Was tatsächlich im BSW an politischer Kraft steckt und wofür es diese einsetzen will, werde sich erst zeigen, wenn das Einsammeln von Stimmen — nach der Devise: wir nehmen alle, die wir auf Teufel komm` raus kriegen können — bei den Europa- und vor allem den drei ostdeutschen Landtagswahlen vorbei sei, sagt der Sozialwissenschaftler und Wahlforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz.
„Wenn dann Bilanz gezogen wird, steht die Entscheidung an: Bleiben wir — wie in dieser Vorphase bis zum Herbst 2024 — populistische Stimmenfängerin? Oder fangen wir ernsthaft zu überlegen an, wie wir die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten wollen? Und bis zum kommenden Herbst werden dem Wahlvolk nur diese Hungerhappen vorgeworfen: weniger Europa, höherer Mindestlohn, mehr Vertrauen in den vom Westen bedrohten Friedensfreund Putin, weniger Migrantinnen und Migranten.“
Wolfgang Storz: Nach Ihrem Verständnis von ‚Beschaffenheit‘ und Eigenschaften eines vielversprechenden Politikers, einer vielversprechenden Politikerin: über was davon verfügt Sahra Wagenknecht und über was nicht? Kann sie beispielsweise eine Partei mit unterschiedlichen Strömungen zusammenhalten, etwa im Falle eines Falles ein Ministerium führen?
Horst Kahrs: Sie kann öffentlich verständlich sprechen, vor allem aber so sprechen, dass sich Menschenansammlungen, zu denen sie spricht, zu einer politischen Masse formieren, sich als politische Kraft erfahren können. Neudeutsch: ihre Veranstaltungen sind ein politisches Event. Sie ist klug; sie weiß, was sie tut. Und einiges mehr, was ja von anderen schon zurecht aufgezählt worden ist. Und worüber sie nicht verfügt, sagt sie ja selbst: Organisationsfähigkeit, Führungsfähigkeit abseits der Bühne.
Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler, Wahlforscher und Publizist. Von 1995 bis 2021 hat er in verschiedenen Funktionen für die PDS, DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog »linksdings – Der Schlüssel steckt von innen« https://linksdings.ghost.io/
Wie kann präziser als mit dem Begriff Politikerin beschrieben werden, was Frau Wagenknecht ist und treibt?
Horst Kahrs: Frau Wagenknecht ist eine politische Polarisierungsunternehmerin. Übrigens: Sie ist damit nichts Besonderes, sondern nur eine von vielen, die unsere und auch andere nichtautoritär verfasste Gesellschaften hervorgebracht haben. Ihr Pfund ist ihre öffentlich und medial inszenierte Persönlichkeit. Davon lebt auch die von ihr gegründete Partei, das BSW, das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ohne sie würde es diese Partei gar nicht geben.
Der Gründungsparteitag: debatten- und antragsfrei
Welche Folgen hat das für die Partei?
Horst Kahrs: Einschneidende, denn daraus folgt vor allem: Sie und ihre dominierende Rolle dürfen nicht in Frage gestellt werden. Beides ist elementar: Wer sie in Frage stellt oder nur kritisiert oder wer allein nur ihre Dominanz in Frage stellt, der übt nicht nur Kritik, der stellt zwangsläufig diese Partei in Frage. Konkret: Diese Partei ist ein Produkt des politischem Feudalismus und hat damit zumindest in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal. Deshalb verlief der Gründungsparteitag so debatten- und antragsfrei, wie er gelaufen ist. Er konnte gar nicht anders über die Bühne gehen. Sahra Wagenknecht und ihre AnhängerInnen müssen auch vermeiden, dass sie beispielsweise aufgrund der Übernahme eines Amtes realpolitische Blessuren erleidet. Denn allein das würde ihre Anführerinnen-Rolle gefährden.
Was denken Sie, welches Verständnis hat Wagenknecht von ihrer Partei? Ist das für sie, die auch als beratungsresistent gilt, eine Art fremdes Wesen?
Horst Kahrs: Ich denke, sie versteht ihre Partei als eine Art handverlesenes Zentrum einer Bewegung, die in die Gänge kommen soll, nicht als Mitmach-, eher als eine Kader-Partei. Deshalb stellt sich die Frage, die Sie oben aufgeworfen haben, ob sie ein Ministerium führen könnte, die stellt sich gar nicht. Natürlich würde sie auch das — begleitet von den richtigen kompetenten StaatssekretärInnen — irgendwie über die Bühne bringen. Aber um den Preis jener Blessuren, die sie sich eben gar nicht leisten kann. Um ein anderes Bild zu bemühen: Sie ist die politische Fahnenträgerin, hinter der sich alle versammeln. Insofern ist das BSW – ihr Name ist das Programm — für deutsche Verhältnisse eine politische Neuerung. Mal abgesehen von dem bereits gescheiterten Team Todenhöfer.
So schwebt über allem der große alte Lafo
Was bisher geschehen ist: Ist das eine Spaltung der Linkspartei? Oder war und ist es nur eine Abspaltung einer medial zwar einflussreichen, aber recht kleinen Minderheit?
Horst Kahrs: Im Kern trennen sich wieder diejenigen von der Partei DIE LINKE, die von der SPD über die WASG zur PDS gekommen waren. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und vieles von dem, was von dieser neuen Partei zu hören ist, knüpft ja an sozialdemokratische Leitbilder der 1970er Jahre an. Etwa wenn etwas romantisch an die Friedenspolitik von Willy Brandt angeknüpft wird. Als romantisch werte ich das, weil wohlweislich verschwiegen wird, dass unter den Brandt-Regierungen die Verteidigungsausgaben in einer Höhe von vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes lagen — heute wird darüber gestritten, ob wir von unten sozusagen an die zwei Prozent herankommen sollen — , und natürlich war es damals verboten, technisch hochwertige Wirtschaftsgüter in den sogenannten Ostblock zu verkaufen. Also viel geschönte Erinnerung.
Dazu gehört auch das Wagenknecht‘ sche Revival der ordoliberal grundierten „Sozialen Marktwirtschaft“ sowie die Stärkung der nationalstaatlichen Souveränität gegenüber den USA und der EU. Das alles ist nicht neu und hatte auch mal Platz in der deutschen Sozialdemokratie. So schwebt über allem irgendwie und irgendwo auch der große alte Lafo: Nachdem es Lafontaine nicht gelang, eine Linkspartei nach seinem Ideal zu formen, startet nun ein nächster Versuch… .
Wie könnte die Linkspartei jetzt agieren, um aus der neuen Situation etwas Positives für sich zu machen? Was unbedingt tun, was unbedingt lassen?
Horst Kahrs: Zunächst einmal muss sie bei den Wahlen in diesem Jahr sich selbst und ihren potentiellen Wählerinnen und Wählern beweisen, dass sie eine Zukunft hat und nicht weiter zerbröselt. Dann hat sie die Chance, linke, demokratisch-emanzipatorische Politik neu zu „erfinden“, wie es gerne heißt.
Klingt vielversprechend nach politischem start-up: neues Produkt. Und was heißt das konkret?
Horst Kahrs: Erst einmal bedeutet es, etwas Negatives zu akzeptieren. Es ist ja offensichtlich, dass die bisherigen Konzepte und Strategien nicht erfolgreich waren, um nicht zu sagen: sie sind gescheitert. Wichtig dabei ist die Erkenntnis, die Linke hat zu lange geglaubt, dass materielle Fragen, Verteilungsfragen allesentscheidend oder auch nur entscheidend seien. Sie sind es aber nur im Zusammenhang mit anderen ausschlaggebenden Fragen. Beispielsweise dem Aspekt der Anerkennung, des Respektes. Die Gesellschaft muss klären: Was steht wem zu? Welche Ansprüche kann wer legitim stellen? Was ist legitime Ungleichheit und welche ist illegitim? Eine demokratisch-emanzipative Linke muss diese Fragen in den Mittelpunkt ihrer Politik rücken.
Ein Beispiel bitte.
Horst Kahrs: Um bei den Pandemie-Erfahrungen zu bleiben: Wer die absolut notwendigen Abläufe des Ladens am Laufen hält — ich denke hier unter anderem an die Pflegekräfte, an die Beschäftigten in öffentlichen Gesundheitsämtern —, auf welchen Status, materiell wie immateriell, hat der Ansprüche in dieser Gesellschaft? Und hat er bereits den Status, den er verdient oder hat er ihn nicht. Auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen. Das ist eine fundamentale politische Debatte, welche die Linkspartei betreiben muss. Und zweitens müsste eine in meinem Sinne neue Linke eine politische Analyse vorlegen, die klärt: Mit wem arbeiten wir zusammen, mit wem nicht und wer sind unsere Gegner, also wen bekämpfen wir. Je präziser dies definiert wird, desto politisch brisanter wird die Sache.
Scheideline zwischen Fossilisten und Postfossilisten
Und wie verlaufen die Fronten so?
Horst Kahrs: Für mich verläuft in Gesellschaft, Gewerkschaften und Unternehmerschaft eine entscheidende Front so: Wer ist national wie global dafür, die Wirtschaft so schnell zu dekarbonisieren, dass die Zeitpläne des Pariser Abkommens eingehalten werden können? Mit all denen arbeitet die künftige Linkspartei zusammen. Und ihre Gegner sind diejenigen, die dieses Ziel nicht teilen oder sogar noch möglichst lange an der fossilistischen Produktions- und Konsumweise festhalten wollen. Konkret: Künftige Partner und künftige Gegner können sowohl in Konzernzentralen wie in Gewerkschaftsvorständen sitzen. Noch konkreter: Der Vorstand der IG BCE könnte Gegner, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom könnte Bündnispartner sein. Nur so als Beispiel, um den politischen Kreislauf ein bisschen anzuregen. Diese Trennlinie zwischen Fossilisten und Postfossilisten sollte eine neue Linke zur Scheidelinie zwischen „potentiellem Partner“ und „Gegner“ stark machen. Diese neue Linkspartei positioniert sich damit im Rahmen eines planetaren Paradigmas. Das heißt auch: Wie in der EU die Unternehmen produzieren, diese Frage hat mindestens denselben Stellenwert wie die Klärung der sozialen Frage in Deutschland. Sich wie bisher vor allem auf Letzteres zu konzentrieren, ist zum Scheitern verurteilt.
Wird das der größte Schaden sein, den Sahra Wagenknecht der Linkspartei zufügen wird: Dass sie (unfreiwillig, aber vermutlich mit Schadenfreude) zusammen mit Björn Höcke, AfD, dem bisher einzigen Ministerpräsidenten der Partei bei der Wahl am 1 .September in Thüringen die Mehrheit nehmen wird. Zumal Bodo Ramelow politisch ebenso tapfer wie riskant, eine harte Politik gegen den Kriegsführer Wladimir Putin befürwortet und Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützt, eine in einem ostdeutschen Bundesland besonders unbeliebte Position.
Horst Kahrs: Ja, so kann es kommen. Vielleicht unfreiwillig, aber trotzdem immer politisch grob fahrlässig. Natürlich auch zum Schaden der Linkspartei, aber mehr noch zum Schaden der Zukunft das Landes Thüringen. Denn die jetzige Minderheiten-Koalition aus Linkspartei, SPD und Grünen hat ja immerhin eine Vorstellung, wie sie die Lebensbedingungen im Land — in den Bereichen Wirtschaft, soziale Infrastruktur — sozial gerecht und ökologisch gestalten will; und das unter den Bedingungen einer alternden Gesellschaft, bei zunehmender Arbeitskräfteknappheit und in Anbetracht der Klima-Herausforderung und der notwendigen Dekarbonisierung von Produktion und Konsum. Das ist bei den anderen Parteien nicht zu erkennen, da herrscht als Minimalkonsens: bloß keine Experimente. Und die AfD schwärmt mit dem Stichwort Dexit gar von politischen Abenteuern.
Auf emotionalen Stimmungswellen surfen
Was zeichnet sich bisher anhand der Äußerungen der ParteigründerInnen und der Beschlüsse des ersten Parteitages ab: Wie wird sich das BSW positionieren?
Horst Kahrs: Erste Aufgabe einer jeden neuen Partei ist es nicht, ein konsistentes Programm zu haben. Sie muss zuallererst Wahlerfolge einfahren, welche der Parteigründung eine gewisse Stabilität verleihen. Erst wenn aus Umfragen Wahlstimmen geworden sind, weiß das BSW, woran es ist und ob sich die Mühen echter programmatischer Arbeit mit den damit einhergehenden Debatten tatsächlich lohnen werden. Also geht es zunächst einmal darum, politisch auf eher affektiv, emotional geprägten Stimmungswellen zu surfen.
Und: Wie gut kann das BSW surfen?
Horst Kahrs: Die Stimmung im Land ist geprägt von einer Enttäuschung über die Bundesregierung und Wut gegen sie. Einer Wut, die jedoch nur weiß, was sie nicht will. Hier sucht auch die Wagenknecht-Partei ihre Stimmen. Ihr Spitzenkandidat für die Wahl zum Europäischen Parlament hat auf dem Parteitag dazu aufgerufen, die Wahl für den „Protest gegen die Ampel“ zu nutzen. Schlimmer geht es europapolitisch eigentlich nicht: die europäische Wahl zur Abrechnung mit der nationalen Politik zu missbrauchen. Das BSW steht damit allerdings leider nicht allein. Was tatsächlich im BSW an politischer Kraft steckt und wofür es diese einsetzen will, wird sich erst zeigen, wenn das Einsammeln von Stimmen — nach der Devise: wir nehmen alle, die wir auf Teufel komm` raus kriegen können — bei den Europa- und vor allem den drei ostdeutschen Landtagswahlen vorbei ist.
Wenn dann Bilanz gezogen wird, steht die Entscheidung an: Bleiben wir — wie in dieser Vorphase bis zum Herbst 2024 — populistische Stimmenfängerin? Oder fangen wir ernsthaft zu überlegen an, wie wir die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten wollen? Und bis zum kommenden Herbst werden dem Wahlvolk nur diese Hungerhappen vorgeworfen: weniger Europa, höherer Mindestlohn, mehr Vertrauen in den vom Westen bedrohten Friedensfreund Putin, weniger Migrantinnen und Migranten.
Die AfD bleibt das Original
Wird diese neue Partei eine AfD plus Sozialpolitik minus Menschenhetze sein?
Horst Kahrs: Die AfD will zwar im Programm alle Subventionen streichen. Aber Sozialpolitik für Deutsche hat sie auch im Programm, zumindest für „Blutsdeutsche“. Das sollte man nicht unterschätzen. Die Deportationspläne — genannt „Remigration“ — wurzeln ja genau dort: Wenn weniger Menschen soziale Ansprüche haben, können die Verbleibenden mehr bekommen. Aber ich finde es falsch, wie Sie das in Ihrer Frage tun, das BSW auf diese Art mit der AfD zu vergleichen. Es ist nicht zu erwarten, dass aus dem BSW jemals zur Gewalt gegen Migranten aufgerufen wird. Auf einer anderen Ebene handelt es sich aber bei den beiden Parteien durchaus um Konkurrenten: in der populistischen Sprache, auch in der Herabwürdigung und Delegitimierung demokratischer Verfahren und demokratischer Institutionen. Nur ist die AfD da schon viel weiter, sie bleibt das Original.
Erkennen Sie eine Programmatik, von der Sie sagen: Ja, genau, diese These, diesen Wert oder diese Kombination an Forderungen vertritt NUR diese neue Partei. Das ist ihr Alleinstellungsmerkmal jenseits der Leitfigur Sahra Wagenknecht.
Horst Kahrs: Schaue ich auf die Programmatik: Nein. Schaue ich auf die Selbstinszenierung und mediale Widerspiegelung, dann wird dem Publikum anderes nahegelegt. Meist heißt es ja: Das BSW, das wird den bisher unbesetzten programmatischen Platz von linker Umverteilung plus konservativen Werten besetzen, also Milliardäre hoch besteuern und gegen zu viel Migration, Gender-Sprache, zu viel „Berlin-Mitte“ ankämpfen. Meine Meinung: Gegen „das Gendern“ zu sein oder sich von „Hipstern“ abzugrenzen, ist nur billiger politischer Tand. Damit löse ich nicht ein Problem, das dient nur der Abgrenzung und der Selbstvergewisserung — getreu dem alten Margarine-Werbespruch: Du kannst so bleiben wie du bist.
Das neue BSW wird wie die AfD als konstitutives Element das Gegenüber von (bösen) Eliten und gutem (deutschen) Volk thematisieren. In diesem Zusammenhang wird sie jedoch mit Sicherheit den bereits maßlosen privaten Reichtum der Wenigen prominent thematisieren. Das hat in den letzten zwei, drei Jahren ja nicht einmal mehr die Linkspartei gemacht. Muss es nicht allein deshalb schon diese neue Wagenknecht-Partei geben?
Horst Kahrs: Naja, die Linkspartei hat sich da ständig schon ordentlich Mühe gegeben und will ja auch bei jeder Gelegenheit die Reichen und die Konzerne zur Kasse bitten. Hat nur kaum jemanden interessiert, weil bei der Linken aufmerksamkeitsökonomisch die Auseinandersetzung mit Wagenknecht Einschaltquoten und Klickraten brachte.
Bei und mit der Wagenknecht-Partei wäre das mit der öffentlichen Aufmerksamkeit vielleicht anders?
Horst Kahrs: Mag sein. Aber: Es braucht doch nicht noch eine Partei, die Reichen-Bashing betreibt. Stattdessen bräuchte es eine Partei, die ernsthaft an einer demokratischen Mehrheit arbeitet, die an der Einkommens-Ungleichheit etwas ändern will. Das ist harte programmatische Arbeit: gemeinsam festlegen, welche öffentlichen Einrichtungen brauchen wir, ob Schulen, Mediatheken, Schwimmbäder, Kulturzentren, Nahverkehr, was auch immer, in welcher Qualität und wie müssen die Menschen bezahlt werden, die dort möglichst gute Arbeit leisten sollen. Von diesem Punkt an stellt sich dann die Frage: Wie und wer finanziert das? Das führt zu der Frage: Wie können die Reichen ihrer Gesellschaft nützen? Man könnte für eine Art Leistungsgesellschaft 3.0 werben: Das, was alle brauchen, muss gut gewährleistet werden. Und die Einkommensunterschiede müssen in Grenzen gehalten werden.
Vielleicht kann jemand zehnmal mehr leisten als eine Durchschnittsarbeiterin, aber nicht 50-, 100- oder gar 1000mal so viel. Diese Ungleichheit schadet der Gesellschaft und setzt nur negative Anreize. Und wenn es dann um die Reichen geht, dann muss man nicht nur schimpfen, sondern auch sagen, wie viel Reichtum erträglich wäre. Ich würde mal in die Debatte werfen: Bei 50 Millionen Vermögen pro Person und 500.000 Euro Jahreseinkommen sollte radikal Schluss sein, da greift dann ein Steuersatz von 95%. Mit solchen Vorstellungen einer gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögensordnung sollte linke Politik werben und auf Mehrheitssuche gehen.
Wir brauchen keine BSW
Platt gefragt: wird diese neue Partei eher den Grünen oder eher der AfD Stimmen wegnehmen?
Horst Kahrs: Vermutlich weder noch. Sondern eher der Linkspartei, der SPD, vermutlich auch der CDU. Grüne und AfD sind zwei Antipoden, die im Gegensatz zu anderen Parteien über relativ stabile Stamm-Milieus verfügen.
Ist nicht jede Stimme, welche diese neue Partei der AfD wegnimmt, ein Gewinn für die Demokratie? Ist doch jede Stimme zweifelsfrei bei Wagenknecht besser als bei Björn Höcke aufgehoben?
Horst Kahrs: Nein. Denn das macht die demokratischen Spielregeln, nach denen wir ja eigentlich unsere Interessenkonflikte austragen wollen, nicht notwendig stabiler.
Unter dem Aspekt von Vielfalt und Lebendigkeit: diese Neugründung ist ein Segen für diese parlamentarische Demokratie. Oder?
Horst Kahrs: Den Segen sehe ich nicht. Denn in Deutschland fehlt es doch nicht an einer Partei wie dem BSW. Es fehlt vielmehr eine Partei, die sich ernsthaft und offen diesen Erkenntnissen stellt: Wir, d.h. eigentlich alle wissen, dass Migration nicht aufhören wird, so lange das globale Wohlstandsgefälle fortbesteht. Wir wissen das und wissen keine befriedigende Lösung. Wir haben nur auf der einen Seite ein moralisch einwandfreies „Offene Grenzen“ und auf der anderen Seite „Grenzen dicht“ und zur Not Schusswaffengebrauch. Aber welche Partei traut sich, dieses Dilemma offen als solches anzusprechen und politische Vorschläge zu machen? Mein zweiter Punkt: Wir alle wissen, dass sich das Klima so sehr verändert, dass wir auf Katastrophen zusteuern. Und wir wissen, das ist ein planetares Problem, vor dem niemand wird fliehen können und das wir nur in internationaler Kooperation wenigstens mildern werden können, auf keinen Fall mit einem Rückfall in vermeintlich nationalstaatliche Souveränität. Auch hier gilt: Dem menschlichen Verstand ist das alles klar, aber es bereitet ihm auch wieder Unbehagen, weil es keine offensichtliche und einfache Lösung gibt, weil Umbrüche notwendig erscheinen und die Lust auf politische Abenteuer mit ungewissem Ausgang zugleich gering ist.
Aber keine Partei, abgesehen von den Grünen, die dieses große Unbehagen wenigstens programmatisch versuchten und versuchen durch zu deklinieren, stellt sich dieser Herausforderung und spricht die unangenehme Wahrheit aus. Also: Wir brauchen — so viel zum Stichwort Vielfalt — kein BSW, denn es braucht keine weitere Partei, die ins gleiche Horn stößt wie die meisten anderen, die alle vor unbequemen Wahrheiten zurückscheuen. Es bräuchte eine neue Partei, die sich traut zu sagen, dass wir so wie bisher nicht weitermachen können und die wenigstens eine Skizze davon hat, wie es anders gehen könnte.
Was will die deutsche Linke mehr?
Wenn Sarah Wagenknecht und die ihren weg sind, dann hat die Linkspartei ja viel Ballast über Bord geworfen. Was bleibt übrig: eine Linkspartei der geistigen Einheit und der guten Laune?
Horst Kahrs: Wohl nicht. Wenn es gut läuft, eine Partei, in der im Laufe der kommenden zwei Jahre ein strategisches Zentrum entsteht, welches eine Vorstellung hat, wohin man die nächsten zehn Jahre gehen will, was linke Politik erreichen kann, worauf sie hoffen kann — ein Zentrum also, das deutlich mehr als nur einen Wunschzettel in der Hand hat.
Anders gefragt: Warum werden Dietmar Bartsch, Janine Wissler, Katja Kipping und Bodo Ramelow weiterhin nicht an einem Strang ziehen? Oder Überraschung: Sie machen es doch!
Horst Kahrs: Fallen Ostern und Pfingsten demnächst auf ein und dasselbe Wochenende? Und wenn, dann würden die Vier nicht reichen, dafür ist die Partei zu vielfältig. Da wollen noch mehr mitziehen dürfen.
Es gibt die These: Ideal, was da abläuft. Die Linke ist befreit von dem Ballast Sahra Wagenknecht und mausert sich endlich zu einer links-emanzipativen modernen Großstadt-Partei mit viel Umweltpolitik, EU und internationaler Solidarität. Und Wagenknecht hofiert mit ihrer Partei den herkömmlichen Sozialstaat, nationale Grenzen und die Wählerschaft auf dem Land. Beide Parteien erhalten — wenn sie es nicht völlig blöd anstellen — mehr als fünf Prozent, kooperieren und koalieren im Zweifel, erreichen zusammen immer deutlich mehr als zehn Prozent. Was will die deutsche Linke mehr? Wunschtraum oder mehr?
Horst Kahrs: Das ist immerhin eine politische Idee — ich zögere, vom Wunderglauben zu sprechen —, wie es mit den beiden Parteien politisch produktiv weiter gehen könnte. Dafür müssten die Akteure aber binnen Monaten — Thüringen wählt im September — ihren Trennungsschmerz überwinden. Als sich die WASG von der SPD trennte, dauerte es Jahre, bis wieder normale Gespräche zwischen Linkspartei und SPD möglich waren. Und nun haben sich die gleichen Akteure wieder getrennt. Und wenn wir auf die Großen Fragen schauen: da steht die Linkspartei doch eher auf der postfossilistischen Seite und das BSW im anderen Lager des fossilistischen Klassenkompromisses der vergangenen siebzig Jahre. Schlechte Voraussetzungen für eine Partnerschaft. Da passt das BSW schon eher zur CDU, eine Konstellation, die ja für Sachsen schon mal diskutiert wird.
„Brandt-Regierungen die Verteidigungsausgaben in einer Höhe von vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes lagen“
stimmt NICHT
s.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/183106/umfrage/anteil-der-militaerausgaben-am-bip-in-deutschland/
Horst Kahrs verteidigt vehement seinen (linken/grünen) blinden Fleck!
Nämlich das Ignorieren der massiven Migrations-Probleme. Und um es präziser zu definieren: Das Problem mit wenig gebildeten, die europäische Zivilisation ablehnenden und oft fundamental-islamischen Migranten, die ein Stadtviertel nach dem anderen, eine Schule nach der anderen zum Kippen bringen.
(Die Migranten, die als mögliche Opfer der sehr unklar berichteten Deportationspläne in den Medien vorgestellt werden, sind Menschen, die nicht einmal die AfD aus dem Land drängen oder gar deportieren will, selbst wenn es sie könnte: Da treten in den Tagesthemen zwei Frauen ohne Kopftuch und mit akzentfreiem Deutsch als zukünftige Deportationsopfer und ein Wissenschaftler mit Akademikerdeutsch mit leichtem Akzent auf. Dieser sehr große Teil von Menschen mit Migrationshintergrund hat vor allem die gleichen Probleme mit den oben beschriebenen Problem-Migranten und fast nie mit „Urdeutschen“. )
Der Erfolg der AfD besteht zu 80% in der nicht überzeugenden Reaktion der anderen Parteien auf das Problem der unkontrollierten Migration. Deswegen wählen immer mehr Menschen die AfD eher TROTZ als wegen ihrer reaktionären und neoliberalen Programmelemente. Und darum hat die Wagenknecht-Partei ein Riesenpotential – das nur durch handwerkliche Probleme und den abstoßenden monarchischen Charakter begrenzt wird.