Die USA, ein Doppelstaat?

Es ist ein Satz, der tiefes Erschrecken und ein ebenso tiefes Gedenken an einen großen Lehrer auslöst. „Today, we are witnessing the birth of a new dual state.“ Aziz Huq, der Jura an der Universität von Chicago lehrt, erinnert in einem kurzen, messerscharfen Essay für die Print-Ausgabe der US-Zeitschrift The Atlantic unter dem Titel „Amercia is Watching the Rise of a Dual State“ an Ernst Fraenkel und sein fundamentales Werk zur nationalsozialistischen Herrschaft: „The Dual State“ (1940), erst 1974 als „Der Doppelstaat“ in der Europäischen Verlagsanstalt auf Deutsch erschienen. „Wir sind Zeugen der Geburt eines neuen Doppelstaats“, schreibt Huq. Lange wären die USA, wenn auch nicht immer perfekt, ein Staat der Normen und demokratischen Machtteilungen (für Fraenkel war das der „Normenstaat“) gewesen. Seit seinem Amtsantritt aber setze sich Donald Trump mit seinen „executive orders“ über fundamentale Lehren des amerikanischen Verfassungswesens hinweg: so die Macht des Kongresses für bindendes Recht und Gesetz; oder Entscheidungen von unabhängigen Gerichten. Damit habe er die Grenze überschritten vom „normativen Staat“ zum „Maßnahmenstaat“ (Fraenkels Begriff für den nationalsozialistischen Parallelstaat).
Aziz Huq erwähnt auch Versuche, Richter, Wissenschaftler und Universitätsleitungen einzuschüchtern. Vieles bleibe zwar für die Mehrheit der Bevölkerung, wie es war. Die „executive orders“ berührten ihr Leben nicht: „Most people can ignore the construction of the prerogative state simply because it does not touch their lives.“ Das aber sei die eigentliche Gefahr eines „Doppelstaates“, weil die „Maßnahmen“ Dissidenten und sonstige „Sündenböcke“ träfen. „But once the prerogative state is built, as Fraenkel’s writing and experience suggest, it can swallow anyone”: Der „Maßnahmenstaat”, wenn er sich etabliert hat, verschlingt politische Freiheit und Verfassungen mit den „checks and balances“.

Das lehrte Professor Ernst Fraenkel, der 1938 aus Deutschland geflohene und 1951 zurückgekehrte jüdische Anwalt, uns Studentinnen und Studenten im Wintersemester 1962/63 am Berliner Otto-Suhr-Institut. Die Geschichte seines Buches erzählte er damals nicht: das ursprüngliche, deutsche Manuskript schmuggelte ein französischer Diplomat in seinem Gepäck nach Paris. Fraenkel schrieb es neu und zu Ende auf Englisch im Exil an der Universität, an der heute Aziz Huq lehrt. Seine Erinnerung und sein Wiederlesen fallen beklemmend aus.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

2 Kommentare

  1. Hitler oder Berlusconi?
    Ist es nicht zu früh, um mit Verweis auf das fundamentale Werk des deutsch-amerikanischen Rechtsgelehrten Ernst Fraenkel diese Schlüsse aus Donald Trumps Politik zu ziehen: „Wir sind Zeugen der Geburt eines neuen Doppelstaats“? Also: Ist Donald Trump Nachgänger von Adolf Hitler oder (nur) von Silvio Berlusconi? Wird in den USA heute mit System und nach Plan ein Doppelstaat aufgebaut oder nur angstschürender Fernseh-Faschismus inszeniert? Die Antwort sollte doch besser noch offengehalten und im laufenden Analysegeschäft jeweils neu bewertet und nicht vorschnell festgelegt werden.

    Denn Fraenkel geht in seiner 1941 in den USA erstmals publizierten Analyse des NS-Regimes von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Normenstaat — es gibt staatliche Organe, die sich an Regeln halten — und dem Maßnahmenstaat aus. Maßnahmenstaat heißt nach Fraenkel: Im Zweifel setzt die politische Staatsspitze nach ihrem Gutdünken Straßenschläger, Mob und Beamte ein, um ihre Vorstellungen notfalls mit Gewalt und in totaler Regellosigkeit durchzusetzen. Es herrschen also diese Maßnahmen, keine Normen mehr; beispielsweise bei der Verfolgung und Vernichtung von Juden.

    Was führt der renommierte Rechtsgelehrte Huq heute nun als Belege an: Unter anderem versuche die US-Regierung Richter, Wissenschaftler und Universitätsleitungen einzuschüchtern. Daraus jedoch abzuleiten, diese US-Regierung arbeite am Bau eines Doppelstaates rührt vielleicht auch aus der überaus positiven Sicht, die Huq offensichtlich hat. Lange wären die USA – so referiert ihn die Zwischenruferin –, wenn auch nicht immer perfekt, ein Staat der Normen und demokratischen Machtteilungen gewesen. Das mag er so sehen. Zahlreiche Linke weltweit analysieren jedoch bereits seit Jahrzehnten, im Kern sei die USA eine Oligarchen-Demokratie und habe unter anderem zahlreiche völkerrechtswidrige Kriege in allen Ecken dieser Welt offiziell oder undercover geführt, um ureigene Interessen durchzusetzen; was an der Kraft des Normenstaates zweifeln lässt.

    Es wird ja niemand die Vorhalte gegen Donald Trump bestreiten. Natürlich versucht ein extremer Rechtspopulist wie Trump Richter, Wissenschaftler und Universitätsleitungen einzuschüchtern. Alles andere wäre eine Überraschung. Erstens hat er das angekündigt, zweitens tut er das bereits seit Jahren. Aber sind wir deshalb bereits „Zeugen der Geburt eines neuen Doppelstaats“?
    Denn: Viele der Dekrete sind eben Dekrete — die zwar einschüchtern, aber sonst vor allem in der Luft hängen und damit vieles sind, nur (noch) nicht Wirklichkeit. Es gibt von der Musk-Truppe veranlasste Massenentlassungen — Tausende haben dagegen Widerspruch eingelegt. Die Entscheidungen der Gerichte stehen meist aus. Und für die meisten US-Bürger sind willkürliche Massenentlassungen nicht Zeichen eines aufkommenden Doppelstaates, sondern Zeichen eines ganz normalen US-Arbeitslebens, das seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich von hire-and-fire lebt.
    Weiter: Es gab zu Beginn medienwirksame Razzien gegen Flüchtlinge, die illegal in den USA leben. Gibt es sie immer noch? Wie viele Illegale wurden bisher tatsächlich abgeschoben? Gäbe es diesbezüglich Erfolge im Sinne von Trump, Trump wäre der erste, der darüber Medienwirbel entfachen würde. Hat er das? Nein.
    Es gibt zwei große Rechtsanwaltskanzleien, die sich den Diversity-Vorgaben von Trump unterworfen haben. Aus beiden flüchten nach Berichten in US-Medien qualifizierte Rechtsanwälte in Scharen, weil sie dabei nicht mitmachen wollen.
    Alle Palästinenser werden umgesiedelt: aus dem zerbombten Gaza-Streifen in ein noch neu zu schaffendes Luxus-Resort Florida. Hat irgendjemand von diesem Plan noch einmal etwas gehört? Ich schaffe mit Putin an einem Tag Frieden in der Ukraine — was daraus geworden ist, das ist jeden Tag an den Bombardements in der Ukraine zu besichtigen. Der vor allem wegen der hohen Lebensmittelpreisen Gewählte wird jetzt diese nicht wie versprochen senken, sondern mit seiner tollen Zollpolitik deutlich erhöhen. Noch was?

    Liegt nicht dieser Schluss näher: Hier entsteht (noch längst) kein Doppelstaat, sondern da regiert ein Präsident, der sich täglich von einer Headline zur nächsten hangelt, denn im Mittelpunkt steht Trump first, das ist sein Masterplan, einen weiteren hat er nicht, einen weiteren gibt es nicht; und wie stark der Einfluss der Techno-Faschisten-Clique um Vance, Thiel und Musk auf ihn wirklich ist, auch diese Medien-Analysen leben bisher mehr von spannenden, leicht verschwörungstheoretischen Schwurbeleien, denn von belegbaren „messerscharfen“ (so Zwischenruferin Roitsch über Aziz Huq), tatsachengesättigten Analysen.
    Es bleibt offen: Hitler oder Belusconi?

    1. Ein paar zutreffende Beobachtungen führen nicht automatisch zu brauchbaren Schlussfolgerungen. Man kann den Eindruck haben, dass die Faschismusdebatte vor allem aus übertriebenen Mahnungen und, wie in diesem Fall, leichtfertigen Entwarnungen besteht.
      Wäre Hitler kein Faschist gewesen, wenn innenpolitische Anpassungen und Unterwerfungen in Deutschland sowie international Duldungen plus Appeasement-Politik den Weg der NS-Diktatur bis zu Völkermord und Kriegskatastrophe nicht frei gemacht hätten?
      Die us-amerikanische MAGA-Bewegung weist faschistische Grundmuster auf. Es sind die historischen Umstände, genauer: die Widerstände, lebendige freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche Traditionen der USA, die noch verhindern und hoffentlich auch in Zukunft davon abhalten werden, dass MAGA ihr volles Programm durchziehen kann.
      Was überhaupt nicht geht: Den massenmedialen Personalisierungs-Hype einfach mitzumachen und alles auf „Trump first“ zu reduzieren. Das ist echte Irreführung.

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