
Die Zeitenwende mit Russlands nicht endendem Angriffskrieg, der Trumpschen Zerstörungswut und einem deutschen Wahlergebnis, das viele Hoffnungen nicht erfüllt hat, vermag politische Ergebnisse hervorzubringen, die man für kaum oder überhaupt nicht für möglich gehalten hatte. „Was gestern unvorstellbar war, gilt heute als objektiv unabdingbar.“ (Thomas Fischer)
Der Bundestag ist voll funktionsfähig und seine gesetzgebende oder gesetzändernde Kraft hört nicht mit dem Wahltermin für einen neuen Bundestag auf, sondern erst mit dem Zusammentreten des neu gewählten Bundestages, genauso wie die Regierung bis dahin voll und danach geschäftsführend bis zur Wahl des neuen Bundeskanzlers und der Ernennung einer neuen Bundesregierung im Amt bleibt. Das jetzt Mögliche und Nötige kann deshalb ohne weitere schuldhafte Verzögerung verwirklicht werden – innenpolitisch sowie auch außen- und verteidigungspolitisch (dazu Deals, Moneymaking, hemmungslose Macht).
Zunächst zur Innenpolitik. Das Wahlergebnis ist für die Unionsparteien enttäuschend. Denn trotz vieler ungelöster Probleme, des miserablen Ansehens der zerbrochenen Ampelkoalition und der großen Unbeliebtheit des Bundeskanzlers Olaf Scholz haben sie mit 28,5 % das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht, unterboten nur von dem noch schlechteren 2021; nach dem Maßstab von Carsten Linnemann eigentlich eine Niederlage, denn, so der CDU-Generalsekretär: „Wir müssen deutlich mehr als dreißig Prozent bekommen“, damit Merz, so die gestellte Frage, ein starker Kanzler werden kann (FAS vom 16.02.2025/paywall).
Der SPD ging es nicht besser. Sie hat das schlechteste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte eingefahren, nichts zu spüren von einer Aufholjagd, an die seit Jahresbeginn wohl nur noch Olaf Scholz selbst geglaubt hat. Eine gerupfte Union (in der nur die CSU jubelt) und ein geschwächter Kanzlerkandidat haben sich angesichts des innenpolitischen Dramas und des weltpolitischen Desasters schnell mit der SPD zusammengetan (für die die „große“ Koalition auf absehbare Zeit die einzige Machtperspektive ist), um die Chancen für gemeinsames Regieren zu auszuloten. Damit waren auch die Themen für die Sondierungsgespräche geklärt: ein Neustart für Wirtschaft und Arbeit zur Zukunftssicherung Deutschlands und eine sicherheits- und verteidigungspolitische Offensive, um Deutschland und damit Europa zu stärken.
Eine Aura der Politikverdrossenheit
Im Inneren beginnt der Neustart mit einem 500 Milliarden Euro-Programm, für das ein Sondervermögen geschaffen werden soll. Er bedeutet eine Kehrtwende der Union.1 Man sollte sie als ein Zeichen politischer Vernunft werten. Der langjährigen Regierungserfahrung beider Partien ist zuzuschreiben, dass mit der Klärung der finanziellen Grundlagen begonnen wurde, um entscheidende Bedingungen für ein erfolgreiches neues Regierungshandeln zu schaffen. Voraussetzung für innenpolitischen Erfolg sind Impulse für die Wirtschaft zur Sicherung vor allem des industriellen Kerns mit seinen Arbeitsplätzen, zur technischen Innovation und zur Sanierung der maroden Infrastruktur.
Das Innovations- und Investitionsprogramm zur Wirtschaftsbelebung und Sanierung der Infrastruktur greift an zentralen Ursachen des politischen Unbehagens und der Verdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger an, die wesentlich zum Wahlerfolg der AfD beigetragen haben: Der Eindruck von Stillstand und Verfall, der sich ausdrückt in den Klagen über verspätete und ausfallende Züge, immer wieder auftretende Lücken im Nahverkehr, einstürzende Brücken, marode Straßen, den schlechten Zustand der Kitas und Schulen, die fehlenden Lehrer*innen, die Schwierigkeiten bei Arztterminen, die steigenden Mieten, nicht mehr bezahlbares Wohneigentum, zu teure Lebensmittel, zähe Gerichtsverfahren, die langen Asylverfahren, die beispielhaft deutlich gewordene misslunge Abschiebung von abgelehnten und zum Teil auch straffälligen Asylbewerbern. Das hat sich in den Augen einer Mehrheit der Menschen spätestens seit Mitte 2023 zu einer Aura des Missvergnügens und der Politikverdrossenheit verdichtet. Das waren auch Hintergründe für die sinkende Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, und die steigende Antimigrationsstimmung. Der CDU ist zweifellos anzulasten, mit ihrer verbalradikalen, vielfach mit der AfD identischen Migrationspolitik diese Stimmung angeheizt zu haben.
Mit einer Kehrtwende über den eigenen Schatten springen
Die Ampelkoalition hat es über drei Jahre hinweg nicht vermocht, die gefühlte Lebensqualität der Bürger:innen zu verbessern. Natürlich waren die Nachwirkungen der Coronakrise zu bewältigen. Aber anstatt hier offensiv eine breite Aufarbeitungsdebatte mit Bürgerbeteiligung anzubieten, z.B. mit einer Enquetekommission gesellschaftlicher Vielfalt oder ähnlichen, bewusst auffälligen und öffentlichkeitswirksamen Formaten zu starten, ist das Thema vergraben, verdrängt und verschoben worden. Und nach der Verfassungsklage der Unionsparteien und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gegen die andere Verwendung der vorhandenen Mittel hätte der Bundeskanzler, gestützt auf SPD und Grüne, schon damals die Reform der Schuldenbremse ins Zentrum stellen und, falls die FDP nicht mitzieht, daran die Koalition Scheitern lassen müssen. Dann wären die Belebung der Wirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze durch Investition und Innovation, die Erneuerung des Landes für mehr Lebensqualität das zentrale Wahlkampfthema gewesen.
Jetzt haben die gesprächsführenden Parteien daraus gelernt und genau diese Probleme in das Zentrum der Argumentation gestellt. Erklärtes Ziel muss sein, dass mit dieser neuen Phase der Politik in einer Koalition, die sich nicht Fortschrittskoalition nennen wird, aber Fortschritt bringen muss, sich auch die alltäglichen Lebensumstände für alle spürbar verbessern und damit der gesellschaftliche Nährboden für die AfD so weit wie möglich austrocknet. Die Unionsparteien und vor allem Friedrich Merz und Carsten Linnemann als Propagandisten der Schwäbischen-Hausfrau-Ideologie mit Sparsamkeit und Schuldenbremse mussten mit der Kehrtwende über ihren Schatten springen. Zu hoffen ist nur, dass die eigene Partei und die Öffentlichkeit in dieser innenpolitisch brisanten Situation den Sieg der politischen und ökonomischen Vernunft höher werten als die Abkehr von eigenen Programmpositionen. Neu wäre das in der Geschichte keiner der beteiligten Parteien.

Bürokratieabbau in der Migrationspolitik
Für die SPD sind ein Sondervermögen und die Reform der Schuldenbremse kein Problem, da sie die Verwirklichung der unter Olaf Scholz gewollten Politik bedeuten, an diesem Punkt also Friedrich Merz zum Olaf Scholz „redivivus“, einem wiederauferstandenen Scholz wird. Die SPD wird an anderer Stelle ihren Preis dafür zahlen müssen, bei der Steuerentlastung, beim Bürgergeld und vor allem in der Migrationspolitik. In der Steuerpolitik kann es dazu kommen, dass es zwar Entlastungen für alle gibt, aber die Besserverdienenden und Einkommensmillionäre, der Steuerprogression folgend, deutlich stärker profitieren und Unternehmenssteuern etwas gesenkt werden.
Beim Bürgergeld werden wohl die schon von der Ampelkoalition wieder aufgerichteten Barrieren bei der Zahlung dieser Sozialleistung verschärft werden. Die Sozialdemokraten werden darauf achten müssen, dass die intensivere Aufforderung zur Arbeit mit adäquaten Angeboten an Arbeitsplätzen und den notwendigen Maßnahmen zur Qualifikation der Betroffenen gekoppelt bleibt. Sie können darauf verweisen, dass das schlechte Wahlergebnis der Union nicht nur bei der AfD-Nähe zum Fünf-Punkte-Plan zu suchen ist, sondern auch bei der mangelnden sozialen Empathie des Programms und des Spitzenpersonals der Unionsparteien – was zur Stärkung der Partei Die Linke geführt hat.
In der Migrationspolitik gilt es in erster Linie zu sehen, dass der gewollte Wirtschaftsaufschwung erst recht die Entgrenzung des „Zustroms“ von hunderttausenden Arbeitskräften erfordert. Dies zu vollziehen, wäre ein wunderbares Exempel für den stets geforderten Bürokratieabbau. Im Umgang mit Asylbewerbern gilt es auf einen Pfad zu kommen, der in Bund-Länder-Gesprächen schon formuliert wurde und der raschen Umsetzung des gemeinsamen Europäischen Asylsystem Priorität einräumt. Anstelle von totalen „Grenzschließungen“ mit illusorischem Personalaufwand, von denen auch Friedrich Merz schon wieder ein Stück abgerückt ist, werden verlängerte und verdichtete Grenzkontrollen treten.
Das Wichtigste in der Asylpolitik ist aber, dass ein Teil der Infrastrukturmilliarden auch dafür verwendet wird, die Rahmenbedingungen für die hier lebenden Geflüchteten zu verbessern bei Wohnung und Arbeit, bei Sprache und Bildung, bei der Integration-Infrastruktur insgesamt, die z.B. auch gesundheitliche Versorgung und psychische Betreuung umfasst. Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in den Ausländerbehörden haben wir zu viel Bürokratie und zu wenig Beschäftigte. Kaum eine Kommune hat integrierte Betreuungszentren für Geflüchtete errichtet, die sich um alle Belange kümmern können. Ein Grund für die gestiegene Aversion gegen neue Asylbewerber und Flüchtlinge resultiert ja aus dem Unbehagen, dem auch Fakten und Erfahrungen zugrunde liegen, dass die Integration der vorhandenen Migranten nicht genügend gelungen ist. Für die SPD müsste diese Priorität klar sein: Vorrang für mehr Engagement und Personal für aktive Integration statt mehr Polizeieinsatz für militante Abgrenzung.
Acht Tage nach Beginn der Sondierungsgespräche liegt ein Abschlusspapier vor,
auf dessen Grundlage Union und SPD Koalitionsverhandlungen führen wollen.
Grüner Stahl und grüne Mobilität
Angesichts des großen Handlungsbedarfes ist verständlich, dass Union und SPD die parlamentarische Grundlage des Sondervermögens noch mit diesem Bundestag anstreben, weil dies die größte Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg bietet. Taktisch klug gehen Union und SPD dabei mit den Grünen und der FDP nicht um, da sie diese Parteien nicht vor der öffentlichen Bekundung dieses Programms einbezogen haben. Man kann nur hoffen, dass sich die Grünen durch die Ausfälle von Friedrich Merz und das fortgesetzte Grünen-Bashing von Markus Söder, so dumm beides ist, nicht irritieren lassen. Bei der Reform der Schuldenbremse werden die Grünen die Zustimmung an Inhalte knüpfen. Es ist verständlich, dass sie Verhandlungen wollen, die zum Ziel haben, dass erklärtermaßen Mittel aus dem 500-Milliarden-Paket auch für Dekarbonisierung, Klima- und Umweltschutz eingesetzt werden; die Bewältigung der Migration sollte noch hinzukommen.
Vor allem die SPD sollte dabei mit zur Kompromissfindung beitragen. Denn grüner Stahl und grüne Mobilität sind auch im Interesse der Arbeitnehmer:innen, die die SPD zu vertreten antritt. Gelingt dieser Dreiklang, kann die künftige Koalition trotz offenkundiger Schwierigkeiten an allen Ecken und Enden dem publizistischen Trommelfeuer und möglichen Klagen gegen eine Reform der Schuldenbremse gelassen entgegensehen.
Nach dem Zusammenbruch der Ampel-Koalition hat der jetzige Bundestag Gesetze verabschiedet, ohne dass es darüber große Debatten gab. Die nun vorliegenden Gesetzesvorhaben sind weit wichtiger und bedürfen noch mehr raschen Handelns. Natürlich unterliegt dieses Vorgehen der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Aber dieses Risiko einzugehen, ist besser, als den Dingen ihren Lauf zu lassen und damit für die Entwicklung des Landes katastrophale Folgen zu riskieren.
1 Das, was sich jetzt abspielt ist für viele ein Deja-vu. Der schwarz-roten Koalition von 2005 war 2003 der Leipziger Parteitag der CDU vorausgegangen, mit der „Kopfpauschale“ statt einer paritätischen, einkommensabhängigen Finanzierung des Gesundheitssystems (Herzog-Kommission) und der dreistufigen „Bierdeckel-Steuer“ ohne kontinuierliche Progression a la Friedrich Merz. In den Koalitionsverhandlungen wurde das von der SPD vom Tisch gefegt und trotz einer scharfen Absage der SPD an die von der CDU gewollten Mehrwertsteuererhöhung um 2%-Punkten, wurde die Mehrwertsteuer schließlich um 3%-Punkte von 16 auf 19% erhöht und ein „Zukunftsfonds“ geschaffen.