Seit zwei Monaten geistert in unserem Nachbarland Frankreich ein Wort durch die Politik, die Medien, die gesamte Gesellschaft: „inédit/inédite“ heißt es und meint „etwas ganz und gar Neues“. Noch nie hat es in der V. Republik seit 1958 einen derartigen Stillstand in der Politik gegeben: Wochenlang blieb die Regierung des Gabriel Attal nur „geschäftsführend“ im Amt. Der Haushalt für das kommende Jahr wird der neu gewählten Nationalversammlung im Palais Bourbon nicht zum 1. Oktober vorgelegt werden, wie es die Verfassung vorschreibt, sondern eine Woche später. Einen Premierminister ernannte Staatspräsident Emmanuel Macron nach wochenlangem Zögern und einem demütigenden Schaulaufen mehrerer Kandidatinnen und Kandidaten schließlich am 5. September: Seine Wahl fiel auf den 73jährigen Michel Barnier, der noch vor drei Jahren mit markigen rechten Sprüchen selbst Staatspräsident werden wollte.
Barnier ist ehemaliger EU-Kommissar und altgedienter Politiker der rechten Partei Les Républicains, die bei den vorgezogenen Parlamentswahlen gerade einmal fünf Prozent und 47 Mandate erhielt. Als er sich selbst um das Amt des Staatsprädienten bemühte , landete er bereits in den Vorwahlen seiner Partei weit abgeschlagen auf Platz drei. Und dieser Mann soll nun das unruhige, krisengeschüttelte und politisch instabile Land führen und im Palais Bourbon für Mehrheiten sorgen?
Weit und breit keine regierungsfähige Mehrheit
Erst seit einigen Tagen wissen die Französinnen und Franzosen überhaupt, wer die neuen 17 Ministerinnen und Minister, wer die 22 weiteren beigeordneten Minister und Staatssekretäre sind. Bisherige Schwergewichte wie Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire oder Innenminister Gérald Darmanin sind nicht mehr dabei. Unbekannt ist bisher die politische Linie des Neuen: Staatspräsident Macron hat es nach Barniers Ernennung zum Premier abgelehnt, die 577 Abgeordneten zu einer Sondersitzung der Nationalversammlung im Palais Bourbon einzuberufen. Sie wäre auch nicht ohne Tumulte und lautstarke Proteste der Linksaußen-Partei „Insoumis“ (die Unbeugsamen) über die Bühne gegangen.
Die Insoumis und ihre sozialistisch-ökologisch-kommunistischen Verbündeten in der Neuen Volksfront (NFP), die im Parlament mit 193 Mandaten die stärkste Fraktion bilden, fühlen sich von Macron um ihren Wahlsieg gebracht, verweigern jetzt jede Zusammenarbeit mit der Regierung Barnier, setzen auf Misstrauensvoten und mit großer populistischer Geste auf ein (aussichtsloses) Absetzungsverfahren des Präsidenten. Weder die NFP noch die Macronisten mit ihren Verbündeten geschweige denn die Republikaner kommen im Palais Bourbon auf eine regierungsfähige Mehrheit von 289 Sitzen. Für die Zustimmung zu einem Haushalt fehlen Premier Barnier bis zu achtzig Stimmen, Stimmen, die nach der Lage „inédite“ nur von dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) der Marine Le Pen und ihren 142 Abgeordneten kommen können (16 davon gehören zur rechten Gruppe von Eric Ciotti, dem abgesetzten Parteichef der Républicains).
Le Pen hat damit die Regierung Barnier in der Hand, sie regiert mit, ohne in einer direkten Kohabitation mit Emmanuel Macron regieren zu müssen. Die offizielle Sprachregelung des Parteivorsitzenden Jordan Bardella lautet: Die Regierung Barnier stehe „unter Beobachtung“. (Zur Erinnerung: Macrons Entscheidung am Abend der für seine politische Bewegung desaströsen Europawahlen, das Parlament aufzulösen und schnellstmögliche Neuwahlen anzusetzen, ging von den Prognosen der Wahlforscher aus, dass die Partei Le Pens dann eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erhalten würde und Macron in einer „cohabitation de combat“ einen Premier des RN ernennen müsste. In dieser direkten Konfrontation „im Kampf“ zwischen ihm und den Rechtsextremen sah er seine politische (Überlebens-)Chance. Ein folgenschwerer Irrtum, denn der RN landete nach der Volksfront und den Macronisten auf Platz drei).
Die Viererbande bleibt an der Macht
Die Zusammensetzung des Kabinetts spiegelt diese Abhängigkeit vom Wohlwollen der Rechtsextremen wieder. Mit dem bisherigen republikanischen Senator Bruno Retailleau erhält das Land einen Innenminister, der sich in seinen Äußerungen gegenüber Menschen, die nur „Franzosen auf dem Papier“ seien, kaum von der Partei Le Pens unterscheidet. Der 72jährige Justizminister Didier Migaud, das einzige linke Aushängeschild und nach dem Protokoll die Nummer 2, hat die aktive Politik und die sozialistische Partei bereits 2010 verlassen, so dass der ehemalige Präsident und heutige Abgeordnete François Hollande nach seiner Ernennung spottete: „ Das ist kein Linker mehr.“ Die Rechten, ehemalige oder Immer-noch-Républicains dominieren.
Geradezu abenteuerlich ist die Entscheidung für die fünfte Erziehungsministerin in zwei Jahren. Das größte Ministerium des Landes, das für über 12 Millionen Schülerinnen und Schüler und 800 000 Pädagogen die Verantwortung hat, soll die bisher unauffällige Anne Genetet (61) leiten, die sich noch nie mit diesem umkämpften Politikfeld beschäftigt hat. Der ihr in letzter Minute beigeordnete Minister Alexandre Portier steht weit rechts und gilt als ein strammer Befürworter des Privatschulsektors. Entsprechend entsetzt und vernichtend fallen die Reaktionen der Lehrergewerkschaften aus. Hatten nicht Emmanuel Macron und einer seiner Erziehungsminister (Gabriel Attal) der Bildungspolitik, der Laizität, der republikanischen Schule für alle Kinder und dem grob benachteiligten Berufsschulwesen im Land höchste Priorität eingeräumt? Vorbei, das Thema taucht kaum noch auf.
Das Hauptaugenmerk gilt im Elysee-Palast der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das einstige Machtimperium des Bruno Le Maire wurde zerschlagen, mit Antoine Armand sitzt ein junger Macronist im Wirtschafts- und Finanzministerium; Laurent Saint-Martin im Budget-Ministerium untersteht direkt dem Premierminister, dessen Stabschef heißt Jérome Fournel (57), der bisher das Ministerbüro Le Maires leitete. Fournel gehört zu einer so genannten „Viererbande“ von hohen Beamten, die Alexis Kohler, der Stabschef im Elysee-Palast, je nach Bedarf an Schlüsselstellungen einsetzt (Le Monde vom 21. September: „Die Minister wechseln, die ,Viererbande‘ bleibt an der Macht“). Über die Politik im Wirtschafts-und Budgetministerium wacht demnach weiter der Elysee-Palast. Michel Barniers Spielraum dürfte gering sein, wie gering könnte sich (morgen) bei seiner Antrittsrede im Parlament zeigen.
Vorspiel für ein nationalkonservatives Bündnis?
Wie lange aber wird er sich im Amt halten? Darüber spekulieren landauf landab die Medien: Wann senkt Marine Le Pen den Daumen und stimmt bei einem Misstrauensvotum zusammen mit der Volksfront? Diese Situation „inédite“ wird so bald nicht kommen, denn die Lepenisten setzen auf Zeit. Marine Le Pen nützt eine Regierung, die auf ihr Stillhalten angewiesen ist und unter großer nationaler wie internationaler Beobachtung steht. Im politischen Windschatten eines unbeliebten Staatspräsidenten und einer Regierung auf tönernen Füßen arbeitet die rechtsextreme Partei an ihrer Struktur, an ihrer lokalen Verankerung und an ihrer intellektuellen Kaderbildung in französischen (Elite-)Hochschulen und Instituten. Bis zu den nächsten Parlamentswahlen, die nach der Verfassung frühestens im Juni 2025 kommen könnten, will Jordan Bardella in allen 577 Wahlkreisen mit geschulten und politisch vorzeigbaren Menschen antreten. Abgezogen wurden in den letzten Wochen und Monaten stillschweigend Kandidatinnen und Kandidaten, die durch Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und fremdenfeindliche Hetze aufgefallen waren. Einige tauchen allerdings bereits als Mitarbeiter von Abgeordneten wieder auf.
Für die Kaderbildung und die Öffentlichkeitsarbeit stehen zwei konservative, erzkatholische Milliardäre zur Verfügung: der allgegenwärtige Medienzar Vincent Bolloré, der Zeitungen, Verlage und Fernsehkanäle beherrscht, und der Unternehmer Pierre-Edouard Stérin, der die leise Tour bevorzugt und seinen Thinktanks gerne griechische Namen verpasst (zum Beispiel Périkles). Beide werben mit ihren Verbindungen und finanziellen Möglichkeiten für ein breites nationalkonservatives Bündnis, das nach ihren Vorstellungen von der rechten Mitte über die Republikaner bis zum Rassemblement National reichen könnte. Vielleicht erweist sich Michel Barnier und seine mehrheitlich rechte Regierung als eine Art Vorspiel für diese Entwicklung. Sie gilt es aufmerksamer zu beachten als das öffentliche Getöse, das die wütenden und enttäuschten Volksfrontler auf der Straße und im Palais Bourbon veranstalten.