Sanktionen gegen Russland – nicht wirkungslos, aber nicht konsequent genug


Screenshot: Youtube

„Zugegeben, die Sanktionen könnten konsequenter sein und effektiver durchgesetzt werden. Russland versucht nicht ohne Erfolg, das Sanktionsregime zu umgehen. China spielt dabei eine herausgehobene Rolle“, sagt Osteuropa-Experte Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. Wahrscheinlich verbleibe auch ein Teil der europäischen Exporte nach Zentralasien im Transitland Russland oder werde dorthin re-exportiert. Einzelne EU-Mitgliedsstaaten hätten außerdem die Sanktionierung einzelner Güter durch Brüssel mehrfach verhindert. Einen „Etappensieg“ für den russischen Präsidenten nennt Wittkowsky den sogenannten Alaska-Gipfel mit Trump und die anschließende Reise nach China mit den sorgsam inszenierten Bildern von Xi, Putin und Kim.

Wolfgang Storz: Aus westlichen Medien ist seit Monaten zu erfahren: Russland und die Ukraine befinden sich in einem Abnutzungskrieg, den auf Dauer die Ukraine verliert, da sie weniger Geld, Waffen und Menschen hat. Ist diese Beschreibung korrekt? Falsch? Unvollständig?

Andreas Wittkowsky: Tatsächlich handelt es sich bereits seit längerem um einen solchen Abnutzungskrieg, bei dem beide Seiten auf die Zerstörung der gegnerischen Infrastruktur, ihrer militärischen Einrichtungen, Rüstungsunternehmen und Nachschubwege zielen. Die russische Propaganda möchte uns glauben machen, dass die Ukraine in diesem Krieg keine Chance hat. Doch das ist alles andere als abgemacht.
Auch Russland stößt zunehmend an personelle, materielle und finanzielle Grenzen. Die Lager alter sowjetischer Waffentechnik sind bald aufgebraucht. Die Wirtschaft wird zwar auf Kriegsproduktion ausgerichtet, doch dies belastet zunehmend die Zivilwirtschaft, die stagniert. Die Industrie leidet zudem unter den Sanktionen und einem wachsenden Fachkräftemangel, teils aufgrund der Mobilisierung, teils aufgrund der Abwanderung von Fachkräften ins Ausland. Hinzu kommt: Russlands Mobilisierungsmodell beruht im Wesentlichen darauf, durch gute Bezahlung freiwillige Vertragssoldaten zu gewinnen. Die hohen Prämien haben die Staatsfinanzen so stark belastet, dass das Modell nicht nachhaltig ist.

„Menschliche Safari“

Können Sie diesen Abnutzungskrieg konkreter beschreiben?

Andreas Wittkowsky: Die russischen Truppen rücken in der Ostukraine langsam vor und nehmen dabei hohe Verluste in Kauf. An vielen Stellen versuchen sie, mit kleinen Einheiten hinter die ukrainischen Linien zu gelangen und damit einen größeren Durchbruch vorzubereiten. Auch wenn dies für die Ukraine mancherorts bedrohlich ist, aktuell bei den Städten Pokrowsk und Kostjantyniwka, konnte ein größerer Durchbruch bisher verhindert werden. Die erwartete russische Sommeroffensive blieb aus. In Frontnähe ist durch den vielfältigen Einsatz von Drohnen ein „gläsernes“ Gefechtsfeld entstanden, in dem fast jede menschliche Bewegung registriert und bekämpft wird.

Die Ukraine greift verstärkt Eisenbahnknotenpunkte an, über die der russische Nachschub kommt. Begrenzt konnte sie verloren gegangenes Territorium zurückerobern. Allerdings fehlen die Kräfte, eine groß angelegte Gegenoffensive zu führen. Russland setzt weiterhin auf Terrorangriffe und auf die Zerstörung von Kraftwerken, um die Zivilbevölkerung zu zermürben – vor allem jetzt zu Beginn der kalten Jahreszeit. Die immer intensiveren Angriffswellen der zunächst aus Iran importierten „Shahed“-Drohnen, die unter dem Namen „Geran“ in Russland weiterentwickelt und in Massenproduktion gefertigt werden, können die Flugabwehr in den ukrainischen Großstädten immer öfter überwinden. Besonders hinterhältig ist die tägliche russische Jagd mit Drohnen auf die Einwohner der 2022 wieder befreiten Gebietshauptstadt Cherson – zynisch als „menschliche Safari“ bezeichnet.

Blick auf die Antoniwkabrücke mit der Stadt Cherson im Hintergrund
(Foto, 2006: Uaquantum in der russischen Wikipedia auf wikimedia)

US-Präsident Donald Trump bescheinigte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Februar 2025, er hätte „no cards“. Hat er tatsächlich nichts in der Hinterhand?

Andreas Wittkowsky: Schaut man auf die Bevölkerungszahlen und Ressourcen der Länder, ist die Ukraine tatsächlich im Nachteil. Doch dadurch, dass sie sich auf die hinhaltende Verteidigung konzentriert, hat sie im Vergleich weniger Opfer zu beklagen als Russland. Zwei weitere Faktoren werden oft übersehen: Moral und Innovationsfähigkeit. Und hier ist die Ukraine im Vorteil.

Auch wenn es keine Garantie gibt, dass die Ukraine das Blatt zu ihren Gunsten wenden kann, besteht doch eine realistische Chance. Die konsequente internationale Unterstützung, kombiniert mit Sanktionen gegen Russland, kann das ungleiche Kräfteverhältnis teilweise wettmachen. Zeit ist dabei ein äußerst kritischer Faktor. Es gilt zu vermeiden, dass sich der Waffengang hinzieht, bis Russland seine Kriegswirtschaft ausgebaut und die Arsenale wieder aufgestockt hat. Genau deshalb zielt die russische Propaganda darauf, die Unterstützungsbereitschaft des Westens zu unterminieren: durch direkte Drohungen, die Diskreditierung der Ukraine, aber auch durch die Unterstützung von politischen „Influencern“ in unserer Öffentlichkeit.

Von welchen Innovationen der Ukraine reden wir?

Andreas Wittkowsky: Vor allem in der Drohnen-Technologie hat die Ukraine mehrfach überrascht – auch wenn die Russen teilweise aufgeholt haben. Besonders spektakulär war der Coup, bei dem Anfang Juni 2025 Drohnenschwärme aus Lastwagen aufstiegen und Flugzeuge der strategischen Bomberflotte auf vier Luftwaffenstützpunkten tief im russischen Hinterland zerstörten. Seit Wochen greifen ukrainische Langstreckendrohnen in großem Umfang Raffinerien an und treffen damit die wichtigste Quelle von Exporterlösen. Deren Reparatur ist so schnell nicht zu bewältigen, denn sie erfordert westliche Komponenten, die aufgrund der Sanktionen nicht verfügbar sind. In vielen Teilen Russlands herrscht aktuell Benzinmangel. Auch die russischen Schwarzmeerhäfen sind immer wieder Angriffen durch neu entwickelte Seedrohnen ausgesetzt. Dänemark hat inzwischen angekündigt, seine Soldaten von der Ukraine im Drohnenkampf trainieren zu lassen.
An der Front setzt die Ukraine auch unbemannte Fahrzeuge ein, teilweise bewaffnet. Und im August hat sie mit dem „Flamingo“ den ersten selbst entwickelten Marschflugkörper vorgestellt.

Trumps kontraproduktive Initiative

Was ist Ihre bisherige Bilanz der Ukraine-Politik von Donald Trump? Er wollte ursprünglich in 24 Stunden Frieden schaffen. Was ist ihm gelungen?

Andreas Wittkowsky: Trump hat direkt nach seinem Amtsantritt die diplomatische Initiative ergriffen. Doch sie war in zweifacher Hinsicht kontraproduktiv – für die Ukraine und für den gesamten Westen. Um Putin für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu gewinnen, gab Trump von vornherein wichtige Verhandlungspositionen auf: Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sei ausgeschlossen, sie müsse auch Gebietsverluste akzeptieren. Außerdem versuchte er, Putin mit Angeboten neuer gemeinsamer wirtschaftlicher Projekte zu ködern. Die Sicherheit der Ukraine sei dagegen Aufgabe der Europäer. Damit signalisierte Trump bereits frühzeitig, dass die USA zum sicherheitspolitischen Wackelkandidaten geworden sind. Das wurde von Russland, China und anderen Staaten aufmerksam registriert.

Der Ukraine gegenüber fuhr Trump einen unberechenbaren Zickzackkurs. Zunächst kanzelte er Selenskyj mehrfach ab. Dieser – und Ex-US-Präsident Joe Biden – hätten einen Krieg angefangen, den sie nicht gewinnen könnten. Das Pentagon unter Pete Hegseth stoppte kurzzeitig die Waffenlieferungen. Sanktionen gegen Russland wurden wiederholt angekündigt – aber nie umgesetzt. Nach erheblichen diplomatischen Bemühungen der übrigen Ukraine-Unterstützer sind die USA zwar zu weiteren Lieferungen bereit, aber nur wenn vor allem die Europäer sie finanzieren.

Warum war dies kontraproduktiv? War es nicht richtig, die Chancen für einen Friedensschluss auszuloten?

Andreas Wittkowsky: Grundsätzlich schon, doch die permanenten Positionswechsel unterminieren Trumps Glaubwürdigkeit und binden erhebliche diplomatische Ressourcen der Ukraine-Unterstützer. Um den US-Präsidenten bei der Stange zu halten, müssen sie sich bis zur Schmerzgrenze verbiegen. Viele fragen sich, ob europäische Politikerinnen und Politiker diese Politik weiter betreiben sollen. Ich sage ja, weil es sonst noch schwieriger wäre, die Ukraine zu unterstützen und die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Bis auf weiteres sind wir auf die USA in vielfacher Hinsicht angewiesen.

Putin, alles andere als isoliert?

Was hat denn der Alaska-Gipfel am 15. August letztlich gebracht?

Andreas Wittkowsky: Er war besonders kontraproduktiv. Trump ließ einem sichtlich erfreuten Putin den roten Teppich ausrollen und beendete damit dessen Isolation durch die USA. Von seinem Chefunterhändler, dem Immobilienmogul Steve Witkoff, hatte er vorher das Signal bekommen, dass Putin für ernsthafte Verhandlungen bereit sei. Eine Fehlinformation, wie sich herausstellte. Entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten hatte Witkoff seine Treffen im Kreml alleine bestritten, ohne eigene Übersetzerin, und die Dinge danach falsch interpretiert.

Während Selenskyj wiederholt seine Bereitschaft für einen sofortigen Waffenstillstand erklärte, lehnte Putin diesen ab. Außerdem hielt er an seinen Maximalpositionen fest und forderte die kampflose Übergabe der am stärksten befestigten ostukrainischen Gebiete. Die hat Russland zwar 2022 annektiert, aber bisher nicht erobert. Trumps Hoffnung, mit einem „Deal“ vor die Presse zu treten, wurde enttäuscht. Entsprechend kurz fiel das Treffen in Alaska aus, das gemeinsame Abendessen der Delegationen wurde gestrichen.
Was es noch schlimmer machte: Im Vorfeld des Gipfels hatten die Europäer sich intensiv mit Trump abgestimmt, dass weitere gemeinsame Sanktionen verhängt werden würden, wenn Russland zu keinem Waffenstillstand bereit sei. Nach dem ergebnislosen Treffen räumte Trump diese Position kurzerhand und verkündete, dies sei keine zwingende Voraussetzung für weitere Verhandlungen. Dies alles hat Putin in seiner Annahme bestärkt, von den USA sei kein besonderer Druck zu erwarten.

Mit seiner anschließenden Reise nach Peking scheint Wladimir Putin mehr denn je international anerkannt und alles andere als isoliert. Ist das nicht eine große Niederlage des sogenannten Westens und der EU?

Andreas Wittkowsky: Zumindest ein wichtiger Etappensieg Putins. Bei Xi war er allerdings noch nie „non grata“ – im Gegenteil. China war und bleibt der wichtigste Unterstützer des russischen Angriffskriegs, nicht zuletzt durch seine umfangreichen Lieferungen von kriegswichtigen Gütern, die westlichen Sanktionen unterliegen. Auch Nordkorea schickt weiter Waffen, Munition und Soldaten. Die sorgsam inszenierten Bilder von Xi, Putin und Kim sind natürlich eine Demonstration eines wachsenden anti-westlichen Selbstbewusstseins der Autokraten. Und Trumps Zollandrohungen veranlassten auch den indischen Premierminister Narendra Modi zu demonstrativen Freundschaftsgesten.

„Mit einer gigantischen Parade gedenkt China des Endes des Zweiten Weltkriegs. Putin und Kim stehen demonstrativ an der Seite von Xi“, berichtet des Handelsblatt Anfang September 2025.
(Foto: Präsident von Russland auf wikimedia commons)

Gehört nicht auch die Sanktionspolitik zu diesen Niederlagen – ist sie nicht faktisch gescheitert?

Andreas Wittkowsky: Zugegeben, die Sanktionen könnten konsequenter sein und effektiver durchgesetzt werden. Russland versucht nicht ohne Erfolg, das Sanktionsregime zu umgehen. China spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Wahrscheinlich verbleibt auch ein Teil der europäischen Exporte nach Zentralasien im Transitland Russland oder wird dorthin re-exportiert. Einzelne EU-Mitgliedsstaaten haben außerdem die Sanktionierung einzelner Güter durch Brüssel mehrfach verhindert.
Doch wirkungslos sind die Sanktionen deshalb nicht. Es hat schon Gründe, warum Russland ein ums andere Mal fordert, sie müssten beendet werden, denn sie treffen Wirtschaft und Staatshaushalt empfindlich. Die Exporterlöse für Erdöl und Erdgas sind zurückgegangen, der Import von Hochtechnologie für den russischen Maschinenbau und die zivile Luftfahrt ist deutlich schwieriger geworden.

„He has let me down“

Ist Donald Trump in dieser Hinsicht nicht trotzdem ein „Guter“? Nun will er endgültig harte Sanktionen gegen Putin-Russland verhängen. Vorausgesetzt: Die Europäer stellen endlich ihre Gasimporte aus Russland ein. Was will man mehr?

Andreas Wittkowsky: Es ist, wie gesagt. nicht das erste Mal, dass Trump Sanktionen androht und dann zurückrudert. Bisher hat dies vor allem die Glaubwürdigkeit der USA stark beeinträchtigt – und das mühevolle Geschäft der Europäer erschwert.
Im Kreml hat sich erkennbar die Lesart durchgesetzt, Trump sei ein schwacher US-Präsident, von dem nichts zu befürchten ist. Kurz nach dem Gipfel nahm Russland die intensiven Luftangriffe gegen ukrainische Städte wieder auf. Die Bereitschaft, mit der Ukraine im Zweier- oder Dreierformat zu sprechen, hat sich dagegen in Luft aufgelöst.
Offenbar kann auch Trump dies nicht länger ignorieren. Mehrmals beklagte er sich, Putin habe ihn im Stich gelassen: „He has let me down“. Daraufhin hat er auch der Ukraine bescheinigt, sie könne alle ihre Gebiete zurückgewinnen – mit Unterstützung der Europäer und der NATO. Allerdings klang sein abschließendes „Good luck to all!“ eher so, als wolle er sich aus seinem erfolglosen Unterfangen der Friedensvermittlung zurückziehen und das Problem den Europäern überlassen.

Aber was ist dran an Vorwürfen gegen die Europäer, sie würden durch ihre Gasimporte Milliarden-Einnahmen für Putins Kriegsmaschine generieren?

Andreas Wittkowsky: Der US-Präsident hat einen Punkt, wenn er auf die Inkonsequenzen der Europäer verweist, die weiterhin russische Energieträger beziehen. Sein Junktim trifft aber in erster Linie die Ukraine. Machten Lieferungen aus Russland 2021, also vor dem Großangriff auf die Ukraine, etwa 50 Prozent der EU-Importe aus, lag ihr Anteil 2024 bei immerhin noch 19 Prozent. Der Rückgang ist vornehmlich auf die russische Politik zurückzuführen, die Gaslieferungen einzustellen. So sollte die Entscheidung Moskaus, kein weiteres Gas durch die Nordstream-Pipelines zu liefern, Deutschland unter Druck setzen. Im selben Zeitraum stiegen allerdings die Importe von schiffbarem Flüssiggas (LNG) um rund 60 Prozent. Denn im Gegensatz zu Kohle und Öl ist der Import von Gas bisher kaum sanktioniert.

Die Europäische Kommission will die Gasimporte bis Ende 2026 beenden, stößt dabei aber auf starken Widerstand, unter anderem Ungarns und der Slowakei, die ihre politisch und finanziell vorteilhaften Importbeziehungen mit Russland aufrecht erhalten wollen, statt auf alternative Lieferanten zu setzen.

Die Kritiker der Ukraine-Politik des Westens, beispielsweise Michael Kretschmer oder Sahra Wagenknecht, sagen unverändert: Es werde zu wenig Gewicht auf Diplomatie und zu viel Gewicht auf das Militärische gelegt. Es gebe also unausgeschöpfte Spielräume des Diplomatischen. Sehen Sie diese Spielräume auch?

Andreas Wittkowsky: Nein. Wenn uns Trumps Diplomatie eines gezeigt hat, dann dass es diese gegenwärtig nicht gibt. Putin glaubt sich auf dem Weg zum militärischen Sieg und ist nicht bereit, von seinen Maximalforderungen abzulassen. Diese beschränken sich nicht auf Gebiete in der Ostukraine. Er möchte die Existenz eines unabhängigen ukrainischen Staates zerstören und beharrt deshalb darauf, sie müsse demilitarisiert und „entnazifiziert“ werden.

Man fragt sich deshalb, was hinter dieser Kritik steckt: naives sicherheitspolitisches Denken, Furcht vor Putin, verdeckte Lobbyinteressen oder schlicht antidemokratische Interessensvertretung für einen autokratischen Herrscher. Die Kremlaffinität Wagenknechts ist belegt. Aber es ist besorgniserregend, dass sich diese Positionen nicht nur an den politischen Rändern, sondern auch bei Politikern der Koalitionsparteien halten.

Mehr als Trump können die Europäer im diplomatischen Gepäck nicht mitbringen. Kretschmer und anderen schwebt offenbar vor, man könne Russland durch die Wiederaufnahme der Gaslieferungen locken. Das ist kaum erfolgversprechender als die von Trump angestrebten Rohstoffprojekte mit Russland, würde aber Deutschland erneut in die Abhängigkeit von Russland treiben.

Die Kritiker argumentieren zudem, Putin-Russland habe sich in den letzten Jahrzehnten vor allem wegen der drohenden NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bedroht gefühlt — und vor allem deshalb den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen. Noch einmal: Was ist an dieser Erzählung richtig?

Andreas Wittkowsky: In der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte hat Russland die NATO-Osterweiterung grundsätzlich akzeptiert und im Gegenzug Zugeständnisse hinsichtlich der Stationierung von Truppen und Waffen in den neuen Mitgliedsländern erhalten. Putin hat auch zugestanden, dass ein Beitritt der Ukraine ihre souveräne Entscheidung sei. Die Osterweiterung fand im Übrigen statt, weil die Neumitglieder aufgrund ihrer historischen Erfahrung mit dem russischen Imperialismus (auch in seiner sowjetischen Ausprägung) intensiv darauf drängten. Nicht, um Russland zu bedrohen, sondern um Schutz zu suchen.

Erst in den letzten Jahren hat sich Putins Rhetorik verschärft. Russland kann sich darauf verlassen, in der deutschen Gesellschaft einen Resonanzboden für die Argumentation zu finden. Russlands aktuelle Forderungen, die 2021 in „Vertragsentwürfen“ verschriftlicht wurden, laufen darauf hinaus, dass die USA – nicht aber Russland – ihre Atomwaffen vom europäischen Kontinent abziehen und die Truppenstationierungen der NATO seit der Osterweiterung rückgängig gemacht werden. Dabei geht es Russland nicht darum, sich vor einer Bedrohung durch die NATO zu schützen, sondern um die Hegemonie in Europa – Stichwort „Einflusssphäre“.

Den Opfern gegenüber in hohem Maße gleichgültig

Hat Putin bis heute den Rückhalt der Russen für diesen Krieg, trotz all der Nachteile für Gesellschaft und Zivil-Wirtschaft? Registrieren Sie irgendwo Risse, ein Bröckeln der Unterstützung?

Andreas Wittkowsky: Putins Erzählung, Russen, Belarussen und Ukrainer seien eigentlich ein Volk, findet in breiten Bevölkerungsschichten Russlands Anklang. Die Propaganda tut das Ihre. Viele Russinnen und Russen denken, die Ukraine habe Russland angegriffen. Für ihre Unabhängigkeit würden die Wenigsten auf die Straße gehen, selbst wenn die zunehmende Repression dies zulassen würde.

Die Tatsache, dass Russland vor allem gut bezahlte Freiwillige in den Kampf schickt und gegen Straffreiheit rekrutierte Sträflinge, Untersuchungsgefangene und verstärkt aufgegriffene illegale Arbeitskräfte aus Zentralasien, führt dazu, dass die russische Gesellschaft den Opfern in hohem Maße gleichgültig gegenübersteht. Unmut entsteht da, wo direkte Folgen des Kriegs spürbar sind: bei Preissteigerungen oder – wie in letzter Zeit – bei Benzinknappheit. Daraus entsteht aber keine Anti-Kriegs-Bewegung.
Das Meinungsbild in den wirtschaftlichen Eliten ist widersprüchlicher. Doch auch hier überwiegt die Furcht, durch Opposition die privilegierte Stellung, das Eigentum, die Handlungsspielräume oder das Leben zu verlieren – es gibt ja ausreichend Präzedenzfälle. Gerade hat der langjährige Putin-Vertraute Dmitrij Kosak seine Demission eingereicht. Es wird kolportiert, er habe als einziger Angehöriger des inneren Machtzirkels auf Verhandlungen gedrängt und wurde deshalb kaltgestellt. Nicht alle kommen so glimpflich davon.

Es zeigt sich also kein Licht am Ende des Tunnels?

Andreas Wittkowsky: Kein Krieg ist entschieden, bevor er entschieden ist. Bei allen Schwierigkeiten haben dies die meisten europäischen Politikerinnen und Politiker in Regierungsverantwortung verstanden. Nicht zuletzt, weil es gegenwärtig die Ukraine ist, die Europa gegen ein radikalisiertes Russland verteidigt. Deshalb sind auch weitere Anstrengungen nötig, Waffenlieferungen und die Produktion in der Ukraine zu fördern. Bedarf gibt es vor allem bei der Flugabwehr und weit reichenden Waffen. Auch in die Frage, das eingefrorene russische Vermögen zu nutzen, um diesen Bedarf zu finanzieren, ist nun Bewegung gekommen.
Darüber hinaus hat sich in den letzten Monaten eine „Koalition der Willigen“ gebildet, die der Ukraine Sicherheitsgarantien bieten möchte. Dazu gehört auch die Bereitschaft, eine robuste Friedenstruppe zu entsenden. Hier ist allerdings die Crux, dass dies eben erst nach einem Friedensschluss akut würde. Dieser ist ohne Einverständnis Russlands kaum denkbar, und Moskau hat einer Truppenpräsenz aus NATO- oder EU-Staaten bereits eine Abfuhr erteilt.

„Mehr Diplomatie“ wird Putins Haltung nicht ändern. Nur wenn die ukrainische Verteidigung in der Lage ist, sein Kalkül auch militärisch zu durchkreuzen, gibt es eine Chance auf Frieden. Mit einer konsequenten Unterstützung der westlichen Partner, die auch selbst im Fadenkreuz hybrider Attacken Russlands stehen, kann dies gelingen.

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschafts-wissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) tätig. X-Twitter @Twittkowskyi

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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