Vielleicht könnte die Implosion des Assad-Regimes auch zu einem Frage-Schub für die politische Theorie führen. Weil noch nie ein so brutales Machtsystem durch einen vergleichsweise winzigen Anstoß von Außen zusammengebrochen ist. Denn auch ohne russische und iranische Unterstützung hätte die hochgerüstete syrische Armee bestimmt den Vormarsch der Rebellen zumindest bremsen oder sogar stoppen können. Die politik-theoretisch spannende Frage daher ist: Warum wollte eine Armee, die vor wenigen Jahren noch mit so ungeheurer Brutalität erfolgreich war, nun nicht mehr kämpfen?
Eine kleine Nachricht aus Syrien ließ mich vor einigen Monaten kurz aufhorchen. Demonstrationen in Assad-Syrien nicht direkt gegen das Regime, sondern gegen die verzweifelte ökonomische Lage im Land. Und von Polizei-Maßnahmen gegen diese Demos wurde nichts berichtet. Ich vermute einmal, weil die ökonomische Lage auch für die bisherigen Unterstützergruppen des Regimes unerträglich wurde, selbst für die Familien der Angehörigen des Sicherheitsapparates.
Vor fünf Jahren hatte Assad militärisch auf breiter Front gesiegt und mit Ausnahme von Idlip und den Kurdengebieten das syrische Kernland wieder unter seine Kontrolle gebracht. Aus der Sicht seiner Unterstützergruppen in der Bevölkerung und im Staatsapparat hätte dann zumindest eine ökonomische Verbesserung und vielleicht auch eine gewisse Liberalisierung zumindest für die Anhänger des Systems stattfinden müssen. Es spricht alles für die Annahme, dass diese Enttäuschung nach dem mühsam errungenen Sieg zu einer nihilistischen Haltung der eigenen Basis geführt hat.
DDR 1989
Die DDR 1989 ist ein anderes Beispiel für solche Implosionen. Warum hatten die DDR-Sicherheitskräfte am 9. Oktober nicht mehr den Willen, gegen die alles entscheidende Leipziger Montagsdemonstration vorzugehen? Vor allem auch, weil sie auf breiter Front das Gefühl hatten, von der eigenen Führung im Stich gelassen zu sein. Indem Erich Honnecker schon seit Jahren echte Diskussionen im Zentrum der Macht verhindert hatte, gab es keine interne Reflexion der sich spätestens seit Mai1989 massiv verschärfenden Lage des Regimes. Nicht einmal im Politbüro wurde darüber offen diskutiert. Es wurden weder Szenarien noch Lösungsalternativen noch flexible Reaktionen erörtert. Und als Honnecker dann auch noch krankheitsbedingt in jenem Krisensommer ausfiel, gab es kein bewusstes Subjekt mehr, dass auf die Fluchtwelle über Ungarn und die dramatisch verschlechternde Stimmung im Land reagieren konnte.
Dadurch entstand neben den wachsenden System-Zweifeln auch in der SED-Basis noch zusätzlich das Gefühl der fehlenden Führung. Was gerade autoritär strukturierte Charaktere viel mehr in Schwierigkeiten bringt als harter Widerstand von Außen. Der sogar etwas Stabilisierendes haben kann. Denn wenn es Demonstranten-Gewalt gegeben hätte, wäre eine harte Reaktion und vielleicht sogar ein offensives Zusammenstehen der Regime-Anhänger möglich, wenn nicht wahrscheinlich gewesen. Angesichts einer eher freundlich-friedlichen Opposition und dem eigenen Gefühl auch vieler Sicherheitskräfte („dass es so nicht weiter gehen könne“) – wollten die nicht mehr für eine – nicht mehr als verantwortlich existent wahrgenommene Führung – in eine blutige Konfrontation gehen.
Afghanistan 2021
Bisher habe ich Beispiele für wünschenswerte Zusammenbrüche beschrieben. Aber fehlende Überzeugung kann auch zu schlimmen Zusammenbrüchen führen. Beispiel Afghanistan. Der Bundestags-Untersuchungs-Ausschuss zu Afghanistan geht an der viel grundsätzlicheren Frage vorbei, nämlich warum trotz aller Horror-Erfahrungen mit den Taliban die überwiegend nicht-islamistische Bevölkerung im Großraum Kabul so passiv war. Dabei war die afghanische Armee waffentechnisch den Taliban deutlich überlegen. Auch hier vermute ich das „Wenn die eigenen Anhänger nicht mehr glauben…“ als eine Ursache.
Dabei spielten sicherlich die schmutzigen Präsidentschaftswahlkämpfe in den 10er Jahren eine demoralisierende Rolle. Weil sie vor allem Eines demonstrierten: Die totale Gleichgültigkeit der Kandidaten gegenüber der so hoch brisanten Lage der laizistischen Republik und die absolute Fixierung auf die persönlichen Interessen. Aber warum hat die Kabuler Zivilgesellschaft, allen voran die weibliche, angesichts der tödlichen Gefahr nicht schon in den 10er Jahren eine Front für ein demokratisches, nicht-korruptes Afghanistan gebildet? Wie auch immer – wie in Syrien brach innerhalb von Tagen die afghanische Republik zusammen und leistete die gut ausgerüstete Armee keinen Widerstand.
Meine These: Ein Hauptgrund für solche Systemzusammenbrüche ist die Resignation, die innere Verabschiedung der ANHÄNGERINNEN einer politischen Ordnung!
Die Bereitschaft, über den eigenen Schatten zu springen
Ein zugegeben großer weiter Sprung: Wie sollten unsere europäische Demokratien solchen Gefährdungen begegnen? Also wie die eigene Überzeugungsbasis stärken und lebendig halten?
1. Nicht aufgeblasen arrogant – aber doch selbstbewusst offensiv zu den eigenen Kernwerten stehen – und dafür möglichst sehr breite Konsense suchen! Was auch heißt, den überlebens- wichtigen demokratisch – aufklärerischen Grundkonsens nicht durch Spezial-Ästhetiken spalten und belasten. Also z.B. durch die „woken“ Versuche, Sprache zu dominieren.
2. Die Bereitschaft für die gemeinsamen demokratisch-zivilisatorischen Grundwerte zumindest im Gefährdungsfall breite politische Konsense zu suchen. Mit der Bereitschaft auch über den eigenen Schatten zu springen. In der gegenwärtigen Situation Deutschlands aber auch Frankreichs heißt das: Möglichst große Problemlösungs-Koalitionen zu bilden, anstelle dieses zunehmend unwürdigeren Parteienzanks und der kurzfristig-taktischen Vorteilssuche auf Kosten des Ganzen. Wie von mir schon mehrfach (2021) geschrieben: Ich bin deshalb für eine langfristige super-große Koalition von CDU, SPD und Grünen, die in der Lage ist, mit verfassungsändernden Mehrheiten das gemeinsam als unbedingt Notwendig-Erachtete auch umzusetzen.
3. Statt rechthaberischem Zank ein argumentativer und fairer Streit um Lösungen: Nur wenn von vielen als wichtig empfundene Probleme tatsächlich auch ehrlich und offen diskutiert werden, bleibt die Überzeugtheit vom politischen System wach. Unter den Teppich kehren bewirkt auf die Dauer innere Distanz bei denjenigen, die sich in ihren Problemwahrnehmungen unbeachtet fühlen. So hat die weitgehende Ignoranz der Bundestagsparteien und großer Teile der Medien bis 2017 gegenüber den Migrationsproblemen erst die AFD stark gemacht. Genau die oft gehörte Empfehlung, solche Themen medial und politisch nicht zu behandeln, genau diese Aufforderung zur Ignoranz gefährdet die breite Verankerung der Demokratie!
4. Echte Handlungsentschlossenheit – nämlich rhetorischen Bekenntnissen auch wirksame Maßnahmen folgen zu lassen, ist entscheidend für den Glaubwürdigkeitserhalt. Im Gegensatz zu dem, was manche Mandatsträgerinnen als klugen Kniff sehen, nämlich sich hinter Hindernissen zu verschanzen (um nicht das umsetzen zu müssen, was man eigentlich nicht will). Dies zerstört zwar nicht kurzfristig, aber dafür langfristig um so nachhaltiger die demokratische Glaubwürdigkeit. Diese etablierte Lust „am Nicht-Handeln-Können“ zeigt sich sowohl bei Maßnahmen gegen die irreguläre Migration als auch bei Maßnahmen gegen Steuerflucht und Steuer-Ungerechtigkeit. Und auch bei der Durchsetzung ökologischer Mindestmaßnahmen wie Tempolimit oder gerechter Belastung des Flugverkehrs. Die Realisierung der LNG-Terminals zeigt dagegen, was Politik potentiell kann, WENN SIE WILL!
Um den Bogen zurück zu schlagen: Die zentrale politische Ressource jedes politischen Systems ist die lebendige Überzeugtheit seiner Anhänger. Überzeugung unterscheidet sich dabei von Indoktriniert-Sein dadurch, dass es einen eigenständigen Glauben an die Richtigkeit des eigenen Systems gibt. Das heißt auch die Fähigkeit, mit selbstkritischen Gedanken die aktuellen Ausprägungen des Eigenen kritisch zu überprüfen und zu erneuern.
Vertrauen ist eine Währung mit der von „Staatenlenkern“ und anderen politischen Akteuren oft leichtfertig umgegangen wird.; dies ist nicht nur Autokraten und Diktatoren vorbehalten.
Dass autoritäre Systeme das Vertrauen -auch ihrer Anhänger- verlieren können und welche Folgen das haben kann, beschreibt der Text sehr gut. Ob weiteren Diktatoren das Schicksal von Assad droht, und wenn ja, wann, ist schwer vorhersehbar.
Genauso bedenkenswert ist allerdings, dass der Vertrauensverlust in demokratische Institutionen auch diese Regierungsform ins Wanken bringen kann. Ob die Verantwortlichen in den Parteizentralen von CDU, CSU, SPD und Grüne den „Schuss schon gehört haben“ bezweifle ich vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Debatten und dem konkreten Handeln vieler Politiker*innen in diesem Land.
Ich fürchte, die angemahnte und auch von mir gewünschte (herbeigesehnte) Zusammenarbeit der genannten Parteien, in den für alle offensichtlich auf dem Tisch liegenden drängenden Fragen, bleibt ein Wunschtraum. Kurzfristig erhoffter (vermeintlicher) parteipolitischer Vorteil erscheint stärker, als der Blick auf das Wohl und Wehe des Ganzen. Kompromisse (nicht nur) in der Vorwahlzeit sind in weite Ferne gerückt. Das Trennende dominiert und das gemeinsam Gewollte bleibt dabei auf der Strecke. Hoffentlich wachen wir nicht irgendwann auf und stellen fest, „jetzt ist es zu spät“.