Die Linke in Not – setzt auf Wut statt auf Debatte

Die neu gewählten Parteivorsitzenden (Screenshot: Website Die Linke)

Die Ampel hat sich abgeschaltet, jetzt steht ein Wahlkampf ins Haus, bei dem es nach den Worten des Sozialwissenschaftlers Horst Kahrs für Die Linke darum geht, überhaupt eine Rolle zu spielen. Im Interview mit Wolfgang Storz lautet seine Zustandsbeschreibung: „Ich sehe eine Partei, die sich darauf konzentriert, bei der Bundestagswahl um ihr politisches Überleben zu kämpfen. Die deshalb den seit Jahren überfälligen längerfristigen Erneuerungsprozess noch einmal hinausschiebt. Eine Partei, die sich, aus existentieller Not heraus, auf außerparlamentarische Bewegungen fokussiert, auf gesellschaftliche Opposition und sich noch weiter vom Anspruch einer sozialistischen Gestaltungspartei entfernt.“ Als er diese Diagnose stellt, hat Kahrs diesen Wahlslogan der Partei Die Linke noch gar nicht kennen können: „In diesem Wahlkampf geht es um eines: wir hier unten gegen die da oben„.

Wolfgang Storz: Es scheint die Partei Die Linke löst sich nicht auf, sondern macht unverdrossen weiter. Was spricht dafür, dass Jan van Aken und Ines Schwerdtner, die im Oktober auf dem Parteitag in Halle neugewählten Vorsitzenden, länger im Amt sind als die Vorsitzenden Janine Wissler, Martin Schirdewan, Susanne Hennig-Wellsow aus den vergangenen zwei, drei Jahren?

Horst Kahrs: Die nächsten Bundestagswahlen stehen vor der Tür. Deren Ausgang bestimmt die Antwort auf Ihre Frage. Schafft die Linke die Sperrklausel, haben van Aken und Schwerdtner Rückenwind. Scheitert die Partei, ist vieles möglich. Jedenfalls konzentrieren sich die beiden nach eigenem öffentlichen Bekunden in ihrer Arbeit ausschließlich auf den Wahltag, der allerdings nun nicht mehr erst der 28. September 2025 ist. Alles andere, die Klärung bedeutender inhaltlicher, strategischer Fragen, wurde wieder vertagt, auf 2026 und noch später. Es geht also ihnen und den vielen, die sie gewählt haben, vor allem darum, dem Image der ‚zerstrittenen Partei‘ ein Bild der Geschlossenheit entgegenzusetzen. Dem wird alles andere untergeordnet. Vor allem heißt das: Die klärenden Debatten zu innerparteilich umstrittenen wichtigen Fragen, die schon seit Jahren auf die Tagesordnung drängen, werden erneut verdrängt. Ob das gelingt, kann heute keiner sagen. Wir leben ja in sehr schnelllebigen Zeiten… .

Jan van Aken sagt, Deutschland brauche keine Milliardäre. Es scheint, die neuen Vorsitzenden wollen den Über-Reichen ans Leder. Jedoch: Bisher scheiterten alle, auch Grüne und SPD, bei dem Versuch, aus dem maßlosen privaten Reichtum ein Treiber- und Erfolgs-Thema zu machen. Warum setzen die neuen Vorsitzenden auf dieses `tote Pferd`?

Kahrs: Ob das Pferd schon tot ist oder nur reichlich untrainiert im Stall steht, wird sich erweisen. Die Vorsitzenden und die Parteitagsdelegierten haben so entschieden: Soziale Fragen der Verteilungspolitik sollen als das Kernanliegen der Partei im kommenden Bundestags-Wahlkampf kommuniziert werden. Die Linke geht in ihrer großen Mehrheit davon aus, dass dieses Thema die Partei eint. Und dass zugleich der Partei auf diesem Feld der umkämpften ‚sozialen Gerechtigkeit‘ noch Kompetenzen zugewiesen werden.

Ist das so?

Kahrs: Zumindest ist die Vermutung begründet, dass es in den Teilen der Bevölkerung, die weniger als der Durchschnitt verdienen und deren finanziellen Verhältnisse sehr beengt sind, eine große Zahl enttäuschter, wütender, zorniger Menschen gibt, die zuletzt nicht wählen gegangen sind. Die aber eine Partei wählen würden, die fordert, was sie sich wünschen.

Parteienkonkurrenz um Wutbewirtschaftung

Aber fordert das Die Linke nicht schon seit ihrer Gründung … .

Kahrs: Deshalb muss diese Orientierung ja nicht gleich schlecht sein. Aber ich sehe auch einige Probleme, die mit dem Thema ‚soziale Ungleichheit‘ verbunden sind. Erstens ist das alles andere als ein Aufreger-Thema. Soziale Ungleichheit wird allenthalben beklagt, sogar von der OECD, ob beim Einkommen oder im Bildungswesen. Es gibt seit Jahren buchstäblich niemanden, der widerspricht. Es sagt doch niemand: Soziale Ungleichheit, klar, geht in Ordnung, besser noch: mehr davon. Allenfalls die FDP setzt sich manchmal dem Verdacht aus, dass sie das so schlimm nicht findet. Das heißt: Wenn die Linken die soziale Ungleichheit seit ihrer Gründung im Jahr 2007 beklagen, dann befinden sie sich mit allen ihren politischen Konkurrenten in einem Chor. Und obwohl seit Jahren alle darüber klagen, stellt die Bevölkerung fest: Real ändert sich nichts. Die Mieten bleiben nicht nur hoch, oft steigen sie noch. Auch die Ungleichheit im Bildungssystem bleibt. Da fragt sich doch jeder und jede: Warum sollte sich gerade jetzt mit dieser Linkspartei und ihrer neugewählten Führung daran etwas ändern? Auf diese Frage hat die Partei noch keine Antwort.

Dann ist die Absicht der neuen Parteiführung, sich nicht nur mit dem Thema der sozialen Ungleichheit zu beschäftigen, sondern sich gleich frontal mit den unmäßig Überreichen anzulegen, doch eher provokant und ziemlich intelligent — oder nicht?

Kahrs: Lassen Sie mich zuvor, bevor ich mich mit dem Reichtum-Thema beschäftige, noch mein zweites Bedenken zu dieser Grundentscheidung anmelden. Wenn sich die Partei Die Linke auf das Thema Ungleichheit konzentriert, dann begibt sie sich zwangsläufig, ob sie will oder nicht, in direkte Konkurrenz zum Bündnis Wagenknecht und zur AfD. Denn die beiden Parteien bewirtschaften politisch die gleichen Gefühlslagen. Jedoch sind diese beiden Parteien in der Wut-Bewirtschaftung weit erfolgreicher.

Die jetzt nominierten Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl:
Heidi Reichinnek und Jan van Aken (Screenshot: Die Linke auf X)

Wie würden Sie denn dieses Thema des maßlosen privaten Reichtums kommunizieren, dass es zu einem links-emanzipativen Erfolgsthema wird? Immerhin sind die Fakten wutgerecht: Die obersten zehn Prozent besitzen knapp 68 Prozent des Netto-Gesamtvermögens in Deutschland. Tendenz steigend.

Kahrs: Wenn ich ein Erfolgsrezept hätte, ja dann … . Ich weiß nur, dass mindestens zwei Aspekte als grundlegend beachtet werden müssen. Erstens versteht sich die deutsche Gesellschaft weitgehend als Leistungsgesellschaft. Das heißt: Wer an sozialer Ungleichheit etwas ändern will, der muss zuvor über Maßstäbe reden und selbst einen Maßstab haben. Konkret heißt das, er muss zu diesen naheliegenden Fragen etwas sagen können: Gibt es auch legitime Ungleichheit? Wie viel kann ein Mensch mehr leisten als ein anderer? Welche Verdienstunterschiede sind angemessen: das Zehn- oder gar das Fünfzehnfache? Und wie sollen diese unterschiedlichen Verdienste besteuert werden?

Ungleichheit und sozialökologische Transformation verknüpfen

Aus Ihren vielen Fragen wird jedoch keine polarisierende Kampagne, sondern ein Seminarthema. Was soll das einer politischen Partei bringen, sich so viele Gedanken zu machen?

Kahrs: Ich denke im Gegensatz zu Ihnen, genau in meinen Fragen liegt die Antwort, warum die bisherigen Reichtums-Besteuerungs-Kampagnen so kläglich gescheitert sind. Es reicht eben nicht, nur pauschal Ungleichheit an- und Gerechtigkeit einzuklagen. Will eine Partei dies seriös und überzeugend tun, dann muss sie schon sagen können: Bis hierhin ist Ungleichheit angemessen, beispielsweise aufgrund einer anerkannt höheren Leistung, die ein Manager oder eine Pflegerin oder ein Schulleiter bewerkstelligt. Und die Partei muss Grenzen ziehen und sagen: Aber dieses Gehalt wiederum ist unangemessen. Ich denke, eine solche differenzierte Position ist nicht nur glaubwürdiger. Ich kann so die anderen Parteien, die an das Thema des Privat-Reichtums ja gar nicht heran wollen, zu einer Debatte über Maßstäbe zwingen. Die müssen widersprechen und eigene Maßstäbe vorlegen. So ernte ich wiederum Aufmerksamkeit. Ich habe damit ein Thema gesetzt, das nicht mehr so einfach von der Tagesordnung weggebürstet werden kann. Und Aufmerksamkeit ist nicht nur im Wahlkampf die entscheidende Währung.

Kann eine Partei, die halbwegs aufgeklärt und links sein will, in Zeiten der Klimakatastrophe sich überhaupt noch auf das Thema Reichtum und Ungleichheit konzentrieren. Das geht doch nicht.

Kahrs: Das geht sehr gut, Die Linke muss nur die beiden Themen verknüpfen: soziale Ungleichheit und sozialökologische Transformation, also vom ‚Fossilismus‘ hin zum ‚Solarismus‘. Denn es besteht sogar eine doppelte Verbindung: Besonders die Wohlhabenden und Reichen verursachen überdurchschnittlich hohe Umweltschäden, haben aber genügend eigene Ressourcen, um allfällige Transformations-Kosten zu tragen, beispielsweise höhere Energiekosten. Die einkommensärmeren Teile der Bevölkerung wiederum schaden dem Klima prozentual weitaus weniger, sind jedoch von den Folgen, beispielsweise allein aufgrund ihrer Wohn- und Arbeitsverhältnisse, wie Hitze und Wetterkatastrophen weitaus stärker betroffen. Und zudem haben sie viel weniger Ressourcen, um ihre Lebensweise umzustellen. Alles zusammen gezählt: Diese Schichten geraten unter einen besonders hohen Transformations- und Veränderungsdruck. Mit anderen Worten: Der Zusammenhang von Ungleichheit und Gerechtigkeit einerseits und der sozialökologischen Neugestaltung andererseits, der ist mit Händen zu greifen. Mit dieser Verbindung lässt sich meines Erachtens deshalb recht leicht eine Grundsatzdebatte entzünden: Was braucht ein Mensch zu einem guten und würdigen Leben in unserer Gesellschaft, was ist genug? Und was ist definitiv zu viel für einen? Der perfekte Streit über maßlosen Reichtum und dessen angemessene Besteuerung. Unter anderem mit dem Ergebnis: Unsere Gesellschaft kann sich keine Milliardäre leisten — da hat Jan van Aken ja völlig recht.

Der Bundesparteitag ist vorbei, wieder einmal ein neuer Vorstand gewählt, die wiederholten Beteuerungen: Lasst uns neu aufbrechen, noch einmal neu anfangen, die sind verklungen. Was ist momentan von der Partei Die Linke noch übrig?

Horst Kahrs: Ein paar zigzehntausend Mitglieder, viele Neueintritte junger Leute, Abgeordnete in Bund und Ländern, hunderte Kommunalparlamentarier, zwei Regierungsbeteiligungen in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, ein Parteiapparat, eine parteinahe Stiftung. Also Organisations-Ressourcen und Zugänge zu Medien, zu politischer Aufmerksamkeit. Das ist ja erst einmal nicht nichts, damit ist einiges anzufangen.

Dekarbonisierung, Digitalisierung, Migration

Und was fängt die um Wagenknecht geschrumpfte Partei mit diesen Ressourcen an?

Kahrs: Ich sehe eine Partei, die sich darauf konzentriert, bei der nächsten Bundestagswahl um ihr politisches Überleben zu kämpfen. Die deshalb den seit Jahren überfälligen längerfristigen Erneuerungsprozess noch einmal hinausschiebt. Eine Partei, die sich, aus existentieller Not heraus, auf außerparlamentarische Bewegungen fokussiert, auf gesellschaftliche Opposition und sich noch weiter vom Anspruch einer sozialistischen Gestaltungspartei entfernt.

Woran machen Sie das fest?

Kahrs: Die Partei sieht sich im Wettbewerb mit Bündnis Wagenknecht und der AfD, die dem Bedürfnis in der Wahlbevölkerung nach Zugehörigkeit wahlweise das ‚Volk‘ oder die ‚Nation‘ anbieten. Die Linke greift weit zurück und will in diesem Wettbewerb punkten, indem sie heute, im Jahr 2024, die Zugehörigkeit zur ‚Klasse‘ anbietet. Ob das weit trägt … . Der dazugehörige ‚Klassenkampf‘ war ja immer dann eine mit Erfolgen verbundene Orientierung, wenn sich die Zugehörigkeit nicht auf die gemeinsame beschissene Lage beschränkte. Sondern wenn sie sich mit einem Zukunftsprojekt verbinden ließ, eben mit Zuversicht, Hoffnungen auf ein besseres, angesehenes und ansehnliches Leben. Aber dazu bräuchte man wieder eine sozialistische Gestaltungspartei, siehe oben.

Bundesparteitag Die Linke, 2022. Punktuell modifizierter Eindruck vom Sitzungssaal (Foto: Steffen Prößdorf auf wikimedia commons)

Nach der Trennung von Sahra Wagenknecht und ihrer Anhängerschaft — von welchem Ballast hat sich Die Linke damit denn befreit? Und was fehlt ihr immer noch, um endlich befreit aufspielen zu können?

Kahrs: Es war ja nie so, dass eine geeinte Parteimehrheit gegen die Positionen der Wagenknechtianer stand. Es gab immer nur eine Negativ-Mehrheit, sehr heterogen und nie eins im Positiven. Was der Partei fehlt, nach der Abspaltung? Es fehlt aus meiner persönlichen Sicht der Mut und unbedingte Wille, in die Gesellschaft hinein eine offene und damit auch riskante Debatte darüber zu führen, was linke Politik im planetaren Paradigma ausmacht. Eine Debatte, die sich um diese Stichworte dreht: planetare Grenzen für Rohstoffe und Ressourcen, für die Nutzung von Luft und Wasser, die Erde als kostenlose Müllhalde. Wir wissen nicht nur, sondern wir erfahren zunehmend alltäglich, ein weiteres Wachstum nach dem Muster der letzten siebzig Jahre gefährdet unseren sozialen und individuellen Wohlstand. Es geht um die Themen Dekarbonisierung, Digitalisierung und Migration. Das sind die dynamischen Themen der nächsten Dekaden. Keines macht an der Staatsgrenze halt. Mit einer rein nationalen Politik ist also nicht viel gewonnen.

Aber das ist doch kein Thema für die Linke. Die kümmert sich doch nur um soziale Gerechtigkeit. Egal was sonst noch passiert.

Kahrs: Wenn dieser Eindruck so bleibt — und in der Politik ist die Wahrnehmung ja mindestens die halbe Miete — dann wäre es um die Linke tatsächlich sehr schlecht bestellt.

Ein paar Pflöcke für linke Politik

Statt einer langwierigen Programmdebatte rate ich: Die Linke löst sich am besten auf und verteilt sich. Bartsch, Gysi und Ramelow gehen zur SPD, Sie und Katja Kipping zu den Grünen. Und jedes Jahr machen Sie ein gemütliches Veteranentreffen. Oder?

Kahrs: Gegenthese: Wir erleben in Deutschland gerade eine nachholende Transformation des Parteiensystems — nachholend mit Blick auf andere europäische Länder, die da schon viel weiter sind. Die Parteiformationen ordnen sich neu, auch die linken Formationen betrifft das in aller Schärfe. Die zentrale Frage, vor der alle fortschrittlichen, aber am Ende auch die wahrhaft konservativen Kräfte stehen, wird diese Frage sein: Was macht linke, fortschrittliche, was macht konservative Politik unter dem planetaren Paradigma aus? Diese Frage ist bisher weder von linken noch von konservativen Parteien im notwendigen und auch nicht im hinreichenden Maße beantwortet.

Aber so blank steht die gesellschaftliche Linke nun auch wieder nicht da.

Kahrs: Ja, es gibt für linke Politik ein paar Pflöcke: Gleichheit, Freiheit, Demokratie, Fürsorge oder Empathie und Menschenfreundlichkeit, auch Internationalismus und Gewaltverzicht. Aber unverändert ist unbeantwortet: Wie kann eine nachhaltige gesellschaftliche Reproduktion gelingen, also die anhaltende Sicherung der Bedingungen eines guten Lebens für alle, zudem im globalen Maßstab? Ist das in Anbetracht der sich nach und nach real ereignenden Klimakatastrophe überhaupt noch vorstellbar? Um diese Frage zu beantworten, braucht es gesellschaftliche Debatten weit über Parteigrenzen hinaus. Es geht also nicht um Auflösung oder Neugründung von Parteien. Es geht um eine radikale Offenheit der heute existierenden Parteien gegenüber diesen oben skizzierten neuen Verhältnissen. Linke, egal wo sie heute organisiert sind, müssten ohne Rücksicht auf ihre jeweiligen Organisations-Loyalitäten bereit sein, sich zu verändern und eine Debatte über diese ganz andere Politik zu führen. Konkret: Die Partei Die Linke fände ihre zeitgemäße Aufgabe, würde sie diese Debatte, ohne Rücksicht auf anstehende Wahlen, anstoßen und eröffnen.

Herr Kahrs, was müsste die Führung der Linken konkret tun, um eine solche Debatte gegenüber der Gesellschaft und den anderen Parteien zu eröffnen?

Kahrs: Ist es seit dem Aus der Regierungskoalition nicht müßig, diese Frage beantworten zu wollen? Gelegenheiten wurden in den vergangenen fünf Jahren liegen gelassen. Nun steht uns ein Wahlkampf ins Haus, bei dem es für die Linke darum geht, überhaupt eine Rolle zu spielen. Für die Eröffnung von Debatten ist es nun zu spät, in Wahlkämpfen geht es doch darum zu ernten, was vorher gesät wurde.

Wir haben Ihnen, Herr Kahrs, im Dezember 2022 diese Frage gestellt: Wie muss sich heute eine erfolgreiche linke Partei positionieren? Darauf antworteten Sie damals, indem Sie den Glutkern sozialistischer Politik aus Ihrer Sicht beschrieben und „vier Eckpfeiler einer erfolgreichen sozialistischen Partei“ skizzierten:

  • Kahrs: Erstens: Nicht die Reichen und die großen Konzerne machen den Kapitalismus aus. Sondern das Kapital ist, da folge ich Karl Marx, ein gesellschaftliches Verhältnis, zu dessen Reproduktion alle Beteiligten beitragen, also auch die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Arbeiterklasse, die Lohnarbeit. Denn im Kapitalismus ist der Lohn auch Konsumnachfrage und Binnennachfrage. Das heißt konkret: Im Kapitalismus werden beständig Begierden geweckt, über die Bedürfnisse hinaus. Und nur die Befriedigung dieser Begierden hält diesen kapitalistischen Laden am Laufen. Marxens Hoffnung, die er wissenschaftlich zu fundieren trachtete, bestand ja darin, dass die Arbeiterklasse die Klasse sein möge, die sich befreit und damit die gesamte Menschheit. Er hoffte also, sie sei fähig, gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, in und mit denen die Menschen über die Produktion und Reproduktion, über das gute gemeinsame Leben selbst entscheiden. Und sich nicht von verselbständigten Konkurrenzverhältnissen beherrschen lassen. So in etwa lässt sich meines Erachtens der ‚Glutkern‘ sozialistischer Politik beschreiben.
  • Zweitens. Diese ‚Arbeiterklasse‘ ist schon lange nicht mehr Trägerin solcher emanzipatorischer Hoffnungen und Zuversicht. Denn spätestens seit 50 Jahren, seit dem ersten Bericht an den „Club of Rome“, wird auch in linken Kreisen diskutiert: wie kann aus sozialistischer Sicht die soziale mit der ökologischen Frage verbunden werden. Da gibt es auf Seite der Linken immer noch einen enormen Nachholbedarf.
  • Drittens. Bio-physikalische Prozesse — Klima und Artenvielfalt — bedrohen existentiell die materiellen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Seit etwa zehn Jahren ist unübersehbar, wie zerstörerisch Katastrophen wie Extremwetter, Dürren, Wassermangel auf die sozialen und politischen Verhältnisse einwirken. Eine Politik, die diese Welt schützt, muss unter den gegebenen sozialen Verhältnissen einer Klassengesellschaft erfolgreich sein. Linke Politik müsste also vor allem klären, nur als ein kleines Beispiel, wie auch die ärmeren Teile der Bevölkerung nachhaltig leben können. Und vor allem diese Teile der Bevölkerung bräuchten eine öffentliche krisenresiliente Infrastruktur, damit sie genauso wie die Wohlhabenden vor den anstehenden Katastrophen geschützt sind.
  • Viertens. Ein zentrales Gut einer demokratischen Gesellschaft, um Krisen erfolgreich zu bewältigen, ist Gleichheit, auch die wechselseitige erfahrbare Anerkennung als Gleiche bei allen individuellen Unterschieden. Ab einem gewissen Maß an Ungleichheit geht dieser Zusammenhalt verloren. Dieses Maß an legitimer Ungleichheit ist in den letzten vier Jahrzehnten mehr und mehr überschritten worden. Wie viel mehr leistet ein Fonds-Manager als eine Krankenschwester — zumal für die Gesellschaft? In diesem Sinne ginge es um deutlich mehr Gleichheit.

Wollen, müssen Sie an Ihrer Antwort aus dem Dezember 2022 etwas korrigieren, etwas hinzufügen?

Kahrs: Ja, zwei Punkte will ich hinzufügen beziehungsweise anders gewichten. Linke müssen sich aktiver als bisher um eine streitbare öffentliche Debattenkultur bemühen. Ohne sie stirbt liberale Demokratie. Und liberal heißt hier: die Rechte der einzelnen Bürgerin, des Individuums ernst nehmend und schützend. Ohne demokratische Mehrheiten werden wir keine bessere Zukunft hinbekommen. Und zweitens müssen wir viel entschiedener die Lehren aus der deutschen Geschichte verteidigen und weitergeben. Beispiel: Wir dürfen uns als Linke nicht hinter dem ‚Existenzrecht Israels‘ verstecken und schweigen, wenn auch aus unserem eigenen Umfeld dazu beigetragen wird, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst haben, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das ist die erste ‚Staatsraison‘: Nie wieder soll das so sein.

Dann bitten wir Sie Ende 2024 noch um diesen Dienst: Könnten Sie — in Zeiten der nach Kürze gierenden un-sozialen Medien — Ihre vier Eckpfeiler so markant lassen und zugleich etwas eindampfen?

Kahrs: Was macht ein ‚gutes Leben‘ aus? Welche soziale Infrastrukturen werden dafür gebraucht? Und wie werden die Ressourcen — Investitionen, Arbeitskräfte — dafür organisiert und finanziert? Und das muss zudem internationalistisch gedacht werden. Das heißt: Unser ‚gutes Leben‘ darf keine Ansprüche stellen, die angesichts begrenzter planetarer Ressourcen nicht für alle denkbar sind. Darüber ist zu reden: in dieser Gesellschaft und in und zwischen den Parteien. Übrigens mit dem Willen, dass die sozialökologische Umgestaltung gelingt, dass mit ihr vieles besser wird. Nicht darüber, was alles nicht geht. Das haben wir jetzt schon jahrelang absolviert. Ich stelle mir ein öffentliches Gespräch, eine entsprechende Debattenkultur und konkrete, lokal greifbare Veränderungen vor, an denen sich jede und jeder beteiligen kann, vor allem die direkt von Maßnahmen Betroffenen.

Und: Passt der neue Vorstand, passen die neuen Vorsitzenden und die von Wagenknecht befreite Partei zu Ihren Antworten und vorgeschlagenen Vorhaben?

Kahrs: Ach, streichen Sie doch einfach diese Frage.

Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Von 1995 bis 2021 hat er in verschiedenen Funktionen für die PDS, DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog »linksdings – Der Schlüssel steckt von innen« https://linksdings.ghost.io/
Siehe auf Bruchstücke auch seine Interviews Die Parteienlandschaft von morgen – unbekanntes Land sowie „Es ist zu spät für ein Verbot der AfD“.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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