„Kolossales ethisches Scheitern“

Es gibt Wörter, die in den Kopf eindringen, sich festsetzen und unerbittlich herausfordern: das eigene Gewissen, die eigene Haltung. Die Wortverbindung „selektive Empathie“ gehört dazu. Diesen Vorwurf an uns, die Deutschen wie die westlichen Europäer, erhob die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri, die für ihre politische Literatur in Wien den Bruno Kreisky-Preis der Karl Renner Stiftung erhielt.

Auf Europas selektive Empathie setzten buddhistische Diktatoren im fernen Buthan, wenn sie mit brutalen ethnischen Säuberungen Hindus aus dem Land vertrieben; mit westlicher Gleichgültigkeit rechneten machthungrige Warlords im Sudan oder der Demokratischen Republik Kongo. Die bittere Erkenntnis für die engagierte Schriftstellerin lautet: Es gibt Kriege, ethnische Säuberungen und Völkermorde, die für unsere westlichen Gesellschaften, für Medien wie Politik „populärer“ sind als andere. Für Melandri ist diese Art des Selektierens von Empathie und Aufmerksamkeit ein Resultat der Geschichte, der Geopolitik, der hegemonialen Interessen und Gewohnheiten. Und sie untermauert ihren Vorwurf mit zwei Daten: dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, und dem 7. Oktober 2023, dem beispiellosen Massaker der Terrororganisation Hamas in Israel und der militärischen Antwort des jüdischen Staates in Gaza.
Eine „selektive Empathie“ beobachtet sie vor allem in der europäischen Linken, die sich über die Brutalität und Gewalt der israelischen Armee im Gazastreifen empörten, Israel des Genozids an den Palästinensern bezichtigten, aber kein Wort zu Kriegsverbrechen Putins in der Ukraine verlören: kein Wort zu den nach Russland verschleppten Zehntausenden von ukrainischen Kindern, zu der völligen Zerstörung Mariupols, zu den Verbrechen in Butscha. Ausgeblendet bliebe in der europäischen, insbesondere der italienischen und französischen Linken, in der immer noch alles Übel der Welt von den USA ausginge, der einstige sowjetische, heute russische Imperialismus (in ihrem jüngsten Buch „Kalte Füße“ rechnet sie mit dieser Geschichte ab).
Umgekehrt bestürzt Melandri in Berlin, wo sie sechs Monate im Jahr lebt, die Scheu der Deutschen, den Vernichtungskrieg Israels in Gaza beim Namen zu nennen: Große Solidarität mit der Ukraine und Schweigen über Gaza. Francesca Melandri findet die Erklärung für diese „selektive Empathie“ zwar in der deutschen Geschichte, sie reicht ihr aber als Begründung nicht mehr. Ein solcher doppelter Standard bedeute ein „kolossales ethisches Scheitern“. So redete sie ohne jedes pathetische Beschwören westlicher Werte oder der Unantastbarkeit der Menschenwürde am 7. Mai den Europäern ins Gewissen. Verfügbar ist ihre bemerkenswerte, auf Englisch gehaltene Rede bis heute nicht auf der Seite der Stifter. Fühlten sie sich getroffen? Eric Chapsal übersetzte sie ins Französische. Le Monde druckte sie am 29./30. Mai: Eine Mahnung an Gewissen und Haltung.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar zu Matthias Schulze-Böing Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke