Alte Geschichten über das neue Berlin

Als rasender Reporter schreibt Egon Erwin Kisch Geschichten unter anderem über Polizeistreifen in Berlin und über Boxer im Radio. Er schreibt über Verarmung und Bereicherung in den Berliner Straßen und er erzählt von Weihnachtsfreuden und Christbaumschmuck im Kaufhaus. Er referiert über die Kaufkraft eines Groschen und über mögliche Veränderungen an einer Nase. Über 30 dieser Geschichten, entstanden in den Jahren 1921 bis 1933, sind für diesen Band ausgewählt worden. Unter dem Titel „Berliner Bohème“ wurde er in der Reihe „Berliner Orte – Klassiker“ von Gabi Wuttke herausgegeben. Deren berufliche Laufbahn mit Stationen beim ehemaligen Sender Freies Berlin (SFB) und jahrelanger Beschäftigung mit der Berliner Kulturszene qualifiziert sie gewissermaßen als eine Nachfolgerin des rasenden Berlin-Reporters.

In der Reihe „Berliner Orte“ werden Straßen, Plätze und Kieze samt ihrer Historie vorgestellt. Es werden das alte West-Berlin, der Alexanderplatz und die Sonnenallee abgebildet sowie Walter Benjamins „Stadt des Flaneurs“ neu herausgegeben. Nun ist es Kisch, der in dieser Reihe zu Wort kommen darf. Egon Erwin Kisch ist 1885 in Prag geboren und 1948 auch dort gestorben. Er war Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er hatte ein besonderes Gespür für die sogenannten kleinen Leute, über die er gern und oft schrieb. Bekannt ist, dass er als Vagabund kostümiert eine Nacht in einem Prager Asyl für Obdachlose verbrachte, um im Anschluss über seine Erfahrungen zu berichten.

Zwei Artikel des Buches greife ich exemplarisch heraus, als ersten „Polizeistreifung in Berlin„, daraus zwei Textstellen (Seite 6)

„Wer sind denn Sie?“ (Anrede durch den Kommissar)
„Ich heeße Maier, Herr Kommissar.“
„Zeigen Sie mal Ihre Papiere.“
„Ich habe keene.“
„Wo wohnen Sie denn?“
„Ich mache platt“ (Bin obdachlos.)
Ein Wink, und zwei der Geheimpolizisten fordern die Freunde zum Mitgehen aufs Revier auf.


Dann sind wir vor dem städtischen Asyl für Obdachlose, einem roten Riesenbau, der mit seinem schönen Zierturm wie ein Rathaus aussieht. Radial streben von allen Seiten schmerzliche Gestalten dem Gebäude zu, ein Gries auf eiligen Krücken, ein Ächzender, der nach jedem Schritte erschöpft innehält.

Die Sprache hat sich weiterentwickelt, das Berlinerische ist heute nicht mehr verbreitet, aber beide Szenen könnten durchaus noch auf gleiche Weise stattfinden. Obdachlose Menschen werden auf die Wache mitgenommen zur Identitätsklärung. Obdachlose Menschen streben ächzend und erschöpft ihrer Unterkunft entgegen.


Gedenktafel für den Berliner Asyl-Verein für Obdachlose, Wiesenstraße 55 (Doris Antony auf wikimedia commons)

Bei dem beschriebenen Bau handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Wiesenburg in Berlin-Wedding. Die Wiesenburg wurde vom Berliner Asylverein für Obdachlose erbaut. Das Gebäude bot Platz für bis zu 700 Männer und 400 Frauen. Es ist heute denkmalgeschützt und beheimatet ein Zentrum für Kunst, Kultur und Gewerbe. Zu finden sind hier u. a. Ateliers, Werkstätten, Proberäume, Kunsträume sowie auch die Tanz- und Werkhalle Wiesenburg.

Bild: KI generiert. Prompt: „Erstelle ein Bild, welches ironisch Roaring Twenties, High Heels, Champagner, Monokel und Smartphone verbindet“

Der zweite Artikel, Die gerächte Bohème (S. 51 ff.) ist schnell zusammengefasst. Die Berliner Bohème verkehrt im Café des Westens. Sie essen mehr als sie zahlen können, sie verbringen mehr Zeit in dem Café mit Diskutieren anstatt ausgiebig zu konsumieren. Irgendwann schmeißt der Besitzer alle raus und versucht neue Kundschaft anzulocken. Gefragt, da finanziell bessergestellt, sind „Lebemänner mit Monokel und Weltdamen in hohen Absätzen.“ (S. 52). Die Bohème zieht weiter. Nun kommt das Romanische Café in Mode. Es dauert nicht lange, da wollen auch die Lebemänner mit Monokel und die Weltdamen mit hohen Absätzen nicht mehr ins Café des Westens – es fehlt ihnen der Charme der Bohème.

Solche Situationen werden heute mit Gentrifizierung beschrieben. Kreative und Kunstschaffende erkennen einen Ort als den ihren. Später kommen andere, die auch gern dazugehören würden. Nach und nach wird es zu einer teureren Gegend und die Bohème zieht ihrer Wege. Mit ihr ziehen, soweit sie es sich leisten können, auch alle anderen Einwohnerinnen des Kiezes.

Kischs Texte sind über 100 Jahre alt. Man merkt es der Wortwahl an, nicht aber den Inhalten. Die Polizei kontrolliert Menschen, die auf Parkbänken verweilen. Wer sich nicht ausweisen kann, wird mit auf das Revier genommen. Menschen essen mehr als sie bezahlen können und kaufkräftigere Kundschaft verdirbt die Atmosphäre. Die Sprache von Kisch ist gut lesbar und zu gern lässt man sich in das alte Berlin hineinziehen. Man bekommt Lust, Schauplätze von damals aufzusuchen und ihre Geschichte(n) nachzuvollziehen.

Maik Eimertenbrink
Dr. Maik Eimertenbrink ist Dipl. Kommunikationswirt und arbeitet im Internationalen Anpassungslehrgang soziale Professionen (ApaLe) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen. 2001 bis 2003 war er Mitglied beim Nachhaltigen Filmblick, 2008 gründete er zusammen mit Freunden den gemeinnützigen Verein Nachhaltigkeitsguerilla e. V. Er hat mit seinem Blog zahlreiche Preise gewonnen. Während seines Kommunikationsstudiums hat er sich auf Umwelt- und Nachhaltigkeitskommunikation spezialisiert und war freiberuflich für Nachhaltigkeitsprojekte bei Werbeagenturen wie ‘Die goldenen Hirschen Berlin’ tätig. Seine Promotion hat den Titel "Von obdachlosen Berber*innen bis zur digitalen Bohème. Erfahrungen, Erwartungen und Bewertungen nomadischer Lebensweisen". Siehe auch https://maik-eimertenbrink.onepage.me/

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