
(Bild: KI generiert)
Was Klaus Vater für „grunddämlich“ hält, könnte sich als verblüffend erfolgreicher Schachzug des deutschen Bundeskanzlers erweisen. Eben weil sein Satz so einfach vage vielsagend blieb, erntete er mit geringstem Aufwand eine inzwischen bald wochenlange Debatte, zahlreiche Demonstrationen, eine Koalitionskrise, jede Menge offener Briefe, zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten für Frau Neubauer („umfassend rassistisch“) und nicht zuletzt vermutlich auch noch — auf Anregung der SPD — einen Stadtbild-Gipfel mit vermutlich einem sich anschließenden Klingbeil-Triplewummsbumms. Für einen ehemaligen Blackrock-Manager, in Effizienzfragen besonders achtsam, echt klasse — wie bringe ich mit einem Satz zig Millionen in Wallung, ob freudige oder aggressive, was soll‘s?
Der Kanzler spalte, heißt es. Nein, er eint unsere sonst thematisch täglich auseinanderlaufende Nation. Den jede sieht etwas, jeder auch: zu viele E-Scooter, fremde Obdachlose und hiesige, eine von Barber-Shops und Nagelstudios zugemüllte Innenstadt, Hamas-brüllende Anti-Semiten, irritierende Ansammlungen sportlicher Migrations-Männer, irrlichternde Rechtsextreme, architektonisches Elend in Beton und Asphalt, achtlos weggeworfene Einwegspritzen, zu schmale Fahrrad- und Gehwege, marode Schulen, kiffende Vielvölker-Grüppchen rundum Hauptbahnhöfen und … .
Aha, interessante Anregung, Herr Bundeskanzler
Was hatte der Bundeskanzler in Potsdam gesagt: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen.“
Niemand reagiert angemessen, etwa so: Aha, interessante Anregung, Herr Bundeskanzler. Was meinen Sie damit konkret? Was werden Sie tun? Was müssen Sie, was die Kommunen ändern, damit sich möglichst viele wohl und sicher fühlen in unseren Innenstädten? Was sind Ihre Erlebnisse, Herr Bundeskanzler? Warum haben Sie Ihre offensichtlich empirisch fundierten Erhebungen, dass die Belästigung von deutschen Töchtern durch Männer nordafrikanischer Herkunft mit zweifelhaftem Aufenthaltsstatus nach Einbruch der Dunkelheit gravierend zunehmen (frei nach Jürgen Kaube, FAZ), der deutschen Öffentlichkeit bisher verschwiegen, Herr Bundeskanzler?
Warum haben nicht alle gleich so reagiert, wie damals auf seine Pascha-Diagnose? Darüber hat sich doch auch niemand aufgeregt — oder? —, sondern gleich konstruktiv gesagt: Ach so, Herr Merz, Sie sprechen damit das große Problem der in migrations- und biodeutschen Kreisen grassierenden toxischen Männlichkeit an. Sehr vorbildlich, da ziehen wir doch an einem Strang. Was wollen wir dagegen gemeinsam tun?
Schließlich ist doch allein das Konkrete der Feind des vagen Merz.

Nein, dieses Mal Erregung auf Höchsttouren: Die einen denken, das ist der erste Schritt in den Faschismus, denn sie sehen den Bundeskanzler mit einem Kärcher-Geschwader durch die Straßen rasen, um Geflüchtete und Obdachlose, natürlich zuerst migrantische Obdachlose, vom Gehsteig in die Seitenstraßen zu spritzen. Die anderen phantasieren das auch und denken, endlich sagt es mal einer — und auch noch unser erster Mann in Berlin, endlich mehr demokratische Meinungsfreiheit. Und Merz sieht und sagt sich: einfach einen Wortfetzen in die Arena werfen und alle funktionieren — nach seiner Fasson. Das ist doch irre.
Welche Hälfte schüchtert ein?
Bleibt nur noch die Frage: Warum würdigt niemand, wie sehr sich der Bundeskanzler mit seinen wenigen Worten um unsere Demokratie verdient gemacht hat?
Ja, so ist es. Denn jüngst hat erneut Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach (FAZ, 17.10.25, Seite 10, „Was ist Freiheit“) die Bandbreite der Meinungen gemessen. Seine Ergebnisse: Erstmals Mitte 2021 maß sein Institut, trotz grundgesetzlich garantierter Meinungsfreiheit meine nur etwa die Hälfte der Bevölkerung, sie könne sich frei und unbeschwert äußern, die andere Hälfte sage, man solle dabei eher vorsichtig sein; 1991 lag der Frank-und-Frei-Wert noch bei überzeugenden 78 Prozent; damals sagten nur 16 Prozent, man solle besser vorsichtig sein.
Und an diesem bedenklichen Zustand hat sich, so seine jüngste Messung, nichts gebessert, denn: Immer noch meint eine Hälfte der Befragten, Meinungsfreiheit schön und gut, aber es sei „besser, vorsichtig zu sein“. Thomas Petersen interpretiert heute wie damals: Diese Hälfte irre nicht, denn selbstverständlich wisse sie, dass weder Polizei noch Gesetz noch Verfassungsschutz ihr verbiete, beispielsweise um den Preis der Überwachung und Festnahme und Verurteilung die eigene Meinung frei zu äußern. Jedoch reagiere diese Hälfte mit ihrer Bekundung „auf ein Klima der gesellschaftlichen Intoleranz“.
Nun bleibt natürlich, unabhängig von der etwas waghalsigen Interpretation des Meinungsforschers Petersen, die Frage: Welche Hälfte schüchtert ein? Die Queeren die gewaltbereiten Rechtsextremen, der Klimaaktivist den wärmepumpenhassenden Eigenheimbesitzer, der geschulte autoreifen-zerstechende Anarchist den SUV-Fahrer, die geflüchtetenhelfende Christin den asylheimanzündenden deutschen Rechtsradikalen…?

Ungeachtet dieser und weiterer noch zu klärenden Fragen ist jedoch zweifelsfrei: Jeder Demokrat, jede Demokratin will, dass möglichst viele unbeschwert und offen und ohne Scheu am öffentlichen demokratischen Streit teilnehmen können und wollen. In diesem Sinne reagiert der Bundeskanzler zügig auf die jüngste Allensbach-Untersuchung und engagiert sich als Türöffner für diejenigen, die sich als echterdeutsch als andere fühlen. Hat er nicht ein ausdrückliches Dankeschön für die Dehnarbeiten an der Meinungsbandbreite verdient?
Noch zwei Empfehlungen aus der einst konservativen und heute latent „faschistischen“ Ecke. Die Demokratie soll doch bitte schön eine Zumutung bleiben und kein Harmonie-Ressort, so steht es in einem Feuilleton-Text der FAZ über einen Auftritt von Julia Klöckner, CDU-Bundestags-Präsidentin, in der Talkshow von Markus Lanz. Klöckner dort: Einigkeit sei doch noch nie eine Stärke der liberalen Demokratie gewesen.
Und Jürgen Kaube, einer der Herausgeber der FAZ, empfiehlt: Die Demonstranten mögen vor der CDU-Zentrale gleich Dauercamper werden, werde doch die nächste sie empörende Äußerung des Kanzlers verlässlich kommen, nach Zahnarzt-Termin, Pascha, Stadtbild … .
Die Beiträge von Klaus Vater und Wolfgang Storz habe ich mit Interesse gelesen. Wolfgang Storz stellt zurecht fest, dass der von Klaus Vater als „grunddämlich“ gekennzeichnete Spruch äußerst wirksam und erfolgreich war. Weil er die Stimmungslage einer Vielzahl von Menschen trifft, nicht mit der konkreten Ausformulierung, die nicht nur grunddämlich, sondern gelinde gesagt falsch bis menschenverachtend ist, aber mit dem, was diese Aussage „antickt“. Ich denke nicht, dass man darüber etwas larmoyant hinweg reden oder schreiben kann. Dazu ist das Elend unserer Städte aus vielen Gründen zu offensichtlich. Dazu sind die Folgen dieses Elends viel zu gefährlich. Kaum jemand fragt danach, wie es kommen konnte, dass die Kommunen als die grundgesetzlich verbriefte Grundlage der staatlichen Gemeinschaft in diese Situation kommen konnten, in der sie sind. Dass sie einen zu geringen Anteil am Steueraufkommen bekommen haben, von Bund und Ländern nicht ausreichend mit den Mitteln ausgestattet werden, die zu Erfüllung der eben von Bund und Ländern übertragenen Aufgaben notwendig sind, keinen Rechtsanspruch auf Zahlungsausgleich haben, von gestandenen Kommunalpolitikern vergessen werden, wenn sie zu höheren politischen Weihen gelangen, usw. usw. Markus Lanz fragt in seiner süffisant-spitzen Art eine Bürgermeisterin, ob es denn etwas koste, Menschen, Kindern aus fremden Kulturen, also mit Migrationshintergrund, unsere Regeln des Zusammenlebens, des Verhalten beizubringen. Allein diese Frage ist schon unverschämt. Mich hat sich schrecklich aufgeregt – aber niemand hat in dieser Sendung darauf reagiert. Unser gesamtes Erziehungs- und Bildungssystem, darauf ausgerichtet, Menschen, egal welcher Herkunft, Regeln humanen Zusammenlebens beizubringen, kostet Geld! Und für Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund erst recht. Der Beitrag von Wolfgang Storz ist mit der Titelseite von Alexander Miterschlichs Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ bebildert ohne darauf Bezug zu nehmen. Mittlerweile sind unzählige Ursachen der Unwirtlichkeit hinzugekommen. Klaus Vater und Wolfgang Storz erwähnen sie gleichsam kursorisch. Höchste Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und zum Unfrieden anzustiften. Dass unsere Kommunen bzw. kommunalen Gebietskörperschaften so schmählich vergessen und vernachlässigt werden, ist auch zumindest ein Grund dafür, dass nicht „progressive“ Kräfte, wie neuerdings das linksliberale Spektrum immer häufiger genannt wird, sondern rechtsextreme Populisten leider erfolgreich Unfrieden stiften können – auch mit der Behauptung eingeschränkter oder fehlender Meinungsfreiheit. Die „Wirtlichkeit“ unserer Städte wieder herzustellen, sollte oberste politische Priorität haben, für politisches Handeln auf allen Ebenen.