Europa unter Druck, Deutschland ohne Kompass am Scheideweg

© Federal Election Commission/Christof Leisinger auf infosperber

Es ist dies ein Tag, der Gänsehaut macht, der einen schaudern und schauern lässt – weil man mit diesem Mann nicht in einem Bündnis sein will, weil man nicht glauben möchte, dass so einer ein Anführer einer Welt sein kann, die man früher „die freie Welt“ nannte.
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Die heiße Wahlkampfphase hat begonnen. Alle Parteien haben ihre Wahlprogramme beschlossen, ihre Positionen konkretisiert und zugespitzt, ihre Spitzen- oder Kanzlerkandidaten:innen nominiert. Die Zeit für den Wahlkampf ist kurz, aber gerahmt von internationalen Ereignissen, die seinen Verlauf und sein Ergebnis entscheidend beeinflussen können. In der Nacht zum 24. Februar werden Sieger und Verlierer feststehen, aber keine neue Regierung. Einige Skizzen des Denk- und Machbaren angesichts der sichtbaren blau-braunen Überholmanöver.

Donald Trump, der am 20. Januar sein Präsidentenamt antritt, und Elon Musk an seiner Seite setzen schon jetzt alles daran, die ökonomische und politische Macht Europas zu unterminieren. Neben die gewohnte Verbindung von aggressiver politischer Macht und finanzieller Oligarchie im Osten Europas tritt erstmals nach 1945 im Westen eine Politik disruptiver Revolution mit territorial expansiven Ansprüchen und gezielter Stärkung der Feinde der liberalen Demokratie. In den USA selbst sollen staatliche Institutionen zerstört werden, soweit sie nicht zahlungskräftige Kunden des großen Geldes sind, damit die plutokratische Elite, in der so geschaffenen „Freiheit“ schrankenlos ihrer Gier nach Gewinn und Macht frönen kann. Nach außen wird ein wirtschaftlich und territorial expansiver Kurs angekündigt, der Recht und Gesetz missachtet. Es ist Olaf Scholz hoch anzurechnen, die Ankündigungen Trumps in Analogie zum Vorgehen Putins gegen die Ukraine gesetzt und mit allem Nachdruck als möglichen Bruch des Völkerrechts und aller internationalen Übereinkünfte verurteilt zu haben.

„Die mächtigsten Menschen in Washington sind Lobbyisten und Interessengruppen, deren Geld die meisten Wahlen finanziert und mit dem sie sich Einfluss erkaufen. Damit muss Schluss sein.“ (Donald Trump, Great Again! Plassenverlag 2016, S. 193)
(Quelle: commoncause)

Die dystopische Revolution, die sich in den USA Bahn zu brechen scheint, fußt nicht auf traditionellen Industrie- und Energie-, Bank und Finanzmagnaten, denen es um Exportüberschüsse und Außenhandelsbilanzen mit Autos und Maschinen, mit Chemieprodukten und Finanzdienstleistungen, mit Öl und Gas geht. Sie wird mitgetragen von den aktuell mächtigsten und reichsten Tech- und Kommunikationsmilliardären, die zur Weltherrschaft über Kommunikation ansetzen, im Namen eines libertären Freiheitsverständnisses, das Gleichheit und Gerechtigkeit, alle Grundwerte der liberalen Demokratie mit Füßen tritt. Die Entfesselung der digitalen Netzwerke von Regeln, die dem Täuschen, Lügen und Betrügen Schranken setzen, hat bei Twitter/X mit Elon Musk begonnen und setzt sich jetzt fort mit Mark Zuckerburgs bedingungsloser Hinwendung zu Trump und der Abschaffung aller Faktenchecks und Kontrollregeln bei Facebook und Instagram.

Die sozialen Netzwerke drohen vollends zum ungeregelten Tummelplatz von Hass und Hetze, von Verschwörung und Verunglimpfung zu werden. Die Shitstorms gegen einzelne Personen und die kommunikativen Gräben zwischen denen, die in ihrer jeweiligen „Bubble“ in den sozialen Netzwerken bestärkt werden, werden weiterwachsen. Die EU ist all dem nicht hilflos ausgeliefert. Sie hat als Lebens- und Wirtschaftsraum von ca. 450 Millionen Menschen immer noch die politische, wirtschaftliche und technische Macht diesen Wahnsinn einzugrenzen und mit eigenständigen Alternativen gegenzuhalten. Dazu ist der entsprechende politische Wille notwendig.

Einen Tag nach der Bundestagswahl jährt sich der Beginn der heißen Phase des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und damit auf die Sicherheits- und Freiheitsordnung in Europa zum dritten Mal. Olaf Scholz und Robert Habeck haben in den letzten Tagen erneut herausgestellt, dass der Ausgang dieses Krieges über die Sicherheits- und Friedensordnung Europas während der nächsten Jahrzehnte entscheidet. Endet er, z.B. durch das Eingreifen Trumps, mit einer Lösung, die als Niederlage der Ukraine verstanden wird, so können Trump und die USA damit leben, Europa mit seiner auf Werte, Menschenrechte und liberale Demokratie ausgerichtete Politik, wäre nachhaltig beschädigt. Jede Lösung, die den Anschein eines Diktatfriedens hat, die die jetzige politische Elite der Ukraine zerstört und die Mehrheit der Bevölkerung verstört, verheißt für Trump in den USA Erfolg, bedeutet aber eine kaum vorstellbar bittere und nachhaltig Niederlage für Europa und besonders auch für Deutschland.

Nicht ohne Auswirkungen auf den Wahlkampf ist schließlich die Tragödie, die sich im Nachbarland Österreich abspielt. Diese Kennzeichnung mag übertrieben scheinen. Aber wie anders soll man die Hilf- und Orientierungslosigkeit der SPÖ und die Bereitschaft der Mitte-Rechtspartei ÖVP, sich einer Partei mit starken nationalsozialistischen Wurzeln und einer rechtsextremen-populistischen Gegenwart auszuliefern, bewerten?

Demonstration gegen eine FPÖ-Regierung | Wien, 09. Januar 2025
(Foto: C.Stadler/Bwag auf wikimedia commons)

Bezüge zu Österreich sind, gerade wenn es um Rechtsextremismus und Neonazis geht, historisch belastet. Es sollte aber nicht aus dem Gedächtnis verschwinden, dass 1925 die NSDAP nach dem Verbot neu und die „Schutzstaffel“ SS erstmals gegründet wurden. Denn nach 100 Jahren haben wir wieder ein politisches Klima, in dem eine gewalttätige Sprache immer öfter in Gewalt-Taten umschlägt. Das österreichische Drama veranlasst nachzudenken: Zum einen, demokratische Parteien in einem politischen Spektrum rechts und links der Mitte, das nicht so weit gefächert ist, sind nicht in der Lage einen Kompromiss zu finden für eine gemeinsame Politik, die den Rechtspopulisten den Weg in die Regierung verwehrt und ihnen den Boden für weiteres Wachstum entzieht. Zum anderen wird ein zentrales Wahlversprechen der ÖVP, nicht mit der FPÖ und Kickl zu koalisieren, aus Opportunitätsgründen von einer Minute auf die andere über den Haufen geworfen. Exekutiert wird dieser Wortbruch gerade von Christian Stocker, genau der Person, die als ÖVP-Generalsekretär den Wortbruch zugunsten Kickls und dessen FPÖ vehement ausgeschlossen hatte. Zum dritten verschieben sich die Gewichte in Europa weiter zu EU-Feindlichkeit, Asyl- und Migrationsabwehr und Russlandnähe. Ein weiteres Land der EU hat einen Regierungschef, der die Abwehrkraft Europas gegen die Zerstörung der liberalen Demokratie gezielt schwächt.

Fehlende Mehrheiten

Wie immer Vorgänge außerhalb Deutschlands sich auswirken, Wahlprogramme ankommen und Wähler:innen mobilisiert werden, nichts spricht für eine leichte Regierungsbildung. Sieger und Verlierer werden sich in der Nacht zum 24. Februar sortieren, aber wer wird regieren?

 Klarer Verhältnisse wegen hoffen nicht nur die FDP, sondern vermutlich ein großer Teil Unternehmen, der Freiberufler und auf Selbständigen außerhalb des Kulturbereichs auf eine Unions-FDP-Koalition. Die wird es nicht geben, weil die Unionsparteien um jede Stimme kämpfen, um selbst nicht abzusacken, die FDP also nicht von geschenkten Zweitstimmen profitieren, aber auch nicht aus eigener Kraft genug Zustimmung gewinnen wird. Selbst wenn die FDP die Fünfprozent-Klausel überwindet, mehr als 40% werden beide Parteien zusammen nicht erreichen.

Auch eine Regierungsmehrheit von rot-grün dürfte faktisch ausgeschlossen sein, ebenso wie eine neue Ampelkoalition, allein aufgrund fehlender Mehrheiten.

Eine rot-schwarze Koalition unter Olaf Scholz ist extrem unwahrscheinlich, weil die Unionsparteien nicht alle Fehler von 2021 wiederholen werden, auch wenn ihre Lernfähigkeit offensichtlich weit geringer ist, als man annehmen konnte. Und die in der Bevölkerung tiefsitzende Unbeliebtheit eines kommunikationsfeindlichen und führungsschwach scheinenden Kanzlers wird nicht in wenigen Wochen hinweggefegt werden.

Also bleiben Unionsparteien, SPD, Grüne und BSW als untereinander koalitionsfähige Parteien. Auf der einen Seite müssen sie – siehe Beispiel Österreich – alles daransetzen, sich untereinander, in welcher Koalition auch immer, zu verständigen, um eine Regierungsbeteiligung der AfD abzuwehren. Auf der anderen Seite müssen sie zu politischen Inhalten und Formen des Regierens finden, die der AfD sowie der Demokratie- und Politikverdrossenheit die gesellschaftliche Grundlage entziehen. Das ist der weitaus schwierigere Teil auf dem Weg zu einer neuen Regierungskoalition. Und daran könnten letztlich alle Koalitionsvorhaben scheitern.

Das BSW allein wird, falls es die Fünfprozent-Grenze überwindet, als Koalitionspartner keineswegs ausreichen, abgesehen von den fundamentalen Differenzen bei der Haltung zum Ukrainekrieg, zu Russland, Europa und der NATO. Was auf Länderebene noch mit Formelkompromissen übertüncht werden konnte, ist auf Bundesebene unüberwindbar.

Bis zum 23. Februar gibt es auf Bruchstücke einen Wühltisch zur Wahl
mit Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Hoffnungen, Prognosen.

Bisher erschienen:
(1) Gute Zeichen, schlechte Zeichen: Das Tarifergebnis bei VW, der Wahlkampf und die Parteiprogramme
(2) Seltsame politische Blüten entfalten sich da
(3) America first und Germany first mögen sich
(4) Politik ist (k)ein Spiel

Koch und Kellner

Die Grünen und die SPD können es sich noch am ehesten leisten, künftig eine Oppositionsrolle einzunehmen. Aber eine der beiden Partien oder sogar beide werden die Unionsparteien zu einer Koalition brauchen, wenn die AfD ausgeschlossen bleiben soll. Bei beiden wird es auf dem Hintergrund innerer existenzgefährdender Zerreißproben darum gehen, so viel wie möglich eigene Programmpunkte durchzusetzen. Die Reform der Schuldenbremse wäre dann noch die leichteste Kompromiss-Übung. Beide Parteien könnten es nicht hinnehmen, wenn das Bürgergeld abgeschafft, die Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft zurückgenommen, die Cannabis-Legalisierung wieder aufgehoben und der Abschiebungs- und Abschottungskurs der Union in der Migrationspolitik rigoros durchgesetzt würden.

In dieser Konstellation können die Kräfte in den Unionsparteien an Oberhand gewinnen, die anstelle schwierigster Koalitionsverhandlungen mit SPD und/oder Grünen die einfachste Lösung in einer Koalition mit der AfD sehen. In Ostdeutschland ist die Brandmauer der CDU gegenüber der AfD vielerorts zum Lattenzaun geworden. Auf Bundesebene gibt es CDU-Politiker, die mit dem Team Trump in Berlin die eigene Wahlkampfstrategie beraten haben und den Trump-Republikanern sehr nahestehen. Andreas Rödder, der 2023 die Brandmauer-Idee für falsch und eine von der AfD geduldete CDU-Regierung für akzeptabel hielt, hat nicht nur 2023/2024 wesentliche Teile des neuen Grundsatzprogramms vorformuliert, sondern ist mit seiner Denkfabrik R 21 immer noch in CDU-Kreisen äußerst umtriebig und einflussreich. Und schließlich haben die Spitzen des Springer-Verlags seit Jahrzehnten maßgeblichen Einfluss auf die Unionsparteien. Der Wahlaufruf für die AfD von Elon Musk in „Die Welt“ ist kein Zufallsprodukt. Auch wenn er nicht von Mathias Döpfner selbst eingefädelt worden sein sollte, wurde er sicher von ihm gebilligt. Geschäftliche und politische Interessen mögen sich hier überschneiden. Hier kommt auch zum Ausdruck, dass in den Eliten in Wirtschaft und Wissenschaft, in Medien und Verwaltung viele an einer politischen Führung Interesse haben, die nicht an den „links-grün-woken“ Ungeist, sprich an SPD und/oder Grüne, gefesselt ist.

Fastnacht in Franken 2017: Karin Baumüller-Söder + Markus Söder (Foto: Stefan Brending auf wikimedia commons)

Markus Söder, bekannt für seinen Chamäleon-Charakter, wäre, wenn er in Bayern Freie Wähler und AfD mit seiner Strategie relativ klein halten konnte, der erste, der antritt, das auch in einer von ihm geführten Regierung mit der AfD zu bewerkstelligen. In Anlehnung an Gerhard Schröder, der ja in der Union in Mode gekommen ist, wäre im Unterschied zu Österreich die Union, so die beruhigende Selbsttäuschung, der „Koch “ und nicht der „Kellner“. Die Aversion der Unionsparteien gegen die Grünen, gegen Cannabis und Gendern, gegen doppelte Staatsbürgerschaft und schnelle Einbürgerung, von der nahtlosen Übereinstimmung in den Eckpunkten der Asylpolitik und Migrationsfeindlichkeit mit der AfD ganz zu schweigen, könnten dafür den Grund legen.

Der rechtsextreme Flügel verkörpert die AfD

Die abstoßende und hasserfüllte, vor allem gegen die CDU gerichtete Rede von Alice Weidel auf dem Wahlparteitag am 12. Januar, müsste aber für jeden in den Unionsparteien klar gemacht haben, dass die gesamte AfD zum „Flügel“ in den Händen von Björn Höcke und Götz Kubitschek geworden ist. Angesichts der eingangs geschilderten Bedrohungen Deutschlands und Europas aus Ost und West ist zu hoffen, dass die demokratischen Parteien in den Wahlkämpfen gestärkt werden und dann die Kraft zu Kompromissen und vor allem zu einem politischen Programm finden, das sowohl in den Inhalten als auch in dem Stil des künftigen Regierens rechtsradikalen und völkisch-populistischen Kräften die Grundlage entzieht.

Dazu gehört die zielstrebige, aber behutsame Fortführung der sozial-ökologischen Transformation der Industriegesellschaft, ein deutliches Plus an sozialer Gerechtigkeit und eine Konzentration auf die Kernthemen der Sicherheit von Arbeit, Wohnen und Lebensalltag. Das verlangt mehr gesellschaftliche Debatten über relevante Themen, aber keinen Streit unter den Parteien, die eine Koalition geschlossen haben. Das verlangt auch eine Politik der wirtschaftlichen, technischen und militärischen Stärkung Europas und eine gemeinsam europäische Asylpolitik, um den Angriffen auf die liberale Demokratie, egal aus welcher Himmelsrichtung auch immer, wirkungsvoll entgegenzutreten.

Vielleicht klingt das alles naiv und blauäugig. Aber was ist denn die Alternative? Jede deutsche Regierung ist gefordert, alles daran zu setzen, mit einer demokratischen Mitte die innere Einheit Deutschlands und Europas zu stärken – oder beide spielen in Zukunft keine entscheidende Rolle mehr. Last but not least: An den Beginn einer neuen Legislaturperiode gehört auch ein Verbotsantrag gegen die AfD, getragen von allen demokratischen Parteien. Eine zum rechtsextremen „Flügel“ gewordene Partei ist durch und durch rechtsextrem. Die Rede von Frau Weidel ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Der Partei fehlt es nicht mehr an politischer Mächtigkeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass aus den gewalttätigen Worten vom Niederreißen der Windkraftanlagen als „Windmühlen der Schande“ und vom Schließen aller „Gender-Studies“ („Schaffen wir ab und schmeißen diese Professoren raus!„) Gewalt-Taten werden. Dann ist vielleicht die Erinnerung an die Gründung der SS vor hundert Jahren, ohne jeden Bezug zu Österreich, doch nicht deplatziert.

Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

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