Die Parteienlandschaft von morgen – unbekanntes Land

Bild (bearbeitet): Angel Miklashevsky auf wikimedia commons

Veränderte gesellschaftliche Konfliktlinien schütteln das deutsche Parteiensystem durch: „Es befindet sich wie in anderen europäischen Ländern mitten in einer offenen Neuordnung. Also insofern alles ganz normal“, urteilt der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. „Wir stehen vor einer Parteienlandschaft ohne klassische Mehrheiten für ein linkes oder ein rechtes Lager.“ Es werde wohl neue Lagerformierungen geben müssen. Die große Frage sei, „was ist ein Projekt der Zuversicht? Was also liegt hinter dem Horizont des ‚Weiter so!‘ und der gescheiterten ‚Fortschrittskoalition‘? Denn hinter dem Horizont, das wusste schon Udo Lindenberg, muss es ja irgendwie weitergehen, möglichst besser.“

Wolfgang Storz: Es gibt die These, spätestens mit den letzten drei Landtagswahlen in Ostdeutschland wurde das bisherige Parteiensystem gecrasht. 50 Prozent der WählerInnen votierten entweder für eine faschistische oder eine putin-populistische Partei und zugleich wurden die im Bund amtierenden Regierungsparteien dezimiert. Was spricht für diese Lesart?

Horst Kahrs: Das ist so. Aber das ist nicht neu. Die alte Ordnung des Parteiensystems trägt schon länger nicht mehr. Bereits die mehrfachen „großen“ Koalitionen waren faktisch Not-Koalitionen. Weil sich die sogenannte Parteienlandschaft immer mehr ausdifferenziert, werden Parteien auch wider ihrer Überzeugung in lagerübergreifende Bündnisse gezwungen, um überhaupt Regierungen bilden zu können. Den demokratischen Parteien fällt es immer noch schwer, mit dieser Ausdifferenzierung von Interessen und Sichtweisen auf Politik umzugehen. Denn diese Differenzierung zwingt sie, zweierlei zu leisten: Einerseits müssen sie den Wählerauftrag erfüllen, also eine Regierung bilden, die über mehrere Jahre zusammenhält. Und andererseits müssen sie in der konkreten Sache und mit ihrer Ideologie zu allen anderen Parteien deutlich unterscheidbar bleiben, um bei der nächsten Wahl Erfolgschancen zu haben. Es braucht also eine neue Ordnung im Parteiensystem, in der sich Parteien unterscheiden können und in der gleichzeitig die dynamischen Themen der nächsten Jahrzehnte abgebildet werden. Wie diese Ordnung aussehen kann und welche Parteien darin existieren, ist offen.

Zwei Achsen und ihre Pole

Ich habe es noch nicht ganz verstanden. Erklären Sie es mir bitte anhand eines Beispieles.

Kahrs: Die Parteien werden sich sicher längs einer Achse unterscheiden müssen, die folgende Pole hat: Nationalismus plus Protektionismus plus Aggression auf der einen Seite versus Internationalismus plus globale Kooperation plus Gewaltverzicht auf der anderen Seite. Längs dieser Achse wird entschieden: Wie gehen wir in Deutschland und anderswo mit den planetaren Problemen Bewohnbarkeit der Erde für Menschen, Artenvielfalt und Migration um.

Gibt es noch weitere solcher Achsen, die neu gezogen werden?

Kahrs: Eine zweite Achse zeichnet sich heute schon direkt im Produktionsapparat ab, also vor allem in den güterproduzierenden Unternehmen: der Pol Verteidigung der fossilistischen Lebensweise steht dem Pol Dekarbonierung, erneuerbare Energien und „Solarismus“ gegenüber. In solchen oder ähnlichen Koordinatensystemen werden sich die Parteien nicht nur in Deutschland in den nächsten Jahren neu verorten, Lager bilden und Bündnisse ermöglichen. Bisher spricht übrigens einiges dafür, dass AfD und BSW immer im gleichen Quadranten zu finden sein werden. Also beide Parteien verteidigen die fossilistische Lebensweise, den Nationalismus, den Protektionismus, die kulturelle Abschottung.

Vor diesem von mir geschilderten Hintergrund antworte ich auf Ihre eingangs gestellte Frage so: Das gegenwärtige Parteiensystem ist nicht „gecrasht“, es befindet sich wie in anderen europäischen Ländern mitten in einer offenen Neuordnung. Also insofern alles ganz normal.

Da Sie AfD und Wagenknecht-Partei im selben Quadranten verorten, will ich auf diesen bedeutenden Unterschied aufmerksam machen: Die Wagenknecht-Partei hat — im Gegensatz zur AfD — mit Menschenverachtung nichts am Hut, und sie hat auch nicht das Ziel, diese parlamentarische Demokratie zu zerstören. Von wegen im selben Quadranten! Muss der Wagenknecht-Partei nicht allein deshalb, trotz aller Kritik, das Prädikat wertvoll zugeschrieben werden: Wer Demokrat ist und unbedingt eine rigide Geflüchtetenpolitik will, der sah sich bisher gezwungen, AfD zu wählen, jetzt hat er mit der Wagenknecht-Partei erstmals eine glaubwürdige demokratische Alternative.

Horst Kahrs: Wo leben Sie denn? Wer eine rigide Flüchtlingspolitik will, konnte auch schon 2017, 2021 und später CDU/CSU wählen. Die Migranten sind doch nur ein Prügelknabe. Jeder weiß: Warum kommen die Migranten — es wird ja nicht mehr unterschieden zwischen Migration und Flucht — nach Deutschland? Weil es hierzulande einen hohen Wohlstand gibt. Deutschland ist als eine der weltweit stärksten Volkswirtschaften attraktiv für die Suche nach einem besseren Leben. Wir alle wissen ja aufgrund eigener Reisen und zahlreicher Medienberichte, wie schlecht es sich in anderen Gegenden des Planeten leben lässt, da wollen wir nicht leben.

Aber eben deshalb ist das ja ein Thema, das Millionen doch zurecht umtreibt: Wenn alle hierherkommen, ist dieser Wohlstand in höchster Gefahr. Deshalb suchten die doch eine demokratische Partei, die sich endlich ernsthaft dieses Themas annimmt. Eben das Bündnis Sahra Wagenknecht.

Kahrs: Ich kenne diese Lesart, die in Gänze so geht: „Unser“ Wohlstand ist in Gefahr, weil erstens die billigen fossilen Rohstoffe aus Russland nicht mehr ins Land gelassen werden. Zweitens wird die industrielle Basis des deutschen Wohlstandsmodells aufgrund von Dekarbonisierung und eines übertriebenen Klimaschutzes zerstört. Und drittens wird unser Wohlstand zerstört, weil zu viele Fremde ins Land gelassen werden, die obendrein auch noch alles zugesteckt bekommen, wofür die Deutschen — im Gegensatz zu denen — hart arbeiten müssen. Aus diesem unhaltbaren Geschwätz leite ich ab: Das Thema „Migration“ steht in der politischen Debatte längst nicht mehr für die wirklichen Probleme, sondern es dient als Passepartout für Größeres. Es geht mit diesem Gerede um die Verteidigung eines — auf mittlere Sicht — nicht mehr haltbaren Lebensmodells, es geht um die Verweigerung, sich dieser Erkenntnis anzupassen, es geht um Wohlstandschauvinismus. Und das ist gleichermaßen der Kern der Anliegen von AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Parteien: Letztere verrührt diese Grundposition mit einer Portion destruktiven Anti-Parlamentarismus, die AfD verrührt das alles obendrein noch mit einer gehörigen Portion Menschenfeindlichkeit.

BSW als rettendes Kaninchen aus dem Hut der Wähler

Sie haben eben das Grundanliegen des Bündnisses Sahra Wagenknecht skizziert. Da diese eine Person diese Partei sehr prägt, sei noch angefügt: Sahra Wagenknecht kam als Kommunistin 1991 in den Vorstand der PDS, sah in der friedlichen Revolution der DDR eine Konterrevolution, war viele Jahre Kopf der „Kommunistischen Plattform“ in PDS und der Linken, schuf vor kurzem diese nach ihr benannten Kader-Partei, nach der sich Wladimir Iljitsch Lenin alle Finger lecken würde, und präsentiert sich nebenbei auch als ordoliberal inspirierte Volkswirtin. Nun endlich die Frage: Was sagt es über den geistigen Zustand einer großen deutschen konservativen Partei, wenn sie bereit ist, ohne viele Bedenken mit diesem Bündnis und dieser Spitzenfigur Landesregierungen zu bilden?

Kahrs: Die Union befindet sich in einer selbstverschuldeten Zwickmühle — Stichwort: Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Befreien kann sie sich daraus nur auf die Gefahr hin, wenigstens große Unruhe in den eigenen Reihen zu provozieren, womöglich die eigene Anhängerschaft zu minimieren. Eventuell gerät sie damit sogar in die Gefahr, sich zu dezimieren wie die SPD oder andere christdemokratische Parteien in Europa.

Was wäre denn so schlimm für die CDU, würde sie den Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Partei Die Linke wenigstens aufweichen?

Wahlplakat 1953 (Bild: Archiv für Christlich -Demokratische Politik auf wikimedia commons)

Kahrs: Dann würde mindestens ein Teil der Partei offen sagen, dann arbeiten wir lieber mit der AfD zusammen. Der antikommunistische Konsens, der in den 1950er Jahren rechte und konservative Parteien zur Union zusammenführte, lebt ja immer noch als Bindemittel.

Behält die CDU den Unvereinbarkeitsbeschluss bei, erscheint das Bündnis Sahra Wagenknecht auf den ersten Blick wie das rettende Kaninchen, das der Wähler aus dem Hut herbeizauberte, denn gegenüber Wagenknecht gibt es ja Gott sei Dank keinen Unvereinbarkeitsbeschluss. Aber richtig ist auch: Eine Koalition mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine wird vielen Unionsanhängern nicht gefallen, sie wird am Ende die Union auch schwächen und neues Wasser auf die Propaganda-Mühlen der AfD leiten. Der einzige taktische Vorteil: Man muss nicht den eigenen Unvereinbarkeitsbeschluss aufheben. Und nun wage ich noch diese Spekulation: Vielleicht stellt sich aber auch heraus, dass sich Union und BSW in Sachen sozialer Marktwirtschaft und nationalem Konservatismus gar nicht so fremd sind… . Das ist nicht ausgeschlossen, dass wir da noch einige Überraschungen erleben werden.

Wie lange hält die CDU das noch durch: die Zuwendung zu Wagenknecht, aber einen strikten Unvereinbarkeitsbeschluss bezüglich der Linkspartei und eines anerkannt kompetenten und demokratiefesten Bodo Ramelow?

Kahrs: Die Union hat wenig Spielraum, denn sie hat es in den vergangenen fünf Jahren versäumt, ein konstruktives Verhältnis zu Minderheitsregierungen zu entwickeln. Sie hat in Thüringen immer wieder mal Mehrheiten mit der AfD gegen die Ramelow-Regierung hergestellt. Minderheiten funktionieren aber nur, wenn man begreift: Es gibt sie, weil es einen gemeinsamen Gegner gibt. Gleichzeitig hat die Union zu viel Friedrich Merz vertraut, der ja mal versprach, die AfD zu halbieren. Und weil sie glaubte, in Thüringen stärkste Partei zu werden, hat sie alle Verfassungsänderungen abgelehnt, die notwendig gewesen wären, um die bisherige funktionierende parlamentarische Demokratie vor der destruktiven Strategie einer Fraktion zu schützen, die nun, nach der Wahl, mit einem Drittel der Stimmen eine Veto-Macht besitzt.

Versteht die Union ihr politisches Handwerk?

Noch einmal zur Vergewisserung die Frage: Wie sehr werden diese geplanten und vermutlich bald realen Koalitionen die CDU durchschütteln?

Konrad-Adenauer-Haus in Berlin. (Foto: Ansgar Koreng auf wikimedia commons)

Kahrs: Zunächst: Wir reden hier über die Union, weil sie allein aufgrund ihrer relativen Stärke als ein gewisser Stabilitätsanker für das parlamentarisch-demokratische System erscheint. In der Tat hängt von ihrem Agieren viel ab. Das heißt: Wenn sie nachdenkt, wenn sie klug ist, wenn sie zu taktieren versteht, wenn sie eine Strategie zu entwickeln vermag, ja, wenn sie also ihr politisches Handwerk verstünde, dann hätte sie es in der Hand — ob es sie durchschüttelt, ob es sie aus der Kurve nimmt oder ob sie diese elegant meistert. Ich bin skeptisch. Es sieht bisher nicht danach aus, dass die Union eine strategische Idee hat, wie sie unter den neuen Bedingungen gute konservative Politik machen kann.

Zeichnen Sie schon Ihre düstere Zukunft

Kahrs: Das Parteiensystem wird durchgeschüttelt werden. Was haben wir denn? Eine autoritär-nationalradikale Partei mit Zügen einer faschistischen Bewegung, eine weitere Wutbewirtschaftungs-Partei, von der keiner weiß, ob sie zu problemorientiertem politischen Handeln in der Lage ist, wir haben regionale Erfolge und Misserfolge kleinerer Parteien. Wir stehen also vor einer Parteienlandschaft ohne klassische Mehrheiten für ein linkes oder ein rechtes Lager. Es wird wohl neue Lagerformierungen geben müssen — unbekanntes Land. Was sind die Folgen? Allein in der Union wird der Streit über unterschiedliche strategische Ausrichtungen aufbrechen. Nehmen wir nur diese Fragen: Welche anderen Parteien könnten Friedrich Merz ins Kanzleramt tragen? Die Grünen, die SPD, die AfD, das BSW? Aber wir reden hier immer über die Union — wie zukünftige Regierungsarbeit parlamentarische Mehrheiten erreicht, betrifft ja nicht nur die Union, aktuell in Brandenburg genauso die SPD.

Werden nicht auch vor diesem Hintergrund Neuwahlen sinnvoll? Die drei Ampelparteien befreien sich möglichst bald voneinander. Und während des Wahlkampfes zum Bundestag verstrickt sich die CDU in Ostdeutschland in Kontroversen über eine Zusammenarbeit mit einer real-sozialistischen Kaderpartei. Das wäre doch ideal für alle Parteien links der Union.

Kahrs: Neuwahlen wären nur eine Flucht aus der demokratischen Verantwortung, die Parteien in einer parlamentarischen Demokratie im Parlament haben, nämlich eine Regierung zu bilden. Man kann zum Glück in Deutschland nicht so einfach die Bürger und Bürgerinnen wieder zur Wahlurne rufen und hoffen, es kommt dann etwas heraus, was einem besser in die politischen Denkschablonen passt. Und braucht es nicht eine starke Partei des aufgeklärten Konservatismus, die bewahrt, in dem sie wohldosierten Veränderungen zustimmt beziehungsweise sie gar einleitet, die nicht rückwärts, sondern vorwärts denkt? Wären Neuwahlen nicht genau das Geschäftsmodell von BSW und AfD? Die AfD hat die Zersetzung der Union ja bereits als nächstes taktisches Ziel ausgegeben — auf dem Weg in die Machtzentralen.

Europa, ein Kontinent der Auswanderung, jetzt der Einwanderung

Dürfen wir hoffen: Nachdem Sahra Wagenknecht, mit Oskar Lafontaine im Rucksack, erst die deutsche Sozialdemokratie sehr schädigte, dann die Partei Die Linke, wie es aussieht, fast zerstörte, dass sie nun, vom Osten ausgehend, die Grundfesten der CDU angreift?

Kahrs: Ein destruktives Politikverständnis gibt nie Anlass zu Hoffnung. Und es würde ja nicht nur die CDU zersetzt, sondern zudem das, wofür die Union auch steht: europäische Zusammenarbeit, Westbindung.

Noch ein, zwei Fragen zur Bewusstseinslage dieser Nation.
Wenn gemessen an den letzten Wahlergebnissen etwa 70 bis 80 Prozent der Wahlbevölkerung für eine grundsätzlich rigidere Geflüchteten- und Asylpolitik ist, bedarf es dann nicht — anstelle dieses kleinkarierten Politik-Gewurstels — eines großen Historischen Kompromisses, in dem sich beide Seiten wiederfinden?
Eine Erinnerung weit zurück in das Italien der 1970er Jahre: Enrico Berlinguer, der damalige Führer der KPI, sorgte sich um die militante Polarisierung zwischen seiner Partei und dem antikommunistischen Bürgertum. Er ersann deshalb die Strategie des „Historischen Kompromisses“: Das kommunistische und bürgerliche Lager einigen sich auf einen langfristigen Kompromiss, der die wesentlichen Anliegen beider Seiten berücksichtigt.

Kahrs: Zwischen wem sollte ein solcher „historischer Kompromiss“ geschlossen werden? Die menschliche Geschichte lehrt: Migration lässt sich auf Dauer nicht verhindern. Und ohne Migration wäre die Menschheit ärmer. Der wirtschaftliche und soziale Erfolg hat Europa verwandelt, von einem Kontinent der Auswanderung in einen Kontinent der Einwanderung. Das würde sich nur ändern, wenn die europäischen Staaten ihren eigenen wirtschaftlichen und sozialen Ruin herbeiführten, also unattraktiv werden würden. Das kann nun keiner wollen.

Was bleibt noch?

Kahrs: Sich ehrlich zu machen: Wenn Europa eine auf sozialen und politischen Menschenrechten bestehende Staaten- und Gesellschaftsgemeinschaft bleiben will, dann kann es sich nicht weiter auf einen Wettlauf der Empathielosigkeit, Schäbigkeit und menschlichen Niedertracht einlassen. Wie dicht sollen die Grenzen denn noch werden? Darf im Ernstfall geschossen werden? Wie sehr wollen wir uns als Gesellschaft gegenüber menschlichem Leid und Streben nach Glück verhärten? Ich will keine Kompromisse mit Leuten, die das Thema Migration nur bespielen, weil sie Ängste und Wut politisch bewirtschaften wollen.

Asyl und Migration klar trennen

Dann bleibt auch in Sachen Migration alles, wie es ist.

Kahrs: Nein. Das heißt nicht, dass es bleibt, wie es ist, denn es ist nicht gut, wie es ist. Es braucht unbedingt eine klare Trennung zwischen Asyl für politisch Verfolgte und Migration auf der Suche nach einem besseren Leben. Die rechtliche Vermischung von beiden ist eines der aufzulösenden und zu lösenden Probleme. Die übergroße Mehrheit der Migranten, die nach Europa und Deutschland kommen, wollen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Warum findet ein alternder Kontinent, dem absehbar Arbeitskräfte und Konsumenten fehlen werden, dafür keine humanitäre Lösung? Das ist die eigentliche Frage.

Deshalb noch einmal zurück zur Frage: Bedarf es nicht auch bei uns eines solchen historischen humanitären Kompromisses in der Migrationsfrage, der für eine breite Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel ist, indem er die wichtigsten Anliegen „beider“ Seiten berücksichtigt. Denn das Gift dieses Großthemas zerstört doch jegliche Versuche, beispielsweise ökologische Reformen in den kommenden Jahren zu verwirklichen.

Gesine Schwan (Foto: Heinrich Böll Stiftung auf wikimedia commons)

Kahrs: Es gibt ja dazu einige Vorschläge, etwa von Gesine Schwan: Bezieht viel stärker die Kommunen ein, macht sie auch finanziell stark, wenn es um die Integration von Flüchtlingen und Migranten geht. Sie wissen, wo es vor Ort hakt, was gebraucht wird. Und Integration bedeutet immer auch: Das Grundgesetz mit seinen Werten regelt das gesellschaftliche Zusammenleben — für alle, die im Lande leben, egal ob deutsche Staatsbürger oder nicht. Weiter: Beschleunigt die Verfahren und erleichtert die Integration in den legalen Arbeitsmarkt und den Alltag vor Ort. Dafür braucht es Ressourcen und Geld, welches auch über europäische Töpfe kommen muss. Warum nicht Berufsausbildungen schneller anerkennen? Warum wird nicht in den Flüchtlingsunterkünften systematisch nach Interessenten für eine Tätigkeit in der Altenpflege, in Krankenhäusern, in kommunalen Betrieben, in Handwerksberufen gesucht, mit ihnen ein fünfjähriges Ausbildungs- und Integrationsabkommen geschlossen, an dessen Ende man mit einer Ausbildung in sein Herkunftsland zurückkehren oder die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten kann? Warum fahren deutsche Minister stattdessen nach Mexiko, Brasilien oder auf die Philippinen, um Pflegekräfte anzuwerben? Es gibt für einen solchen Strategiewechsel keine Erfolgsgarantie. Klar. Aber vielleicht wird klar, worum es gehen könnte: eine institutionelle Praxis zu schaffen, die auf den guten Willen und das Interesse aller Beteiligten setzt.

Themen- und Ortswechsel: Die Grünen fliegen Ende September an einem Wahl-Sonntag aus dem Landtag, an dem nicht nur im brandenburgischen Frankfurt (Oder) HelferInnen Flutsperren errichteten, Anwohner ihre Häuser mit Sandsäcken sicherten, und Ministerpräsident Woidke sagte, es sei nötig, mit allen Kräften Menschen und Hab und Gut zu schützen. Zeitgleich wird jede Messerstecherei, Hauptsache ein Geflüchteter ist beteiligt, so sehr politisiert, dass mit neuen Grenzkontrollen die Idee von Europa aufs Spiel gesetzt wird. Was sagt das über den Bewusstseinsstand der Bevölkerung?

Kahrs: Die vielen Beispiele lokaler Solidarität zeigen die Stärke des Zusammenhalts in der konkreten Gefahr, zeigen, was möglich ist. Auf der anderen Seite stehen die eher abstrakten Gefahren, die „draußen in der Welt“ lauern: Kriege, Umbrüche, grundstürzende Veränderungen auch in der eigenen Biographie, Verunsicherung, auch Einsamkeit. Unübersichtlich und komplex erscheinen die Antworten auf Fragen wie: Was kommt? Warum? Wer treibt das voran? Was darf ich erhoffen? Die Gesellschaft insgesamt wird nervöser, ihre kognitive Dissonanz nimmt zu.

Wo steht Deutschland 2040?

Das steht doch in allen Broschüren zur Personalführung: Man muss eben lernen mit Unsicherheiten umzugehen. Ist das so ein Hexenwerk?

Kahrs: Zumindest ist es nicht jedermanns Sache. Angesichts einer enger zusammenrückenden Welt, angesichts immer komplexer werdender Zusammenhänge und unübersichtlicher Abhängigkeiten leidet die Fähigkeit der Menschen, Unsicherheiten auszuhalten und mit Wahrscheinlichkeiten statt Gewissheiten zu leben. Die „Der-Täter-ist-immer-der-Migrant“-Melodie erleichtert da die Orientierung. Wir leben hier in einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt und in einer der reichsten Gesellschaften. Wir leisten uns eine wachsende Ungleichheit bei den Markteinkommen und einen hohen Verschleiß der gesellschaftlichen Infrastruktur. Und wir leisten uns auch noch zu viele Parteien, die mit ihrer Alles-wird-immer-schlimmer-und-geht-den-Bach-ab-Rhetorik nur ein Ziel kennen: Wir brauchen einen Schuldigen und den müssen wir brandmarken.

Was erkennen Sie in alldem an Schlüssen für die bevorstehenden politischen Fronten und Debatten des Jahres 2025?

Kahrs: Die AfD wird sich weiter als Opfer der Systemparteien und wahre Vertreterin der deutschen Interessen inszenieren. Für alles weitere gilt heute: Warten wir mal ab, wie die Regierungsbildungen in den drei ostdeutschen Ländern ausgehen und welche strategischen Schlussfolgerungen die Parteien daraus ziehen. Zu hoffen wäre, dass eine politische Kraft es schafft, eine gesellschaftliche Debatte über die Frage anzustoßen, wo das Land 2040 stehen kann und wie der Weg dahin aussehen könnte. Was ist ein Projekt der Zuversicht? Was also liegt hinter dem Horizont des „Weiter so!“ und der gescheiterten Fortschrittskoalition? Denn hinter dem Horizont, das wusste schon Udo Lindenberg, muss es ja irgendwie weitergehen, möglichst besser.


Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Von 1995 bis 2021 hat er in verschiedenen Funktionen für die PDS, DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog »linksdings – Der Schlüssel steckt von innen« https://linksdings.ghost.io/
Siehe auf bruchstücke auch „Es ist zu spät für ein Verbot der AfD„.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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