Fiel der Herr Bundeskanzler der Physik zum Opfer?

Wie soll Mensch, liebe Leserin, lieber Leser mit der – meiner Ansicht nach – grunddämlichen Stadtbild-Behauptung des Herrn Bundeskanzlers umgehen. Ignorieren? Schwierig. Schließlich ist er Regierungschef und Parteivorsitzender, er hat also was zu sagen hierzulande. Ich lebe in einem Stadtteil mit rund 25 000 Menschen, die einen „Zuwanderungshintergrund“ aufweisen. Das sind um die 34 Prozent der Gesamtbevölkerung. So lese ich das in der städtischen Statistik: Zuwanderungshintergrund. Es ist eine der heute umgehenden Wortschöpfungen aus dem Kreißsaal bürokratischer Wortgeburten.  In der TAZ kam am 5. Mai 2011 ein junger Mann namens Samir aus meinem Stadtteil zu Wort. Er sagte dem Blatt damals: „Sind doch alles Pisser hier.“ Wen er damit genau meine, fragte die TAZ zurück. Antwort: „Alle!“

Keine Ahnung was der älter gewordene Samir heute denkt und sagt. Im Zusammenhang mit den Merzschen Worten über Zuwanderung und Flucht nach Deutschland: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem…“, dürfte er sich bestätigt fühlen. Für die einen ist Merz nun der Faschist im Kanzleramt, für andere hat einer endlich mal die Wahrheit gesagt, für dritte entstand der Satz bei ihm aus dem trivialen Wunsch, an Stammtischen wahrgenommen zu werden. Aber grunddämlich war´s in jedem Fall.

Vielleicht tun manche ihm aber Unrecht, weil der Herr Bundeskanzler einfach der Physik zum Opfer gefallen ist. Bitte, winken Sie nicht ab. Ich erinnere an folgendes:

Durch ein transparentes Trinkglas mit oder ohne transparente Flüssigkeit kann man hindurchsehen und andere Gegenstände wahrnehmen. Der Durchblick ist zwar nicht so perfekt wie etwa bei einer Fensterscheibe, aber das erwartet man von einem gekrümmten und nicht perfekt gearbeiteten Glas auch gar nicht. Wenn man jedoch bewusst beispielsweise durch ein (teilweise) gefülltes Weinglas hindurch auf umgebende Gegenstände schaut, wird plötzlich klar, dass es sich in diesem Fall um mehr als eine kleine Abweichung vom perfekten Durchblick handelt. Man hat es mit einem veritablen optischen Phänomen zu tun: Die Gegenstände erscheinen nämlich nicht nur etwas verzerrt, sondern sie stehen auf dem Kopf und sind seitenverkehrt.“ Aus: Unterricht Physik von Hans Joachim Schlichting und Wilfried Suhr.

Ich weiß: Ziemlich weit hergeholt, aber wer kann das schließlich und endlich ausschließen? Wer kann ausschließen, dass der Bundeskanzler, ich sag mal ….der Einfachheit halber …in Stuttgart mit Bekannten zusammengesessen, sein Weinglas gehoben hat, und durch selbiges hindurchblickend allerlei Verbogenes, sich hin und her Bewegendes erblickt hat, welches er als rüdes Verhalten begriff. Oder vielleicht hat er in einem Restaurant im Berliner Kreuzberg sein Schnapsglas erhoben, dabei hindurchgeguckt, um auf den ersten Blick zu meinen, Merkwürdiges zu sehen. Und schließlich hat er – möglicherweise – auf seine Frage, was das denn da sein solle, aus seiner Entourage gehört, das seien Strolche aus anderen Ländern, die hinter deutschen Töchtern her seien. Ja und dann ist ihm etwas rausgerutscht. Liebe Leute!

… oder ein Mineralwasserglas (Foto: Olaf Kosinski auf wikimedia commons)

So oder ähnlich könnte unser aller Bundeskanzler zum „Stadtbild“ gekommen sein. Ob es ein Schnapsglas war, ein Weinglas, eine Sektflöte, ob das Glas voll war oder halb gefüllt, nur noch Schnaps-Schlieren enthielt – all das weiß man nicht. Vielleicht wollte der Mann, wie gesagt, einfach nur mal wieder am Stammtisch ernst genommen werden, nachdem man ihm über Wochen und Monate im In- und Ausland die Ohren vollgedröhnt hatte, er sich auch noch Donalds Gelaber anhören musste.

Würden Sie, lieber Leser, das unbeschadet überstehen und nicht dem Versuch anheimfallen, einfach mal die Sau raus zu lassen? Also einen los zu lassen, der eher zu besoffenen Mallorca- Besuchern passt, beziehungsweise zum eigentlich guten Deutschen, der unter erheblichem Alkoholeinfluss rassistisches Gegröle anstimmt.

Bring mir Rum

Außerdem ist es doch so: Oft schiebt sich eben unvorhergesehen etwas zwischen Realität und Wahrnehmung. Ein früher bekanntes Beispiel ging so: Herbert Wehner soll sich mal derart über die Pressestelle seiner Fraktion geärgert haben, dass er dem nächsten, den er sah, im ersten Wutschwange nachschrie: Ich bring dich um! Was wiederum Journalisten, die beiden aus der Ferne betrachtend, mitbekamen, so dass sie den armen Pressesprecher löcherten. Der zog sich mit der Aussage aus der Affäre, sein Boss habe lediglich gerufen; Bring mir Rum!

Nun wird man mir vorhalten, ich versuchte, mich mit Witzeleien aus der Geschichte ziehen. Ich entgegne, dass meine Enkelin mehrfach über ekelhafte Anpöbeleien an Bushaltestellen berichtet hat. Das sitzt in jungen Frauen, ist Teil ihrer Erfahrungen, Teil ihrer Erwartungen. Ja, es gibt noch wesentlich schlimmere Erfahrungen von Frauen. Sie beklagen Taten, die lebenslang Leid mit sich bringen können, unentschuldbar, Fälle für Polizei, Staatsanwalt, Gerichte und Gefängnisse. Und dass solche Verbrechen auch aus Gruppen junger Männer heraus begangen werden, die in Deutschland zugewandert sind beziehungsweise nach Deutschland geflohen waren, ist nicht zu bestreiten.

Foto: Stephan Sprinz auf wikimedia commons

Diese Fälle hat Friedrich Merz nach dem Motto „pars pro toto“ zu einem Stadtbild verarbeitet, das vielerorts auf Zustimmung stößt. Stadtbild? Das Wort Stadtbild hat einen summarischen Klang. Kölns Stadtbild wird vom Blick bestimmt, der auf der „schäl Sick“, der rechten Rheinseite entsteht, und der von dort auf den Dom und die davor liegenden  Rheinbrücken fällt. Rechts wie links des Rheins gibt es Ecken und in denen zu manchen Zeiten Probleme, Gefahr für Frauen. Wo da bisher nichts geschieht seitens des Staates oder zu wenig, muss gehandelt werden, nach Gesetz und Zuständigkeit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Beschäftigte der Ordnungsämter und die Polizei wissen das, versuchen Gefahr klein zu halten. Die wissen auch, dass die übergroße Mehrheit der Menschen aus anderen Ländern so friedlich und gesetzestreu ist wie die Mehrheit derjenigen, die von Herkunft und Geburt an in Deutschland zuhause waren.

Geholfen hat der Bundeskanzler in diesem, durch Freiheit und Freizeit, fehlende Kontrolle, fehlendes Unrechtsbewusstsein, durch Ängste und ein völlig inakzeptables Patriarchats-Verständnis geprägten Bereich nicht. Seine Stadtansicht verhindert keine einzige Pöbelei und keinen Übergriff, von wem der auch begangen wurde.

Schade, dass man den Malermeister Zinnober nicht mehr anrufen und den um Hilfe fragen kann. Der hatte zusammen damals mit zwei Kindern die durch und durch graue und triste Stadt bunt gemacht, sie angestrichen. Die drei, die wären was für heute. Geht leider nicht. Zinnobers Erfinderin, die wunderbare Margret Rettich ist 2013 gestorben – und dabei ging Zinnobers Adresse verloren.  

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres. 2025 erhielt Vater den Gregor-Gog-Literaturpreis.

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