Die vom Klimawandel verursachte Naturverheerung ist die keinen Aufschub vertragende Herausforderung der Gegenwart. Jede Wahl lässt von neuem zittern, ob die Wahlberechtigten dies auch so sehen. Der geschädigten Natur widmen sie keine privilegierte Aufmerksamkeit. Entsprechend kurzatmig reagiert das politische Personal auf die veränderten Präferenzen des Wahlvolks. Die Aufmerksamkeitszyklen einer Social-Media-Demokratie sind kurz getaktet, und was gestern noch Greta-Effekt und Wind auf die Mühlen der Grünen war, ist heute heftigstem Gegenwind ausgesetzt. Die den Raubbau an der Natur beendet sehen wollen, tun gut daran, ihr Dilemma nicht bloß durch mehr TikTok lösen zu wollen. Angezeigt ist es, das politische Handeln auf der Straße und in den Parlamenten durch eine theoretische Arbeit am Begriff der Natur zu ergänzen. An diesem Begriff fehlt es, und dieser Mangel teilt sich der ständig mit Scheitern bedrohten zweiten Aufklärung mit; so haben ihre frühen Vertreter die Ökologiebewegung einmal genannt.
Es ist eine Kritik der Naturwissenschaft zu leisten, eine Kantische Kritik, keine im Sinn der Umgangssprache. Die physikalischen Wissenschaften sind das Ferment der modernen Industriegesellschaften. Sie sind es in ihrer Vergegenständlichung als Technologie und in ihrer Überhöhung zur Weltanschauung. Noch die wüsten Attacken der Querdenker bezeugen ihre Autorität für den common sense. Wer die Gesellschaft verändern will, wird die Kritik ihres Naturverständnisses leisten müssen. Erreicht diese Vernunftkritik die als Wissenschaftler tätigen Kräfte, wird dies der Sache der Ökologie den größten Dienst erweisen. Denn die naturwissenschaftlich-technischen Arbeitskräfte sind die für die heutigen Produktionsprozesse wichtigste Beschäftigtengruppe. Sie haben die Stelle der einmal dominanten, körperlich arbeitenden Kräfte eingenommen.
Kants Kritiken verhandeln die Frage, welches Erkenntnisvermögen dem Vernunftgebrauch zukommt und welche Grenzen ihm gezogen sind. Dem physikalischen Verständnis der Natur seien keine Grenzen gezogen; wer wissenschaftlich denke, bekomme noch Antworten, die die Religion vergeblich zu geben versuche. Die seien vielleicht nicht tröstlich, dafür aber von empirischer Evidenz. So behauptet noch jede Folgegeneration der Aufklärung und findet für ihre Behauptung die größte Anhängerschaft. Ist der szientistische Anspruch auf Welterklärung gerechtfertigt?
Wer oder was koordiniert?
In diesem Jahres jährt sich der Geburtstag von Karl Heinz Haag zum hundertsten Mal. Haags Lebenswerk ist die Metaphysik. Hinter der erscheinenden physikalischen Welt ist zwingend eine metaphysische zu denken, so der Frankfurter Philosoph. Seine Argumentation folgt höchster Genauigkeit. Was aber haben Philosophie und Politik miteinander zu schaffen? An den Universitäten ist Philosophie gerade noch geduldet als methodische Präzision versprechendes Werkzeug, sein Zweck sei, welcher er wolle. Auf den Parteiversammlungen sollen philosophische Zitateinsprengsel den Redner als humanistisch Gebildeten ausweisen. Haags Werk lässt sich nicht als Vorlage für Parteitagsbeschlüsse lesen; wer aber die maßlose Naturaneignung beendet sehen will, der wird dafür die philosophische Grundlegung finden. Haags Arbeit ist in weiten Teilen eine Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften. Das Resultat, sie seien nur möglich, weil sie metaphysisch geordnete Naturgegenstände zur Bedingung haben, ist von größter Bedeutung. Denn damit ist eine unseren Sinnen nicht zugängliche Welt behauptet, die gleichwohl denknotwendig ist und die Aura des Unverfügbaren besitzt. Natur ist nicht bloßes Material ihrer Aneignung; der sie dazu degradierende ökonomische Prozess verletzt sie in ihrem Wesen.
Wie kommt Haag zu dieser Behauptung? Indem er verdeutlicht, was ein Naturgesetz leistet und was es nicht vermag. Es hält eine funktionale Wenn-Dann-Beziehung von Teilsektoren eines Naturgegenstandes fest. Die Methode der Erforschung ist das Experiment, das Resultat sind physikalische Formeln. An der Genese eines Naturgegenstandes sind verschiedene Stoffe und Gesetze beteiligt. So braucht es zur Genese eines Grashalms miteinander reagierende chemische Elemente wie Stickstoff, Wasser und Phosphat; es braucht den das Grundwasser entgegen der Schwerkraft nach oben ziehenden Unterdruck; es braucht die das Sonnenlicht absorbierende Fotosynthese. Die Naturgesetze müssen sich ergänzen, die Naturstoffe voneinander verschieden und zueinander passend sein. Stoffen und Gesetzen kommt aber nicht das Vermögen zu, sich selbst auszuwählen und zu koordinieren. Wer oder was aber koordiniert?
Selbstorganisation oder planende Vernunft
Dem Alltagsverstand, imponiert von den Naturwissenschaften und zu keiner komplizierten erkenntnistheoretischen Reflexion veranlasst, stellt sich hier kein Problem. Der zur Welterklärung aufgespreizte Neodarwinismus bietet einen Mix aus biologischer Zelle und bloßem Zufall an. Die analytischen und sprachanalytischen Schulen der Philosophie haben die Frage als Metaphysik abgetan, was ihnen gleichbedeutend ist mit höherem Unsinn. Kant ließ das Problem nicht los; in seiner Kritik der Urteilskraft bringt er den Begriff der Teleologie ins Spiel. Haag greift ihn auf. Jedes Naturding ist demnach ein organisierter Körper und als solcher ist es mehr als die Summe seiner Teile. Erfasst von den im Experiment bestätigten Gesetzen sind aber nur separierte, in einem Naturstoff ablaufende Teilprozesse. Die Addition von Fotosynthese, Phosphatverbindung, H2O und Unterdruck ergibt nicht die Pflanze. Für deren Genese reicht die Funktionsweise vorfindlicher Teilprozesse nicht hin.
Die partikularen Gesetze müssen zusammenwirken, damit ein Naturgegenstand entsteht. Und was für das Einzelding gilt, gilt für die gesamte äußere und menschliche Natur. Ihre Ordnung kann nicht die Wirkung der Naturgesetze sein. Ein ihnen vorgeordnetes, in der Natur verborgenes, die Gesetze auswählendes Übergesetz bleibt unauffindbar. Der Materialismus hat bis ins 19. Jahrhundert vergeblich nach einem den Kosmos in nuce enthaltenden Urstoff gesucht, der Positivismus des Karl Popper nach solchem Übergesetz. Auf das Scheitern dieser Suche reagierend hat es die Theorie des Zufalls zur Popularität gebracht. Es ist die Annahme einer Welt physikalischer Ordnung, die aus einem völlig planlosem Geschehen hervorgegangen sei, eine zutiefst widersprüchliche Annahme. Die ihr und jeder physikalischen Naturauffassung gezogene Grenze macht es unabweisbar, das Theorem von der Selbstorganisation des Kosmos aufzugeben und eine planende Vernunft hinter der uns erscheinenden Welt zu denken. So Karl Heinz Haag.
Der Natur liegt ein übersinnliches, gestaltendes Prinzip zugrunde, nur dieses Prinzip macht sie rational verstehbar. Haag eiert nicht rum und spricht von göttlicher Vernunft. Man hat ihm dies neuerlich übel genommen. Das ist nicht weiter schlimm, denn es zeugt von der Diskussion, in die seine Metaphysik nach ihrem langen Dornröschenschlaf endlich geraten ist. Auch wenn mancher das nicht wahrhaben will, kritische Theorie hat eine Nähe zur Theologie.
Technische Intellektuelle nehmen die ökologische Misere wahr
Das Adjektiv kritisch hat einmal auf eingreifendes Handeln verwiesen. Naturwissenschaft aufzuklären über die Bedingung ihrer Möglichkeit, sollte heißen, die sie betreibenden Subjekte über den Sinn ihrer Arbeit aufzuklären. Das Wesen der äußeren wie der menschlichen Natur ist von der Naturaneignung tief beschädigt, wie sie die bürgerliche Ökonomie kennzeichnet. Deren Prinzip ist das der rastlosen Aneignung. Dem Verwertungsprinzip sind die ökologischen Verheerungen geschuldet. Der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hat einmal eine Philosophie zugearbeitet, die die Menschheit zu „Herren und Besitzer der Natur“ erklärt. Ihre erste falsche Prämisse war die behauptete Wesenlosigkeit der Natur.
Haags Reflexion ist weiter zu treiben: Die modernen Industrien fußen auf einer naturwissenschaftlichen Logik, die sie riesigen Laboren gleichen lässt. Die hier tätigen Mathematiker, Physiker, Chemiker und Informatiker haben die manuellen Arbeiter quantitativ längst überflügelt und in den avancierten Industrien selbst die qualifizierten Facharbeiter. Sie verantworten die heutigen Produktionsprozesse; ihr Handwerkszeug ist das physikalische Wissen über die äußere Natur. Ihm müssen sie immer neue Ideen für immer neue Produkte abgewinnen. Man soll nicht glauben, dass ihnen ihre Aufgabe als zweifelsfrei sinnvoll erscheint und im Einklang mit ihrem Berufsethos, im Gegenteil. Die geistige Arbeit in der Forschung und Entwicklung ist tayloristischer Effizienz unterworfen. Unter Zeitvorgabe sollen die kreativen Ideen sprießen; das ist nicht spaßig. Der schicke Firmenwagen, die neueste Urlaubsdestination, die mit den Spielzeugen der Konsumgesellschaft vollgestopfte Privatsphäre wiegen die Frustration in der Produktionssphäre nicht auf. Die technischen Intellektuellen nehmen die ökologische Misere, verursacht von den Industrien, denen sie ihre Anstellung verdanken, durchaus wahr und verstärkt, sobald sie Verantwortung für ihre Kinder spüren. Auf ihren Etagen wählt man in der Regel grün. Für die Einflüsterung der neuen Völkischen ist man völlig taub. Es wäre verwunderlich, wäre es anders. Forschung und Entwicklung werden in multinationaler Arbeitsteilung betrieben; das macht für die falsche Alternative nicht anfällig.
Wie kommt diese Idee zur Wirklichkeit?
Der Notwendigkeit, die herrschende Produktionsweise grundlegend zu verändern, muss sich diese an den technischen Hebeln sitzende Schicht nicht verschließen. Das setzt aber eine politische Kraft voraus, die einen dem technokratischen überlegenen Naturbegriff vermitteln kann. Diese Kraft, so es sie einmal gibt, wird die unterschiedlichsten Ressourcen nutzen wollen: Die parlamentarischen der Parteien, die organisatorischen der Gewerkschaften, die spontaneistischen der Straße, die selbstreflexiven der Universitäten, und nicht zuletzt die religiösen der Kirchen.
Eine solche neue Linke gab es in Ansätzen schon einmal und es kann sie wieder geben. Dafür braucht es als erstes den intellektuellen Mut zur Revision der überkommenen Religionskritik. Der materialistische Atheismus hat seine Unwahrheit erwiesen; auch wenn er wertvolle Einsicht bot. So über den auf den Kirchenvater Augustinus zurückgehenden Quietismus („…man beschmutze seine Hände nicht mit Politik.“) Religiöses Bewusstsein ist in den westlichen Ländern heute beinahe völlig verschwunden. Der Warenreichtum und die Kulturindustrie haben das Flussbett verstopft, in dem der religiöse Bewusstseinsstrom einmal floss. Was zurückbleibt, ist der über alle Ufer getretene Nihilismus, ein der frühen kritischen Theorie entstammendes Bild.
Was dieser Text vorschlägt, ist eine die religiöse Ressource aufgreifende Politik. Wie diese Idee zur Wirklichkeit kommt, lässt sich bei Haag nicht nachlesen. Es herauszufinden ist jetzt unsere Sache. Aber dieses politische Handeln gehorcht einem tragenden Gedanken, und den kann man bei ihm nachlesen. Schreibt er doch, „dass jedes natürliche Gebilde mehr ist als das szientifisch an ihm Fassbare: alle Weltdinge metaphysischen Gehalt besitzen… Die Hoffnung der Menschen auf Erfüllung ihrer Sehnsucht nach ewiger Seligkeit gewinnt eine objektive Grundlage.“
Der Beitrag erschien unter dem Titel “Entzauberte Natur” zuerst auf textor
Der Beitrag bietet eine gute Aufarbeitung des Ansatzes von Haags Buch. Allerdings “zuckt” es ja doch in einem, wenn man diese doch eher rein deklamatorisch bleibenden Haag’schen Zitate liest, die eher wie ein verzweifelter Schrei nach einer Letztinstanz klingen denn nach einem realisierbaren, “innenweltlichen” (sozusagen “intrinsisch wirkenden”) Ansatz einer (?) evtl. “Ethik der Existenz” von Mensch(en) mit und in der Umwelt, die in die Zukunft gerichtet ist. Geradezu hanebüchen erscheint mir die Annahme, die Menschen insgesamt würden sozusagen nach “ewiger Seligkeit” lechzen oder streben. Wenn man den Satz zuerst liest, wird man das Buch wohl recht schnell beiseite legen. Beim Lesen musste ich dauernd an die – längst vergessenen? – Traditionen kritischen Denkens über “das Metaphysische” im weiten Umfeld der Diskustheorie denken, die doch deutlich gezeigt hat, dass wir alles, was an handlungsleitendem ‘Denken’ möglich (und nötig) ist, doch nur im allemal begrenzten Horizont diskursiv gestalteter Modalitäten (und deren Fallstricke, allemal) leisten können. Die zu einer irgend letztinstanzlichen, “außerhalb” von allem, was “Natur” vollumfänglich ist oder sein soll, befindlichen ‘Metaphysik’ durchdringende Rede ist eine der erstaunlichsten “Erfindungen” der Diskursverhältnisse selbst, ein ähnliches Spiegelungsverhältnis wie jenes, das uns ‘glauben’ lässt, das “Bewusstsein” sei etwas irgend von den physischen Bedingungen der Körperlichkeit abgehobenes oder von außen darin anhaftendes “Irgendwas”. Fiktionen allemal – und letztlich qua Religion dann wieder aufs (historisch allzu bekannt) Fatalste mit allen Formen von Macht und deren Äußerungsformen, Legitimationslügen etc. verbunden, derer wir uns langsam erst entledigen. Was den “Umgang mit Natur” angeht, dürfte nur die ethische Ansage, dass wir so leben sollten, dass daraus kein Leid für die uns Nachkommenden entsteht, den (natürlich extremst anspruchsvollen, weil eben nicht auf “letztinstanzliche” Begründungshilfen hoffenden) immer wieder auf uns selbst verweisenden kritischen Imperativ liefern, der uns – in aller Hilflosigkeit – unserem Handeln und dessen Folgen gegenüberstellt und uns darin spiegelt, ohne reflexhaft einen tröstlichen “Relief” qua “Meta-Physik” herbeizu”raunen”.
Die Theologie Haags weist eine Begründung auf, in der Sprache der Diskurstheorie: Sie stellt einen Geltungsanspruch. Sie leitet diesen Anspruch argumentativ her, indem sie die Grenze aufzeigt, die der physikalischen Weltauffassung gezogen ist. Die Gesetzmäßigkeiten, auf die sich diese Weltauffassung stützt, gelten in der schon konstituierten Welt, sie haben nicht das Vermögen, die Genesis des Kosmos zu erklären. Eine von Naturgesetzen regierte Welt ist nicht das Resultat von Naturgesetzen, sondern verweist auf eine ordnende Vernunft. Der Haagsche Schöpfer ist nicht herbeigeraunt, sondern hat eine sehr rationale Begründung, die sich von Kants Begriff des Intelligiblen herleitet. Die vorgeschlagene politische Moral und Strategie fußen auf dieser Begründung. Mit dieser sich argumentativ auseinanderzusetzen, also in die – wenn Sie so wollen – philosophische und politisch-praktische Diskussion einzusteigen, würde ich Sie bitten.