Bildung, beste Waffe gegen Autokraten, Patriarchen und Populisten

Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Verfasserin der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von 1791, darin Artikel 10: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Gleichermaßen muss ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen.“ (Foto: Kucharsky auf wikimedia commons)

Bereits der Titel „Vergesst Kant!“ ist eine Provokation. Tina Hartmann, Professorin für Literaturwissenschaft, Autorin und Librettistin, rät, den Titel symbolisch zu verstehen. Das ist ganz und gar nicht als Entwarnung gemeint, denn das Symbolische hat es in sich. Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen und technischen Höhenflügen scheint die Weltgesellschaft im praktischen und sozialen Leben in einem Bedeutungsnetz verfangen, gewebt aus zutiefst vormodernen unaufgeklärten Bedeutungsfäden. Dazu zählen die gewalttätige Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die Feindseligkeit gegenüber Fremden, die Lust an Krieg und Terror und eine Heldenverehrung, die keine Heldinnen kennt.

„[Was bedeutet das alles?]“, steht treffend über der bei Reclam erscheinenden Buchreihe. Tina Hartmann betreibt Aufklärung in zwölf luziden Kapiteln, die auch jedes für sich gelesen werden können und Antworten geben auf die Frage: „Was war und ist Aufklärung wirklich?“

Das Missverständnis der Aufklärung beginnt mit der Verlockung der Eindeutigkeit, es gäbe nur „die“ Aufklärung und damit auch nur „die“ Aufklärer. Über Kants berühmte Definition seiner Aufklärung von 1784 wird nicht nur im Schulunterricht leicht hinweggelesen. Den Hintergedanken Kants entlarvt die Literaturwissenschaftlerin als wesentliche nebengeordnete Abschweifung. Die Selbstverschuldung der Unmündigkeit hatte Kant nämlich an das weibliche Geschlecht adressiert und als vermeintlich natürliche Ordnung anthropologisch zementiert.

Der von Kant tief verehrte Rousseau wird von Tina Hartmann kurz und bündig als Säulenheiliger der Aufklärung vom Sockel gestoßen. Ihre Argumente sind ein Antidot gegen die bis heute grassierende Vorstellung und das essentialistische Gerede von der ‚Natur der Menschen‘.

Wer sind „die Wilden“?

Auf das Vergessen folgt das Erinnern und Erlernen. Tina Hartmanns Bildungsangebot zur Aufklärung ist bestechend. Gleichheit ist – wie Freiheit – einer der vieldeutigsten Begriffe der philosophischen und politischen Sprache. Die Autorin erinnert an Theodor Gottlieb Hippel – Jurist, Königsberger Stadtpräsident, Tischgenosse und Ex-Student von Kant. Man muss keine Frau sein, um wie Hippel die Ungleichheit der Geschlechterrollen und Kants Misogynie desavouieren zu können.

Olympe de Gouges vor der Guillotine 1793, Tuschezeichnung von Lavis de Mettais (wikimedia commons)

Männer und Frauen werden in diesem Buch erinnert oder lernen Ungeahntes. Dass z.B. der Feminismus eine französische Erfindung ist, weil zu Beginn der Neuzeit in Frankreich sogar die Frage im Raum Stand, „ob Frauen auch Menschen seien“? Wie passt das zum Begriff Gleichheit im Wahlspruch der französischen Revolution. Spätestens bei der Brüderlichkeit hat die Gleichheit ihre Grenzen. Obwohl auch einige Intellektuelle und Politiker die Gleichberechtigung aller Geschlechter forderten, musste eine Frau, Olympe de Gouges, für ihre ‚Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin‘, auf dem Schafott büßen. Die Herrschenden und Richtenden duldeten keine Einmischung einer Frau in die den Männern vorbehaltene Politik.

Das Kapitel „Erziehung der Frau oder weibliche Erziehung“ erinnert an Mary Wollstonecraft, die bereits im 18. Jahrhundert in einer Mädchenschule fortschrittliche Erziehungsprinzipien, die bis dato für Jungen reserviert waren, konsequent und erfolgreich auf Mädchen anwendete. Keine Wirklichkeit ohne Fiktion. Die traurige Wirklichkeit der Ungleichbehandlung wurde im 18. Jahrhundert vor allem literarisch erzählt. Neben Christian Fürchtegott Gellert, Marie Sophie von La Roche und Christoph Martin Wieland finden sich weitere Referenzen dazu im Buch.

Bereits auf den ersten Seiten liefert das Buch unbeabsichtigt Aufklärung im Fall der meistens identitär diskutierten Umbenennung der Berliner Mohrenstraße. Der neue Namensgeber, Anton Wilhelm Amo, kam 1707 als fünfjähriger aus dem heutigen Ghana an den Hof der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg. Der Herzog, Prototyp des aufgeklärt-absolutistischen Herrschers, ließ dem als Sklave „geschenkten“ Jungen die beste Ausbildung zukommen und bewies, dass jeder Mensch bei entsprechender Förderung zur geistigen Elite des Gastlandes aufsteigen kann.

Welche Perspektivenwechsel bietet die Aufklärung sonst gegen Kolonialismus und Sklaverei? Dazu kommen vor allem indigene Stimmen zu Wort. Tina Hartmann entzieht sich bewusst einem Vorwurf der kulturellen Aneignung, weil anhand verschiedener Quellen deutlich wird, welch Überraschungs- und Irritationspotential der Blick der vermeintlich Wilden auf die europäische Aufklärung hatte. Die Frage, wer „die Wilden“ sind, ist eine nicht entscheidbare Frage für den, der sie stellt. Offensichtlich ist sie aber ein Indiz mangelnder Weisheit derjenigen, die andere als Wilde bezeichnen.

Abstruse Aneignungen der Gegenwart

Das Buch ist auch ein Beleg für die Unvermeidbarkeit der Geistes- und Literaturwissenschaften, um gesellschaftliche und politische Probleme sichtbar zu machen. Nicht Statistiken, sondern Literatur dient dabei dem Aufspüren und der Duplizierung von Wirklichkeiten. So auch in den Kapiteln, die sich mit den Rechten aller Menschen und Völker und aufgeklärten Intimbeziehungen beschäftigen.

Tina Hartmann zitiert Christian Wolff, der mit seinen „Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts“ von 1754 (!) bereits alle Voraussetzungen für eine aufgeklärte Gesellschaft zur Sprache bringt: »[D]aher ist ferner klar, das, was man rechtmäßiger Weise nicht will, daß es uns von anderen geschehe, das muß man einem anderen auch nicht thun.« Das erinnert frappant an Kants 30 Jahre später veröffentlichten kategorischen Imperativ.

Das abschließende Kapitel „Nonbinärer Universalismus“ entschlüsselt die Gefährdungen der Aufklärung durch widersprüchliche und abstruse Aneignungen der Gegenwart mit den Mitteln von Binarität und Androzentrismus, die wieder en vogue sind und Wokeness abgelöst haben. Für die Aufklärung sind diese Schlagworte und Fachbegriffe eher hinderlich. Tina Hartmanns Aufklärungslektüre fasziniert vielmehr durch das Erzählerische und den literarischen Zugriff.

Bis 1977 konnten Ehemänner in Westdeutschland qua Gesetz entscheiden, ob eine Berufstätigkeit der Ehefrau mit den Pflichten in Ehe und Familie vereinbar war. Im heutigen Afghanistan werden inzwischen Bücher von Frauen aus Universitäten verbannt. Bildung ist keine hinreichende Bedingung für Aufklärung und Demokratie, aber es ist die beste Waffe im Kampf gegen Aufklärungsverlust und gegen Autokraten, Patriarchen und Populisten.

Mehr Aufklärung ist für 7 € nicht zu haben.

Tina Hartmann: Vergesst Kant! Was war und ist Aufklärung wirklich?
Reclam Verlag 2024, 102 Seiten, Taschenbuch, 7 € (D), ISBN 978-3-15-014590-6

Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

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