Grundbegriffe unterlaufen, Selbstverständliches problematisieren

Screenshot: Website Universität Bielefeld

Luhmann zu lesen ist einfach – anstrengend. Allzu sehr weicht die Gesellschaftstheorie, die er entworfen, in eine Kommunikations- und eine Evolutionstheorie eingebettet und mit exzessiver Redundanz in seinen Büchern und Aufsätzen entfaltet hat, von unserem alltäglichen Realismus ab. Aber was wäre das für eine Wissenschaft, die ihre Aufgabe darauf reduziert, das Weltverständnis für den Hausgebrauch, den gesunden Menschenverstand festzustellen und darzustellen – keine. Es hätte keinen Kopernikus, keinen Darwin, keinen Marx, keinen Freud, keinen Zuse gegeben. Für solche, die es mit der Theorie sozialer Systeme (doch noch mal) versuchen wollen, gibt es jetzt eine neue, 660 Seiten dicke Einladung: „Soziologie unter Anwesenden. Systemtheoretische Vorlesungen 1966-1970“, inklusive einer ausführlichen editorischen Notiz und eines Nachworts über „Lehrer Luhmann“. Für Freunde der Systemtheorie ein Fest.

Luhmann wird, gefördert von Helmut Schelsky, 1966 an der Universität Münster promoviert und habilitiert. Die „Lage der offiziellen Soziologie“ beurteilt er 1968, als er in Frankfurt Theodor W. Adorno vertritt, ausgesprochen kritisch, den Stand der Gesellschaftstheorie nennt er „desolat“ und spricht von einem „Suchen nach Gesamtorientierung, das unbefriedigt bleibt und seinen Ausdruck in selbstgeschaffenen Ersatzlösungen findet“. Nicht ohne hinzufügen, „ich selbst erhebe nicht den Anspruch, mit einem fertigen Konzept aus den Kulissen zu treten“. Mit einem fertigen sicherlich nicht, aber mit einem Konzept, das er bis zu seiner Emeritierung (1993) und darüber hinaus unermüdlich umsetzt: Eine funktional-strukturelle Theorie, die um die System-Umwelt-Differenz kreist und in der „Reduktion von Komplexität“ den Schlüssel gefunden hat, der zu jeder Tür passt. „Der Systemgedanke ist dabei weder konservativ noch revolutionär, er ist weder gegen noch für Änderungen. Aber er zielt auf eine vollständige Erfassung der wirklichen sozialen Zusammenhänge“ (S. 167), die als eine Komposition von Eigensinn und Abhängigkeiten begriffen wird.

Die frühen Vorlesungen sind aus drei Gründen besonders aufschlussreich. Zum einen setzt er sich darin mit Entwicklung und Stand der Sozialwissenschaften sehr ausführlich auseinander. Man sieht, er hat sein Handwerk gelernt, was auf seinem sonst typischen Abstraktionsniveau eher verborgen bleibt; bei abstrakter Malerei ist ja auch nicht ohne weiteres zu erkennen, ob die Künstler:innen zeichnen und malen können. Zum anderen lassen sie noch etwas von seinen Suchbewegungen für die Theoriekonstruktion erkennen, auch wenn tragende Begrifflichkeiten bereits vorhanden sind und auf einer Liste mit Merksätzen an die Studierenden verteilt werden. Und schließlich bemüht er sich weit intensiver um die Nachvollziehbarkeit seiner Argumente und Reflexionen als in den späteren Schriften, die es in hohem Maße Problem der Leser:innen sein lassen, ob sie etwas und was sie verstehen. Dabei schlägt nicht nur der Unterschied durch zwischen der mündlichen Kommunikation mit Anwesenden, also der Vorlesungssituation, und der schriftlichen mit abwesenden unbekannten Publika. Es könnte in diesen akademischen Anfangsjahren vielleicht auch etwas mit der Rolle des Außenseiters zu tun haben. Er fühlt sich darin nicht unwohl, aber er weiß auch, dass Anerkennung erst erworben werden muss.

Das Rezept für sein Konzept

Beispielhaft für Luhmanns Bemühungen um Anschlussfähigkeit kann die Münsteraner Vorlesung „Hauptprobleme politischer Theorie“ des Sommersemesters 1969 herangezogen werden, wo „über Absicht und Charakter“ angekündigt wird, „ich möchte versuchen, einige zentrale Themen der politischen Alltagsdiskussion herauszugreifen, um Ihnen zu zeigen, wie man als Soziologe darüber sprechen kann.“ (S. 419) Er erzählt punktuell von eigenen, „noch nicht überwundenen Schwierigkeiten“ und räumt dabei ein, „mir fehlt bislang die mich selbst überzeugende weiterführende Idee“ (S. 457) Den Studierenden bietet er umfangreiche Möglichkeiten an, kritisch nachzufragen und „gewisse Schwächen meines Ansatzes“ anzusprechen. Als Diskussionshilfe habe er sich zudem vorgenommen, „etwas überpointiert und provokativ zu formulieren“.

Nachdem er bisherige Antworten auf die Frage, was wir überhaupt unter Politik verstehen wollen und verstehen können, vorgestellt und als partielle Blicke, die sich absolut setzen, kritisiert hat, empfiehlt er ein Vorgehen, das mir exemplarisch, sozusagen das Rezept für sein Konzept, zu sein scheint. „Wie kommen wir in solch einer Lage weiter? Meiner Einschätzung nach durch ein Unterlaufen der bisherigen Grundbegriffe, durch ein Problematisieren von Selbstverständlichkeiten, durch eine abstraktere und vermutlich sehr viel kompliziertere Begrifflichkeit.“ (S. 423) Heutige Zeitgenoss:innen, die von dem kakophonen Zusammenspiel zwischen gockelnder Politik und dauerkrähendem Journalismus genug haben, könnten es mit dem Nachlesen dieser Vorlesung versuchen, um zu Themen wie Demokratie, öffentliche Meinung, Rechtsstaat, Opposition, Macht, Legitimität die nötige Distanz und ein abgeklärt-aufgeklärtes Verständnis zu gewinnen.

Inhaltlich gliedern die Herausgeber (Johannes F. K. Schmidt, Christoph Gesigora, André Kieserling, alle beteiligt an dem Akademieprojekt „Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses“ an der Universität Bielefeld) das Buch in acht Themenfelder, darunter die umfangreichsten „Rechtssoziologie“, „Politische Soziologie“ und „Theorie sozialer Systeme“ mit jeweils rund hundert Seiten. Unterlegt ist der Gliederung das Grundgerüst der Ausdifferenzierung des Sozialen in Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssysteme. Im Umgang mit dem Buch entsteht und verstärkt sich der Eindruck, dass die Herausgeber sehr viel und sehr gute Arbeit geleistet haben.

Screenshot: Website Universität Bielefeld

Um Luhmanns gesellschaftstheoretischen Zugriff – der wie jede wissenschaftliche Arbeit eine lange Reihe von Vor- und Mitdenker:innen hat – zu veranschaulichen, greife ich zwei Beispiele heraus, eines, bei dem der Alltagsverstand die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, und eines, das sich in der Praxis vergleichsweise anschaulich wiederfindet. Das erste. Kollektives Kopfnicken erntet, wer feststellt, dass eine Gesellschaft, egal welche, aus Menschen besteht. Demgegenüber formuliert Luhmann: „„Der entscheidende Bruch der neueren soziologischen Systemtheorie mit der alteuropäischen Tradition liegt darin, dass der Begriff des sozialen Systems, und mithin auch der Begriff der Gesellschaft, den Menschen nicht einschließt, sondern ausschließt.“ (S. 140)

Organismus, Bewusstsein, soziale Existenz

Hier wird der gute Wille, ihm zu folgen, arg strapaziert. Aber weshalb unterscheiden wir ganz selbstverständlich zum Beispiel zwischen medizinischer Versorgung, psychologischer Behandlung und Sozialarbeit bzw. Sozialhilfe? Macht es am Ende doch Sinn zu zerlegen, was zusammengehört, mithin Menschen in ihren biologischen Organismus, ihr Bewusstsein und ihre soziale Existenz auseinander zu dividieren? Wenn man zugrundelegt, dass Nichts ohne seine Umwelt existiert und Umwelten nur zusammen mit Etwas vorkommen, dessen Drumherum sie bilden, tut man sich leichter einzusehen: Werden Menschen als gesellschaftliche Umwelt verstanden, bilden erstens die Grenzen der Gesellschaft zugleich Grenzen zwischen dem gesellschaftlich Möglichen und dem Menschenmöglichen. Zweitens thematisiert immer auch die Menschen, wer über Gesellschaft, und immer auch die Gesellschaft, wer über Menschen redet. Aber jetzt auf eine Weise, welche sowohl Chancen eröffnet, Sozialität in ihrer Eigenlogik (als Zusammenhang von Kommunikationen) besser zu begreifen, als auch verbietet, kurzschlüssige Kausalitäten anzuführen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und psychosozialen bzw. psychsomatischen Zuständen.

Besonders anschaulich hat es Peter Fuchs ausgedrückt (in: Das seltsame Problem der Weltgesellschaft. Westdeutscher Verlag 1997, S. 26): Würde die Gesellschaft aus Menschen bestehen, hätte sie „Magengeschwüre, trüge Brillen, ginge auf die Toilette, wäre Steh- oder Sitzpinkler, sie könnte sich betrinken und wäre dann nicht mehr nüchtern, sie müsste ihre Sexualität ausleben oder Askese betreiben, sie wäre fromm, und sie hätte sogar, wie Luhmann mitunter formuliert, ein Gewicht, von dem etwas abzuziehen wäre, wenn jemand sich die Fußnägel schneidet oder die Brigitte-Diät macht, von der meine Frau sagt, ich hätte sie nötig.“

Das zweite Beispiel. Alles zielt darauf, die Gegenwartsgesellschaft besser zu verstehen, „die wirklichen sozialen Zusammenhänge“ zu begreifen. Wie an einem Ball das Runde so wird an der modernen Gesellschaft ihre funktionale Differenzierung als Hauptmerkmal identifiziert. „Indirekt transformiert die funktionale Differenzierung die gesamte Gesellschaft, sie ändert wohl die gesamten Lebensumstände.“ (S. 163) Gemeint sind die Verselbständigung und die vielfältigen wechselseitigen Abhängigkeiten der großen gesellschaftlichen Leistungsfelder wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht, Öffentlichkeit, Erziehung, Gesundheit etc. Wenige Theoriebausteine treten in den Routinen des Alltagshandelns so offenkundig hervor wie die funktionale Differenzierung. Regierungskabinette spiegeln sie in ihrer Ressortstruktur von der Wirtschafts- bis zur Familienpolitik. Medienredaktionen greifen sie auf vom Politik- bis zum Sportteil. Wissenschaftliche Fachrichtungen orientieren sich daran von der Religion über die Kunst bis zu Jura. An Organisationen lässt sie sich ablesen, denn ob es Wirtschaftsunternehmen oder Sportvereine sind, sie müssen politische und juristische, öffentliche, familiäre und gesundheitliche Belange irgendwie mit berücksichtigen oder werden zumindest damit konfrontiert, dass sie es zu wenig tun.

Sicherheit, zivilisierte Formel für Angst

Als „Folgeprobleme“ funktionaler Differenzierung werden in den frühen Vorlesungen Schlüsselbegriffe vorgestellt, an denen sich später renommierte Soziologen abarbeiten – durchaus mit Erkenntnisgewinnen, aber auch mit dem Gestus, Neuigkeiten zu bieten –, etwa Risiko (Ulrich Beck), reflexive Modernisierung (Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash), Kontrolle (Gilles Deleuze), Beschleunigung (Hartmut Rosa), Landnahme (Klaus Dörre), Individualisierung/Singularisierung (Andreas Reckwitz), Angst (Heinz Bude). Erläutert wird zudem die „chronische Krisenhaftigkeit“ der Moderne und resümierend ein Vergleich gezogen zu vormodernen Verhältnissen. Auch einfache Gesellschaften kannten Bedrohungsgefühle und Unsicherheiten, sie kamen primär aus dem Bereich des Unerlaubten – „als Gewalttat, als Rechtsbruch, als des Teufels“. „Heute kommt die Bedrohung gerade umgekehrt aus dem Bereich des Erlaubten, Richtigen, Zweckmäßigen, Vernünftigen. […] Die moderne Gesellschaft hat ein nur ihr eigenes, neuartiges Problem: das Problem der Sicherheit vor erlaubten, zugelassenen funktionell sinnvollem Verhalten anderer. Sicherheit – das ist die neue, zivilisierte Formel für Angst.“ (S. 149)

Bei aller Tiefenschärfe, Weitsichtigkeit und Stringenz der Argumentation zeichnet Luhmann von Anfang an und eben auch in diesen frühen Vorlesungen aus, dass er Sokrates nicht vergisst. Er weiß und hat es oft genug erläutert, dass mit jedem Wissenszuwachs die Berührungspunkte mit dem Nichtwissen steigen – wie eine Insel, die sich ausdehnt, ihre Kontaktfläche mit dem Wasser vergrößert; inklusive eines geschärften Bewusstseins für das Nichtwissen, von dem man gar nichts weiß. Eine Publikation, das Gedruckte, so schließt er seine Frankfurter Vorlesung, „ist für mich weder ein Mittel der Heiligung von Gedanken noch ein Nachweis von Leistungen, sondern ein Diskussionsangebot“. Entscheidend sei, „dass man sich für eine Diskussion profiliert, dass man eine einigermaßen konsistente, durchdachte und kontaktfähige Position einnimmt, die die Partner präsent haben können als einen Gedanken, der möglicherweise auch der ihre sein könnte.“ (S. 168)


Niklas Luhmann: Soziologie unter Anwesenden. Systemtheoretische Vorlesungen 1966-1970.
Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt, Christoph Gesigora und André Kieserling
Suhrkamp Verlag 2024 | 30,00 € | 660 S. | 978-3518300183

Unter dem Titel „Sicherheit, die zivilisierte Formel für Angst
erschien die Rezension auch auf Glanz&Elend.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke