiefmütterlich behandelt werden, als sei er das Letzte. Zumal dieser Veränderungswille den Autoren ja ausdrücklich ein Anliegen ist, sind doch die Arbeiten an „einem emanzipatorischen sozial-ökologischen Projekt“ eines der Motive, warum diese Beiden ihr Buch stemmten. Sehen sie doch ihre Analysearbeit selbst „im Handgemenge“. Und sehen sie die Gesellschaft zudem „in einem Kairos-Moment: in einer keineswegs völlig offenen, aber gestaltbaren Situation… “. Also gehört doch das prominent auf die Tagesordnung: überlegen, was tun, damit die Rechten nicht ständig stärker, die Linken nicht ständig schwächer werden, das Klima nicht ständig turbulenter. Auch der Wirtschaftspublizist Wolfgang Kessler macht in seiner Rezension auf diese Leerstelle aufmerksam: Die Autoren sähen den Kapitalismus am Limit, aber die sozialen Bewegungen, welche die Autoren so beschwörten, seien das doch auch; je dramatischer die Krisen, umso schwächer deren Kritiker, zumindest in Deutschland.

Hinten, dort, wo es spannend wird

Sicher, die beiden Autoren nennen — kurz, das Buch ist ja leider, leider gleich zuende — einige Stichworte: Die Strategie der „verbindenden Klassenpolitik“ erwähnen sie, also die ökologische Frage zugleich als Klassen- und als soziale Frage begreifen, wozu auch das Thema Minderheiten und Geflüchtete gehöre; in diesem Zusammenhang führen sie die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich an, die sie als geradezu vorbildhaft deuten, ganz im Gegenteil zu den hier herrschenden Deutungen. Inwieweit ein solches Konzept trägt, ist eine andere Frage, hat doch die Partei Die Linke bei der EU-Wahl mit Carola Rackete, die dieses Anliegen als Spitzenkandidatin geradezu verkörperte, eine krachende Niederlage erlitten. Und Brand und Wissen stellen auch noch schnell ihr Veränderungsprojekt der „transformativen Zellen“ vor.

Damit die Kritik nicht zu wohlfeil ist: Vielleicht wäre es erkenntnisreich gewesen, die sozialpsychologischen Befunde aufzuarbeiten, woher die immer massiveren Veränderungsblockaden herrühren, wie ihnen begegnet werden kann. Vielleicht debattieren und abwägen, ob die SystemkritikerInnen nicht doch der Existenz von diesen schwer greifbaren Glücks- und Gerechtigkeitserwartungen und Bedürfnissen in der Bevölkerung einen deutlich höheren Stellenwert als bisher einräumen sollten. Hat das Element der politischen Subjektivität doch vermutlich in Zeiten der Umbrüche einen noch größeren Stellenwert als in Zeiten der Routine. Vielleicht anhand von Beispielen genauer analysieren, was gelingende Widerstands- und Protestformen auszeichnen und was nicht.

Ihre ersten 200 Seiten sind weithin sattsam bekannt; natürlich — klar — toll geschrieben und noch nie so präzise, so genau, so akribisch, Laubsägearbeiten. Schade. Vielleicht fängt ja das nächste Buch der beiden „Spiegel Bestseller-Autoren“ an der Stelle an, wo sie dieses Mal aufgehört haben — hinten, dort, wo es spannend wird.

Ulrich Brand/Markus Wissen: Kapitalismus am Limit.
Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven.
Oekom Verlag, München 2024. 305 Seiten, 24€

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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