Die Strahlkraft ist nicht verblasst

Bild: IG Metall Bezirk Mitte

Die Zeit ist reif für die Initiierung eines neuen arbeitszeitpolitischen Großprojekts. Die drei großen Strömungen der Moderne – Liberalismus, Marxismus, Keynesianismus – repräsentiert durch John Stuart Mill, Karl Marx und John Maynard Keynes hatten einst den Mut zu weitreichenden Visionen, aus denen aktuelles Handeln seine Inspirationen bezieht: den drei Stunden Tag, die 15 Stunden Woche oder in der etwas bescheideneren Variante von André Gorz: 1000 Stunden im Jahr – das reicht! Schon Thomas Morus verhieß den 6-Stunden-Tag. Heutzutage wirken aktuelle, eher zaghafte Projektionen auf die 32-Stunden-Woche eher kleinmütig und verzagt.

1 Ein Jubiläum – kein Jubel, eine kritische Würdigung

Durch Jubiläen weht oft ein Hauch von Melancholie, von Erinnerung an etwas unwiderruflich Vergangenes, wie beispielsweise an die Anfangsjahre eines enthusiastischen, mittlerweile routinisierten Projekts, an Kämpfe um Errungenschaften, die mittlerweile Alltag geworden sind und dabei viel von ihrem ursprünglichen Elan verloren haben. So hätte es auch bei der Veranstaltung der IG Metall zum 40jährigen Jubiläum des Streiks um die 35-Stunden-Woche sein können. Aber so war es nicht. Mit Blick auf die Vergangenheit ist die Strahlkraft der Sonne über der 35 nicht verblasst – obwohl sich die 35 in ihrer Umsetzung und in Verbindung mit der Flexi-Komponente der Tarifabschlüsse als ein Projekt mit vielen Tücken erwiesen hat.

Es war eine Jubiläums- keine Jubel-Veranstaltung – einschließlich der Frage, ob die IG Metall mit dieser Flexi-Komponente nicht einen zu hohen Preis für den Einstieg in die 35-Stunden-Woche, die ja für viele Beschäftigte immer noch nicht Realität ist, bezahlt hat, ob man den Streik zur Erzwingung eines besseren Abschlusses nicht doch noch hätte weiterführen können, und sogar: Ob der Streik nicht von vorneherein mit der darin verfolgten Minimax-Strategie falsch angelegt war.

Dennoch: man war unter sich und freute sich an der durchaus kritischen Würdigung einer gemeinsamen historischen Erfahrung, die sich auch Jüngeren nicht nur durch Überlieferung sondern durch Erleben der Fernwirkungen des damaligen Arbeitskampfs – vermittelt durch aktuelle Forschung – erschließt. Diese Fernwirkungen sind – wie das Ergebnis des damaligen Konflikts – ambivalent. Immerhin schien zumindest während des Jubiläums nicht ausgeschlossen, dass die IG Metall noch einmal Luft holt und sich mit den Lehren aus der Vergangenheit auf den Weg in die Zukunft macht, und dabei einen neuen großen Konflikt mit den immer noch gleichen Gegnern nicht scheut.

2 Merkposten von damals

  • Der Arbeitskampf wurde in Erwartung des konzertierten Widerstands von „Kapital und Kabinett“ sorgfältig und gründlich vorbereitet und von vorneherein als dreifache Mobilisierung – gewerkschaftlich, betrieblich, gesellschaftlich/politisch – angelegt.
  • Er stand gegen die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl avisierte „geistig-moralische Wende“ und wurde vom Widerstand gegen die aufkommende Hegemonie des Konservativen Neoliberalismus getragen bzw. der Streik hat diesen Widerstand als Solidarität organisiert und gebündelt.
  • Die Beteiligung der Belegschaften und ihrer Interessenvertretung wurde durch aktivierende Befragungen und einen lebendigen, von den Gewerkschaften initiierten Diskurs mit Wissenschaft, Medien, Kulturschaffenden in Veranstaltungen, Arbeitskreisen, lokalen Aktivitäten organisiert.
  • Resümee: die Ära Kohl wäre ohne Wiedervereinigung 1990 zu Ende gewesen – nicht zuletzt dank des von den Gewerkschaften mobilisierten Widerstands gegen die geistig-moralische Wende des konservativen Neoliberalismus (Reagan, Thatcher)

3 Ambivalenzen im Ergebnis

* Die pauschale Konfrontation zwischen Arbeitszeitkürzung und Arbeitszeitflexibilisierung hat eine differenzierte Auseinandersetzung blockiert mit unterschiedlichen Konzepten der Variabilisierung und Differenzierung der Arbeitszeiten – auch im Sinn von mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten und als Reaktivierung einer „Betriebsnahen Tarifpolitik“.

* Die gewerkschaftliche Vorbereitung und Begleitung der betrieblichen Umsetzung des Tarifabschlusses hatte organisations- und arbeitszeitpolitisch ambivalente Konsequenzen. Mittlerweile ist die gewerkschaftliche Perspektive auf flexible Arbeitszeitverkürzung unstrittig. Offen ist allerdings der Horizont hinter der 35. Die aus dem Vorstandsbereich „Tarifpolitik“ (Hans Janssen, Klaus Lang) angestoßene Initiative „Überleben statt überwintern“ und die per Beschluss dokumentierte Orientierung der Gewerkschaftsfrauen auf den 6-Stunden-Tag wurden nicht aufgegriffen, versandeten in der Konzentration auf den Einstieg in die 35-Stunden-Woche (stand 1987 erneut zur Debatte).

* Die drei guten Gründe, mit denen die Gewerkschaften vor 40 Jahren zu einem der härtesten Arbeitskämpfe in ihrer Geschichte angetreten sind, markieren nach wie vor das gesellschaftspolitische Profil gewerkschaftlichen Handelns: Arbeitsplätze sichern und schaffen, Arbeitsbedingungen verbessern, Leben und Gesellschaft gestalten.
Damals symbolisierte die Forderung nach der 35-Stunden-Woche diesen Dreiklang des gewerkschaftlichen Wirkens in kapitalistischen Demokratien hinter ihrem Hauptzweck, der Beteiligung der Lohnabhängigen an den Früchten ihrer Arbeit. Auch aktuell repräsentiert vor allem die gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik ihren über den Lohnkampf hinausreichenden, selbst gesetzten Auftrag. Aber über ein Projekt, das die Strahlkraft der Sonne hinter der 35 neu entfachen könnte, verfügen die Gewerkschaften aktuell nicht. Und sie sind noch nicht einmal auf der Suche danach.

Bild: geralt auf Pixabay

4 Aktuelle Lage: die Zeitenwende – kommt erst noch?

  • Es ist wieder viel die Rede von Wende. Dabei hat es den Anschein, als ob die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende von anderen in eine Richtung gelenkt wird, die nicht zuletzt auch für die Gewerkschaften eine gewaltige Herausforderung beinhalten wird. Wenn Friedrich Merz die Parole ausgibt „Wir müssen den Mut haben, den Rahmen neu zu setzen“ heißt das für die abhängigen Beschäftigten und die Gewerkschaften nichts Gutes.
  • Wie 1983/84 zeichnet sich eine breite Mobilisierung von konservativ/neoliberaler Politik und Kapital für „Bock auf Arbeit“ und eine Revitalisierung der ideologischen Absicherung gesellschaftlicher Spaltung in einem zum Mythos übersteigerten Arbeitsethos ab. Aber: Bevölkerung, Wissenschaft, Medien, Kultur sind heutzutage sehr viel aufgeschlossener für kürzere Arbeitszeiten und für flexible ArbeitszeitVERKÜRZUNG als vor 40 Jahren.
  • Das Projekt der Vereinbarkeit einer aktiven Lebenskultur mit einer engagierten Berufstätigkeit ist längst nicht mehr „nur“ ein Frauenthema, sondern ein allgemeines Anliegen (Soziabilität könnte einen ähnlichen Stellenwert entfalten wie Nachhaltigkeit). Auch die „Entpatriarchalisierung“ der Erwerbsarbeit ist ein gesellschaftspolitisch anerkanntes Projekt und auch von vielen Männern akzeptiert
  • Zudem hat das ökologische Argument gegen den Zwang zum Wachstum und für Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung u.a. durch die Kurzarbeit während Corona deutlich an Plausibilität gewonnen.
  • Und: Aktuell steht die Tarifautonomie (noch?) nicht im Fokus konservativ-liberaler Rhetorik.

Aus diesen Gründen trifft der scheinbar aus der Luft gegriffene Einstiegssatz zu: Die Zeit ist reif für die Initiierung eines neuen arbeitszeitpolitischen Großprojekts.

5 Schlussbemerkung

Einst fungierten die „Wiederherstellung der Vollbeschäftigung“ und die „Verteidigung des Normalarbeitsverhältnisses“ als eine Art Mantra des sozial- und gesellschaftspolitischen Begehrens der Gewerkschaften. Die berechtigte Kritik an diesen Traditionskonzepten einer durch und durch patriarchalen, auf Industriearbeit fixierten, der Zentralität der Erwerbsarbeit verhafteten Arbeitsgesellschaft hat mittlerweile Eingang in gewerkschaftliche Debatten gefunden. Dabei müssen die Gewerkschaften allerdings aktiv der Tendenz zum akzeptierenden Arrangement mit Massenarbeitslosigkeit und gleichzeitiger Prekarisierung immer größerer Teile der verbleibenden und neu entstehenden Beschäftigung entgegenwirken. Ein neues Projekt der flexiblen Arbeitszeitverkürzung eingebaut in einen neuen Mut auch zur weitgesteckten Zukunft könnte dazu den passenden Rahmen liefern.


Weitere Bruchstücke-Beiträge aus Anlass des Arbeitskampfes um die 35-Stundenwoche vor 40 Jahren:
Gestreikt für Lebenszeit. Erinnerungen an einen gesellschaftspolitischen Konflikt
Und am Dienstag, 03. 12: „Aus 1984 lernen heißt, den Konflikt langfristig gründlich vorbereiten“

Ingrid Kurz-Scherf
Ingrid Kurz-Scherf ist emeritierte Professorin für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt "Politik und Geschlechterverhältnis" am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterpolitik, Politischer Feminismus, Arbeits- und Sozialpolitik, Politische Ökonomie der Demokratie, Gewerkschaften.

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