Was ist ein harmloser Flirt, was schon belästigend oder gar sexuell übergriffig? Wie kann ein Mann einer Frau signalisieren, dass sie ihm gefällt, ohne dass sein Verhalten gleich als “toxisch” angesehen wird? Die enorme Resonanz auf den Hashtag #MeToo hat viele Männer verunsichert, doch hinter dieser von Feministinnen ausgehenden Initiative steckt ein berechtigtes geschlechterpolitisches Anliegen. Denn viel zu lange wurden sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch bagatellisiert und verschwiegen. Die fast immer weiblichen Betroffenen brauchen enormen Mut, wenn sie sich gegen Männer in wichtigen Positionen zu Wehr setzen wollen und ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit bringen. Spiegel-Redakteurin Juliane Löffler beschäftigt das Thema seit Jahren, vor allem ihre Recherchen zu den Übergriffen des früheren Chefs der Bild-Zeitung Julian Reichelt erhielten große Aufmerksamkeit.
In ihrem Buch „Missbrauch, Macht und Gewalt“ blickt sie auf der Basis zahlreicher Interviews mit Betroffenen und Expertinnen hinter die Kulissen ihrer investigativen Arbeit. Denn nicht nur die Opfer sexueller Belästigungen, auch jene, die in den Medien darüber berichten oder sich im Internet an Aktionen beteiligen, müssen mit starkem Gegenwind rechnen. Sie werden zu Objekten hasserfüllter Shitstorms, sind mit persönlichen Bedrohungen und männlichen Gewaltfantasien konfrontiert. Aus diesem Grund reduzierte zum Beispiel die Berliner Bloggerin Anne Wizorek, die bereits 2013 den Hashtag “#aufschrei” gegen sexualisierte Gewalt in Deutschland gestartet hatte, zeitweilig ihre Präsenz im Netz.
Juliane Löffler beschreibt, wie MeToo mit dem Beginn der Kampagne 2017 zu einem globalen Massenprotest wurde, der den gesellschaftlichen Diskurs veränderte und für das Thema sensibilisierte. Die Autorin erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, dass der Deutsche Bundestag erst 1997 einem längst überfälligen Gesetz zugestimmt hat, das die Vergewaltigung in der Ehe für strafbar erklärte – damals gegen den Widerstand vieler konservativer Abgeordneter ganz überwiegend männlichen Geschlechts.
“Die Erfahrungsberichte hinter MeToo, teils komprimiert auf wenige persönliche Sätze auf Twitter, waren einfach zu verstehen”, schreibt Löffler. Was Frauenrechtlerinnen seit langem angeprangert hatten, “konnte nicht mehr übersehen werden”. Betroffene erlangten ein neues Selbstbewusstsein: “Hatte es einen legitimen Grund, dass bestimmte Erinnerungen ein mulmiges oder auch schreckliches Bauchgefühl auslösten, und war es vielleicht notwendig, tief vergrabene Erinnerungen hervorzuholen, um sie neu zu bewerten?” Die Kernthese der Autorin: Indem “Menschen die Erfahrungen anderer wahrnehmen, erkennen sie selbst erlebten Missbrauch überhaupt erst”. Im kollektiven Austausch über das erlittene Unrecht gelingt es im besten Fall, Schuld und Scham zu überwunden.
Dominoeffekt dank MeToo
Als Journalistin kennt Löffler die Strukturen ihres eigenen Arbeitsfeldes besonders gut. Akribisch hat sie die sexualisierten Machtspiele von Julian Reichelt enthüllt, der als Folge ihrer Recherchen schließlich seinen Posten als Chefredakteur von Deutschlands größtem Boulevardblatt räumen musste. Auch in anderen großen Medienhäusern war MeToo nun plötzlich ein viel diskutiertes Thema.
Beim Westdeutschen Rundfunk in Köln zum Beispiel wurde öffentlich, was zuvor nur Insidern bekannt und tunlichst unter den Teppich gekehrt worden war: Der Leiter der Abteilung Fernsehspiel hatte sich bei Treffen mit freien Filmemacherinnen, die auf seine Auftragsvergabe angewiesen waren, mehrfach übergriffig verhalten – ein klassischer Fall von Machtmissbrauch einer Führungskraft gegenüber von ihm abhängigen (weiblichen) Beschäftigten. Die WDR-Verwaltung reagierte und beauftragte 2018 die frühere Gewerkschaftsvorsitzende Monika Wulf-Mathies mit einer Untersuchung. Der Personalrat lud zu internen Veranstaltungen ein, ein Verhaltenskodex wurde definiert, um auf künftige Vorfälle dieser Art besser vorbereitet zu sein.
Ohne MeToo wären die Berichte der im Sender Betroffenen vermutlich nie an die Öffentlichkeit gelangt. Auch schon vor der Kampagne haben Frauen über sexualisierte Gewalt gesprochen oder geschrieben, resümiert Löffler, aber das System dahinter blieb “lange im Verborgenen”. Nun würden “Strukturen sichtbar, Stück für Stück, Branche für Branche”, es gebe einen Dominoeffekt. Denn Missbrauch, so die Autorin, existiere überall, “beruflich, privat und oftmals in den Graubereichen dazwischen”. Es gebe ihn “im Untersuchungszimmer beim Arzt, in Chefetagen viele Stockwerke über der Stadt, im Niedriglohnsektor, in Universitäten, in der Medienbranche, im Musik-, Tanz-, Literatur- und Modebetrieb, im Film und am Theater, im Sport, in der Gastronomie, bei den Pfadfindern, in der Kirche, auf Campingplätzen, in der Pflege, in Kitas, bei der Polizei, in Anwaltsbüros, zu Hause”.
MeToo sei mehr als ein Kampagnen-Schlagwort, es handele sich um eine Ermutigungsbewegung mit der Kernbotschaft: “Ich höre, was du erzählst. Ich erkenne mich darin wieder. Auch mir ist so etwas widerfahren.” Löffler plädiert dafür, den Begriff sehr weit zu fassen: “Auch wenn Männer ihre Frauen krankenhausreif prügeln, ist das MeToo. Auch Stalking ist MeToo oder wenn ein Mob sich im Internet organisiert, um Frauen des öffentlichen Lebens mundtot zu machen.”
Juliane Löffler: Missbrauch, Macht und Gewalt. Was #MeToo in Deutschland verändert hat. DVA, München 2024. 272 Seiten, 23 Euro.
Unter dem Titel „Das Ende des Schweigens“ erschien die Rezension auch in Das Parlament.