Die Brillanz des Slogans und die des beworbenen Kandidaten sind deckungsgleich. Die Merz-CDU zieht mit Wieder nach vorne in den Wahlkampf. Vorne, erschließt sich sofort, ist dort, wo die Parteien der Ampel nie hinreichen. Friedrich Merz hat an Elon Musks Diagnose des völlig zerrütteten Deutschlands eigentlich nichts auszusetzen. Nur die als Therapeut auserkorene Partei stört. Die AfD wiederum teilt Merz‘ Krisenrhetorik. Deutschland, kranker Mann Europas, die Parole der Nullerjahre, ist wieder da. Der heutige kranke Mann leidet vor allem am Phantomschmerz. Heute suchen anderthalb Millionen Arbeitsplätze nach Besetzung, während damals fünf Millionen Arbeitskräfte nach Beschäftigung suchten. Der DAX notiert nahe seines Allzeithochs, und die Inflation nahe der von der Zentralbank angepeilten Größe. Eine veritable Krise an die Wand zu malen und sich als trouble shooter zu plakatieren, ist die Wahlkampfstrategie.
Merz hat den Strukturumbruch der Industrie hin zu CO2-freien Produktionsprozessen hintertrieben. Die Schuldenbremse und die Lindner-FDP waren dabei seine Verbündeten. Dass die Autobranche, Leitbranche der deutschen Industriegesellschaft, dabei ins Straucheln gerät, nimmt er locker in Kauf. Die wird durch das E-Auto etwa 140.000 Jobs verlieren, das ist die Prognose der IG Metall, und sie stützt sich dabei auf Zahlen des Fraunhofer Instituts. Finden diese Industrie und ihre Zulieferer keine staatliche Unterstützung, wird diese Größenordnung nicht ausreichen. Jeder im Massensegment tätige Autokonzern muss etwa eine Million seines Modells verkaufen, damit die Skaleneffekte und die Profitrate für ihn stimmen. Ohne Förderprämie kommt er an diese Stückzahl gegenwärtig nicht ran. Merz sind die Arbeitsplätze der Industriearbeiter aber egal; was ihn interessiert, ist sein Skaleneffekt bei den Wählerstimmen und sein politischer Profit.
Die deutschen Konzerne bleiben auf ihren Autos auch deshalb sitzen, weil der von den Windrädern der Nordsee gespeiste Strom bis zu den schwäbischen und bayrischen Fabriken noch gar nicht fließt und der Strompreis daher kaum sinkt. Es war Seehofer, der die Erdkabel durchdrückte, und damit den Leitungsbau um Jahre verzögerte, es ist Merz, der vom Vergessen dieser Fehlplanung profitieren will. Der Murks der Vergangenheit soll die Basis für den Wahlerfolg Ende Februar legen. Das ist die negative Dialektik der CDU.
Outsourcing als Managementstrategie der letzten Dekade
Merz skandalisiert eine von der Ampelregierung zu verantwortende Deindustrialisierung. Er schiebt den Ampelpolitiker Verlagerungsprozesse in die Schuhe, die lange vor deren Zeit lagen und von den Unternehmensvorstände veranlasst waren. Die Fabriken von Audi, Opel, VW, Mercedes und BMW sind alle in der ungarischen Tiefebene entstanden und dies schon in den 90er und 2000er Jahren. Und was soll Olaf Scholz tun, wenn neuerdings sein bulgarischer Kollege mit einer Flat Tax von zehn Prozent, null Dividendensteuer und mit 1.500 Euro Bruttolöhnen um die Gunst der Autohersteller buhlt? Merz tut so, als sei die wortreich beklagte Verlagerung von einem unfähigen Kabinett nicht gestoppt worden (was einem fähigen unter seiner Führung ganz leicht gelänge), während Outsourcing die Managementstrategie der letzten Dekaden war. Um ein Beispiel zu geben: In der Siemens AG waren Anfang der 90er Jahre ein Drittel der Belegschaft im Ausland und zwei Drittel im Inland beschäftigt. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt, und die hiesigen Arbeitsplätze sind halbiert. So ist das in einem globalen Konzern.
Die Hardware einer Werkzeugmaschine, die Plastikschläuche eines Herz-Lungen-Apparats, die Kabelbäume eines Autos, die Betonsteine einer Waschmaschine, hier ein Schalter, da eine Platine – alle Produkte der Vorfertigung werden verlagert, sobald sie woanders um 10 Cent billiger zu haben sind. Das Kapital wendet über den ganzen Globus verteilte Arbeitskräfte an und kombiniert sie. In Europa, Nordamerika und zunehmend in den Schwellenländern China und Indien sucht es sich das wissenschaftlich qualifizierte Arbeitsvermögen, dem großen Rest des globalen Südens ist die alte Maloche vorbehalten. Eine Näherin in Sri Lanka hat, wenn überhaupt, eine Grundschule besucht, der hiesige IT-Spezialist kommt von einer Hochschule. Für den Monatslohn der Näherin würde er keinen Tag seine Arbeitskraft hergeben. Ist die Differenz zwischen unqualifizierter und qualifizierter Arbeit derart groß oder zahlt das Kapital dem sogenannten Wissensarbeiter nicht auch eine Prämie für Gleichgültigkeit und Wohlverhalten? Die Textilarbeiterin dagegen steckt in der hilfloseren Lage gewisser Schichten der Arbeiterklasse, die ihnen minder als andren erlaubt, den Wert ihrer Arbeitskraft zu ertrotzen, heißt es in dem Buch mit dem Titel Das Kapital.
Legitimation durch Warenreichtum
Was soll uns die Arbeiterklasse und Sri Lanka, wenn es um die deutschen Angestellten und die Bundestagswahl geht? Auf der skizzierten Arbeitsteilung beruht das Geschäftsmodell der Deutschland AG. Das wackelt gegenwärtig ein wenig, und die dafür Schuldigen werden gesucht. Die Breitseite gegen die Bürokratie, seit Jahr und Tag von CDU und FDP abgefeuert, gilt dem Lieferkettengesetz. Es steht als Synonym für den bürokratischen overkill, der den Unternehmen angeblich die Luft zum Atmen nimmt. Dabei sollte es dem Zweck dienen, der krudesten Ausbeutung und Missachtung von Bürgerrechten zu wehren. Längst haben Scholz und Habeck klein beigegeben: Das kommt weg, so Scholz, wird weggebolzt, so Habeck. Merz hat also schon einen Erfolg verzeichnet, obwohl er noch gar nicht im Amt ist. Laut Allensbach inszeniert er sich als unbequemer Reformer. Die der deutschen Gesellschaft den Puls fühlenden und den Konservativen ewig verbundenen Meinungsforscher versprechen den Wahlerfolg, denn die Erfahrungen von Friedrich Merz in der Wirtschaft und der Umstand, dass er ein eigenes Flugzeug habe, werde in weiten Teilen der Bevölkerung so gesehen, dass er ein erfolgreicher Mann sei, der jetzt auch die Probleme dieses Landes lösen könnte.
Der Bevölkerung imponiert, wer im Besitz einer Ware ist, deren Fetischcharakter den des durchschnittlich gehaltenen Konsumniveaus weit übersteigt. Merz ist der für die deutsche Angestelltengesellschaft passende Kanzler. Ein früherer (Helmut Schmidt) hat sich einmal als den ersten Angestellten der Republik bezeichnet. Nun schickt sich der immer als Musterschüler rüberkommende Merz an, der erste unter den Angestellten zu sein. Dieser Karriereschritt des Wirtschaftsfachmanns ist folgerichtig. Kein linker Verfassungspatriotismus und kein rechtes Nationalbewusstsein versorgt so verlässlich mit Legitimation wie der Zugang zum Warenreichtum. Sind die von den ökonomischen Apparaten erzeugten Bedürfnisse befriedigt, ist das neuste Smartphone erworben und die AIDA-Kreuzfahrt absolviert, kann sich die Überflussgesellschaft der Loyalität der Gesellschaftsmitglieder sicher sein. Aber wehe, es gelingt einer Regierung nicht, diese Lieferkette geschmiert zu halten.
Als vermögender Rentner abkömmlich
Der Klempner der Macht, wie Merz den Kanzler in der letzten Haushaltsdebatte nannte, kann das nicht. Das ist der claim der Merz-Kampagne. Er verspricht Steuererleichterung für Unternehmen und Spitzenverdiener, und insgeheim rechnet man sich dazu. Sind wir nicht alle gehobener Mittelstand, wie Merz sich selbst nennt? Die versprochenen 99 Milliarden weniger Steuern ähneln den 9-Euro-99-Preisen im Supermarkt, die den Konsumenten zum Impulskauf veranlassen sollen. Die konkurrierenden Parteien überbieten sich. Die Kämpfer für Schuldenbremse und seriösen Haushalt namens FDP rufen 138 Milliarden Euro auf.
Merz ist kein Berufspolitiker; seine politische Tätigkeit hat er eigentlich erst nach seiner Zeit als Anwalt und Fondsmanager begonnen. Politik war über lange Strecke seines Lebens nicht seine Einnahmequelle. Man wird nicht falsch liegen, wenn man vermutet, er habe die üppiger sprudelnde gewählt. Als vermögender Rentner ist er abkömmlich, wie Max Weber den Typus Politiker beschreibt, der für die Politik lebt und nicht von ihr (in: Politik als Beruf). Seine autoritäre Attitüde kommt gut an, seine Spitze gegen die kleinen Paschas, oder sein Kommentar während Corona, zu viele hätten sich an ein Leben ohne Arbeit gewöhnt. Er gibt dann den Zuchtmeister, den man sich gerne gefallen lässt. Dass Merz nicht versuchen soll, als Charismatiker aufzutreten, dem die Wähler folgen, weil sie an ihn glauben, wie es bei Weber heißt, wird ihm sein spin doctor verdeutlicht haben.
Für eine Sache braucht er keine Einflüsterung, er hat sie verinnerlicht. Man muss eine Hetze organisieren, wenn man kampagnenfähig sein will. Als das Wort vom kranken Mann Europas die Runde machte, Schröder/Fischer die Regierung stellten und die Republik von einer wirklichen Krise geschüttelt war, machte Merz die Gewerkschaftsvorsitzenden als die Schuldigen aus, und verkündete, man habe die Nase von ihnen voll. Solche Sätze waren in 2002 zu vernehmen. Heute sollen die Schuldigen die Flüchtlinge sein.
Unter dem Titel „Politik nach dem Beruf“ erschien der Beitrag auch bei kontext:Wochenzeitung
Bis zum 23. Februar gibt es auf Bruchstücke einen Wühltisch zur Wahl
mit Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Hoffnungen, Prognosen.
Bisher erschienen:
(1) Gute Zeichen, schlechte Zeichen: Das Tarifergebnis bei VW, der Wahlkampf und die Parteiprogramme
(2) Seltsame politische Blüten entfalten sich da
(3) America first und Germany first mögen sich
(4) Politik ist (k)ein Spiel
(5) Europa unter Druck, Deutschland ohne Kompass am Scheideweg