Keine Angst vor Metaphysik!

Karl Heinz Haag (Foto: privat)

Als „Metaphysiker aus Frankfurt-Höchst“ apostrophierte ihn die FAZ, als „Der Eremit“ Jörg Später in seinem Band zu „Adornos Erben“. 2024 wäre der Frankfurter Philosoph Karl Heinz Haag 100 Jahre alt geworden. Es war eine Frankfurter Karriere, die Haag durchlief, mit Studium an der philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen, Aufbaustudium und Promotion bei Horkheimer an der Goethe-Universität, wo er dann auch habilitierte und als außerordentlicher Professor wirkte. Er gehörte zum engeren Kreis der kritischen Theorie, war von Horkheimer und Adorno hochgeschätzt und hinterließ als philosophischer Lehrer bei vielen seiner Schüler bleibenden Eindruck. Obwohl zeitweise als Nachfolger des 1969 überraschend verstorbenen Adorno gehandelt, verließ Haag 1971 die Universität, verzichtete auf Stellung und Beamtenansprüche und zog sich nach Frankfurt-Höchst zurück, um fortan von den bescheidenen Mieterträgen seines geerbten Elternhauses zu leben und als Privatgelehrter weiter an seinen Themen zu arbeiten. Die sich damals zunehmend zum Massenbetrieb entwickelnde Universität erschien ihm für ernsthaftes philosophisches Arbeiten nicht mehr der richtige Ort zu sein.

Eine auch nur entfernt mit den großen Köpfen der Frankfurter Schule vergleichbare öffentliche Wirkung hatte Haag nie. Nach seinem Rückzug war er zum Geheimtipp geworden. Ein paar wenige Insider hatten Kontakt zu ihm und wussten, woran er arbeitete. Gelegentlich tauchte er in Privatseminaren auf und bildete dort, wie sich Teilnehmer erinnern, mit seinen in unüberhörbar hessischem Akzent vorgetragenen, aber luziden und stets sehr scharfsinnigen und von souveräner Kenntnis der Philosophiegeschichte geprägten Einlassungen einen beeindruckenden Kontrast zum gerade in Frankfurt oft angestrengten und den Manierismen Adornos nacheifernden Duktus der akademischen Kommunikation.

Kein sentimentaler Sinnsucher

Haags großes Thema war die Unverzichtbarkeit von Transzendenz und Metaphysik nach der Aufklärung und dem Siegeszug von wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung. Es gab dabei viele Berührungspunkte mit der kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer, für die die Kritik an Positivismus und instrumenteller Vernunft ja auch ein zentrales Anliegen war. Noch stärker als diese meinte Haag zu sehen, dass es sich dabei nicht nur um eine intellektuelle Haltung handele, sondern geradezu um eine Denknotwendigkeit, der auch das nüchternste naturwissenschaftliche Denken nicht entgehen kann, wenn man denn genauer hinsieht und die Implikationen des modernen wissenschaftlichen Denkens genau nachverfolgt. Folgt man Haag, geht es ohne Metaphysik nicht, oder nur um den Preis einer instrumentell vereinseitigten Rationalität, ob in der Wissenschaft oder in der gesellschaftlichen Praxis, die auch er durchaus kritisch sah.

Philosophie ist Haag zufolge von der Antike, über die mittelalterliche Scholastik und ihre Auflösung im frühneuzeitlichen Nominalismus, den Idealismus von Kant und Hegel bis hin zur modernen Philosophie des 20. Jahrhunderts eine immer wieder neu ansetzende Arbeit an dem Problem, wie etwas, das jenseits der Erfahrung ist, dennoch Gegenstand rationaler Erkenntnis werden kann. Denkbar durchaus als „Fortschritt in der Philosophie“ mit einer inneren Entwicklungslogik, aber doch mit der Metaphysik und Gott nie wirklich fertig werdend. Positiv allerdings lasse sich Metaphysik heute nicht mehr denken. Richtig gewendet müsse sie als „negative Metaphysik“ verstanden werden. Wir können nicht wissen, was Gott qualitativ auszeichnet und wie er gewissermaßen „tickt“. Wir wissen Haag zufolge nur, dass wir die Vorstellung einer transzendenten Kraft brauchen, und zwar nicht weil unser Leben sonst den Sinn verlöre, sondern, mehr noch, weil ohne den Begriff einer solchen transzendenten Kraft eine rationale Erkenntnis unserer Welt nicht möglich ist. Haag ist also kein sentimentaler Sinnsucher, der vor den Schrecken dieser Welt ins Jenseitige flüchtet, sondern, dem eigenen Anspruch nach, durchaus harter Logiker und Fundamentalphilosoph.

Allgemeinbegriffe als Denkmittel

Zu Ehren des Denkers aus Höchst gab es im Dezember 2024 in der Goethe-Universität ein Symposium, organsiert von einer Initiative um das Institut für Sozialforschung, bemerkenswerterweise auch unter Mitwirkung des ASTA der Universität, der sich seit Jahren darum bemüht, die Texte und Denkansätze der kritischen Theorie unter aktuellen Perspektiven neu für ein studentisches Publikum zu erschließen. Peter Kern hat nun die Beiträge zu diesem Symposion in einem instruktiven Band zusammengestellt und herausgegeben.

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung (Screenshot: Website des IfS)

Günther Mensching, vor seiner Emeritierung an der Universität Hannover lehrend und Schüler Haags in Frankfurter Studienjahren, eröffnet den Band mit einer kenntnisreichen Positionsbestimmung der Philosophie seines Lehrers zwischen den Motiven der kritischen Theorie und einer bis ins Spätmittelalter ausgreifenden immanenten Aufarbeitung zentraler philosophischer Erkenntnisprobleme. Der zentrale Kipppunkt der Denkgeschichte liegt für Mensching nicht in der Aufklärung, sondern einige hundert Jahre früher im sogenannten Universalienstreit in der Theologie um die Wende vom 13. ins 14. Jahrhundert. In diesem Streit setzte sich der Nominalismus durch, die Lehre, dass Allgemeinbegriffen wie „der Mensch“ kein eigener Seinswert zukommt, sondern nur der Charakter eines Denkmittels, um die Welt für das menschliche Erkennen zu ordnen. Der Nominalismus öffnete, wie Mensching in seiner Auslegung der Arbeiten von Haag zeigt, sowohl der Reformation als auch der Denkrevolution der Aufklärung mit der Fundierung des modernen naturwissenschaftlich-technischen Weltzugriffs überhaupt erst den Weg: „Ohne nominalistische Denkweise keine Neuzeit“. Es sei der bleibende Verdienst Karl Heinz Haags, diese enge Verbindung von Moderne und Nominalismus in all seinen Konsequenzen herausgearbeitet zu haben. In der Tradition der kritischen Theorie hätte man soziale und ökonomische Faktoren bei der Begründung der Neuzeit zumindest mit einem Seitenblick gewürdigt. Mensching geht darauf nicht ein.

Wolfgang Bock betont dagegen den engen Zusammenhang von kritischer Philosophie und Gesellschaftskritik bei Haag. Haag zeige, dass die von Marx kritisierte Ausbeutung von Natur und Mensch im Kapitalismus eine Vorgeschichte habe in der „Entkernung der Natur im Mittelalter.“ Die Negation von Transzendenz habe die Sinnentleerung vorbereitet, die für Haag die zentrale Signatur der Moderne gewesen sei. Dieses Thema habe er in immer neuen Variationen aufgegriffen. Bocks These, „Haag sagt in all seinen Texten immer dasselbe“ ist vor diesem Hintergrund weniger kritisch gemeint, sondern als Hinweis auf die außerordentliche Konzentration des Denkens, die in diesen Texten zum Ausdruck kommt.

Peter Kern: Für eine neue ökologische Verantwortungsethik

Die Bezüge von Haag zur Studentenbewegung der späten 1960er Jahre betrachtet der Frankfurter Sozialforscher und Philosoph Hermann Kocyba. Hans-Jürgen Krahl, Vorsitzender und radikaler Vordenker des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS in dieser Zeit, war, wie man erfährt, ein aufmerksamer Hörer der Vorlesungen von Haag zur Philosophie Hegels. Krahl („Er war der Klügste von uns allen“ – Dutschke über Krahl) wusste bekanntlich auf einzigartige Weise politische Agitation mit subtiler philosophischer Reflexion zu verbinden. Große Wirkung in der Off-Szene studentischer Diskussionszirkel hatte seinerzeit sein Aufsatz „Zur Wesenslogik des Kapitals“, in dem er kühne Spekulationen zum Verhältnis der hegelschen Wesenslogik und des ökonomischen Kapitalbegriffs von Marx anstellte. Beide verbinde als Struktureigentümlichkeit, dass sich die Beziehung gegenüber dem, was sie aufeinander bezieht, verselbstständigt. Was Hegel in seiner Logik abstrakt als das Eigentümliche des Wesensbegriffs beschreibt, bezieht Marx Krahl zufolge konkret auf eine Produktionsweise, in der das Geld und die Kapitalvermehrung zum Selbstzweck geworden seien. In Kocybas Lesart findet sich auch in dieser Denkfigur ein Widerhall von Haags Rezeption des Universalienstreits. Lese man Marx in der Perspektive Haags, sei der Kapitalismus wenig anderes als der „prozessierende Nihilismus … eines sich die dingliche Welt restlos unterwerfenden Nominalismus“. Für Hans-Jürgen Krahl habe das Insistieren auf den Themen der Metaphysik bei Haag durchaus eminent politische Implikationen gehabt. Es sei Modell gewesen für den Einspruch „gegen eine Gegenwart, die mit den Themen der Metaphysik zugleich die Anliegen radikaler Gesellschaftskritik entsorgen möchte.“

An diesen widerständigen Charakter des Denkens von Karl Heinz Haag knüpft Herausgeber Peter Kern in seinem Beitrag an, der in einem kühnen Sprung eine Restituierung der Religion als Medium von Kritik und Widerstand in den ökologischen Katastrophen der Gegenwart ins Auge fasst. Die Religion lehre gewissermaßen den Respekt einem Anderen des menschlichen Denkens und Handelns gegenüber, der ein neues Bewusstsein für Gefährdung der Natur als Grundlage der menschlichen Existenz fördern könne. Kern verspricht sich von einer solchen Neubesinnung auf die Religion einen sinnstiftenden Impuls für orientierungslose naturwissenschaftlich-technische Eliten als Träger einer neuen ökologischen Verantwortungsethik.

Knappe Finanzen, spartanischer Lebensstil

André Möller und Nils Richber nähern sich dem Werk Haags in der Perspektive politisch engagierter Studenten. In seiner Nominalismuskritik sehen sie Anregungen auch für neue Blicke auf die eigentümliche Konstellation von neoliberaler Ökonomisierung, größenwahnsinnigen Machbarkeitsphantasien technischer Eliten und des „radikalen Nominalismus der Queer-Theorie“, der zufolge sich alle biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz in willkürlich änderbare soziale Konstrukte auflösen.

Stephan Herzberg (Hochschule St. Georgen) beleuchtet die Stellung des Denkens von Haag zur Scholastik und geht dabei nicht zuletzt auch auf die vielfältigen Beziehungen von Haag zu seinem philosophischen Lehrer in St. Georgen, Caspar Nink, ein. Der emeritierte Bonner Philosoph Theo Kobusch ergänzt dies mit instruktiven Überlegungen zum Begriff der Abstraktion, der bei Haag eine zentrale Rolle bei der Bestimmung des Begriffs des Wesens spielt, aber den Exegeten auch einiges an Klärungsbedarf hinterlassen habe.

Ein Höhepunkt des Bandes von Peter Kern ist der berührende Beitrag zur Persönlichkeit Haags von Friderun Fein, die zusammen mit ihrem Mann zu seinem engsten Freundeskreis gehörte und bis zu seinem Tod in einem Wiesbadener Altenheim engen Kontakt mit ihm pflegte. Man erfährt einiges über die knappen Finanzen von Haag, seinen spartanischen Lebensstil und seine Arbeitsweise, die konzentriert, aber sehr langsam war. Fein, als professionelle Lektorin in vieler Hinsicht eine Gesprächspartnerin auf Augenhöhe, sah seine Texte durch, beriet ihn in Publikationsfragen, aber wohl auch in lebenspraktischen Dingen. Man erfährt von philosophischen Gesprächen auf Spaziergängen im Taunus, auch davon, dass Haag als Hauseigentümer durchaus handwerklich anpackte, wenn es notwendig war. Haag lebte zwar zurückgezogen, aber er war nicht unbedingt ein Eremit, der sich abkapselte. Er suchte das Gespräch mit ausgewählten Fachkollegen. Überliefert sind auch lange Telefongespräche mit Horkheimer an dessen Wohnsitz im Tessin, die damals erhebliche Kosten verursacht haben, was angesichts der beengten finanziellen Verhältnisse schmerzhaft zu Buche geschlagen hat. Adorno meinte wohl einmal, Haag brauche eine Frau und machte ihn mit einer jüngeren Dame bekannt, die Haag aber doch nicht recht fesseln konnte, wie Fein berichtet. Die Dame verstehe leider nichts von Philosophie.

Bleibt noch zu erwähnen, dass dem Band auch rund 40 Seiten von Notizen aus Vorarbeiten zu seinem letzten Werk „Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung“ aus der auch im Band in mehreren Beiträgen zitierten „beigen Mappe“ beigegeben sind, aus dem in der Universitätsbibliothek Frankfurt verwahrten und betreuten Nachlass von Karl Heinz Haag. Hier finden sich mancher Geistesblitz, aber auch viele unverbundene Gedankenfragmente, die sich dem mit Haags Werk nicht intim vertrauten Leser nur schwer erschließen. Hier hätte etwas mehr editorische Bearbeitung und Erläuterung gut getan. Immerhin, diese Textfragmente werden erstmals überhaupt öffentlich zugänglich. Das ist zu würdigen.

Peter Kern hat sich mit seinem Band zu Haag als wichtigem Impulsgeber der kritischen Theorie überaus verdient gemacht, auch dadurch, dass er Haag nicht nur als wieder zu entdeckende bedeutende Gestalt der deutschen Nachkriegsphilosophie in Erinnerung ruft, sondern auch, weil sein Buch ihn mit manchen Beiträgen mitten in die aktuellen Debatten um die Zukunft unserer Gesellschaft holt.

Peter Kern (Hrsg.): Kritische Theorie als Metaphysik: Karl Heinz Haag. Studien und Kommentare. Frankfurt am Main 2025: Humanities Online, ISBN 978-3-941743-44-1
236 Seiten, 19,80 Euro (E-Book 14,00 Euro)

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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