
Klaus Lang, der langjährige Spitzen-Funktionär der IG Metall und Arbeitsdirektor in der Holding Georgsmarienhütte GmbH, analysiert anhand der CDU-Programme und deren intellektuellen und politischen Untiefen sowie dem „kollektiven Beschweigen“ (Hermann Lübbe) in der Partei die fast zwangsläufige Entwicklung zur Verbiegung von Kanzlerkandidat Friedrich Merz vor der AfD im Januar 2025. Als Untiefen identifiziert er etwa den pauschalen Bezug auf das christliche Weltbild oder die Identifizierung von „Werten“, die beliebig und undefiniert bleiben, in Verbindung mit rechtlichen Normen, die im Gegensatz zu jenen justiziabel sind. Lang sieht in der Entwicklung der CDU allerdings weder eine Tendenz zum Rechtsradikalismus noch gar zum Faschismus, wie einige Aufgeregte vermuten. Sehr wohl handelt es sich seiner Analyse nach aber um eine konservative Radikalisierung zum „technokratischen Konservatismus“.
Dieser technokratische Konservatismus kostümiert sich, so Lang, programmatisch mit ungebrochenem Wachstumswahn und Technikoptimismus; was sich schon vor Jahren in der Großen Koalition unter Angela Merkel schleichend anbahnte, als die Neoliberalen in der CDU auf viele marktwirtschaftliche Dogmen und Schwüre verzichten mussten. Das erinnert an das Diktum des ebenso verschlagenen wie beschlagenen Bischofs, Diplomaten und Ministers Maurice de Talleyrand (1754 bis 1838), der 1814 in einem Brief an Napoleon freimütig bekannte, seiner Meinung nach sei „Verrat eine Frage des Datums“. Jüngstes Beispiel in den Worten des Berliner Tagesspiegels: „Schwarz-Rot will so viel Schulden machen wie noch nie. Während die SPD jubelt, sind viele bei CDU/CSU ernüchtert. Die Grünen fordern eine Entschuldigung des designierten Kanzlers Friedrich Merz.“
Schon in den einstigen merkelschen Großen Koalitionen stimmten die Neoliberalen in der CDU vielem zu, was einem Verrat am eigenen Programm gleichkommt: Sie votierten für die Duldung von milliardenschweren Staatshilfen in der Finanzkrise 2008/2009, bei der Euro-Rettung und bei der Intervention in Griechenland, sie billigten die Einführung des Mindestlohns, votierten für den Ausstieg aus der Energieerzeugung mit Atomkraftwerken, für die Anerkennung der Gleichberechtigung von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft, für die Anerkennung von Lebenspartnerschaften als gleichwertig jenseits der christlichen Lehre.
Einzig die „soziale Marktwirtschaft“ blieb ihr dauerhafter Bestandteil der CDU-Programmatik, wohl weil er sich schon im ersten Bundestagswahlkampf 1949 als wirksamer Slogan bewährt hatte und sich auch im Klima von Kaltem Krieg und Antikommunismus als nützlich und erfolgreich erwies. Einer seiner Erfinder, Alfred Müller-Armack, bezeichnete ihn später als eher zufällig gefundene Parole, die als provisorische Übergangs- und Verlegenheitskonstruktion zum eigentlichen Ziel gemeint war — nämlich einer freien Marktwirtschaft ohne staatliche oder soziale Fesseln. Nicht nur in Filmen überleben Halbtote und Tote manchmal etwas länger.
Helmut Kohls „Luftnummer“
Merz‘ Wortbruch vom Januar war erwartbar, denn in den Fragen von Asyl und Migration näherten sich CDU/CSU schon lange fast bis zur Unterscheidbarkeit an die Positionen der Rechten und der AfD an. Der Autor sieht darin zu Recht eine Form „geistiger Brandstiftung“ und schleichender Anpassung an den Rechtstrend in fast allen Ländern der EU; immerhin gilt Merz als Erfinder der Parole von der „deutschen Leitkultur“ als Maßstab für die Integration von Fremden.

(Konrad Adenauer Stiftung auf wikimedia commons)
Die Suche nach einer „modernen“ Volkspartei, die in der CDU unter Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf zaghaft begann, endete abrupt mit deren Abhalfterung. Kohls Projekt einer „geistig-moralischen Wende“ war von Anfang an eine „Luftnummer“, beziehungsweise eine „Marginalie“, wie selbst prominente konservative Vordenker wie Caspar von Schrenck-Notzing und Günter Rohrmoser einräumten. Die in der CDU nach 1989 forcierte Rückbesinnung auf die Nation besorgten rechte Intellektuelle – wie Götz Kubitschek, Karlheinz Weissmann, Rainer Zittelmann, Panajotis Kondylis, Eckhard Jesse, Botho Strauß, Ernst Nolte, Michael Stürmer und andere – gründlicher und wirksamer als Alfred Dregger und seine Stahlhelm-Leute auf dem rechten Flügel der CDU.
Wenn man etwas vermisst in Langs solider Programmanalyse, so ist es ein Abschnitt zum Beitrag der konservativen Printmedien von BILD bis FAZ und WELT sowie der privaten Fernsehsender an dieser Rechtsentwicklung. Sie haben zur Radikalisierung der CDU und dem Aufstieg der Migrationsfrage zum vermeintlichen Schlüsselproblem für Staat und Gesellschaft entscheidend mitgewirkt.