
Der Münchner Politikwissenschaftler Professor Carlo Masala hat jüngst ein Szenario vorgelegt, in welchem angenommen wird, dass Putins Russland den zu Estland gehörenden Teil der Stadt Narva besetzt, um – so die Putin unterstellte Begründung – russischstämmige Einwohner gegen Diskriminierung und Unterdrückung ihrer Kultur zu schützen. Im Szenario würde die NATO Ende des Jahrzehnts in einem kleinen Mitgliedsland und an ihrem östlichsten Punkt auf die Probe gestellt werden: Lässt sie „mit der Faust in der Tasche“ eine solche Verletzung der Souveränität und des Territoriums eines NATO-Mitglieds zu oder antwortet sie mit gleicher Münze, also militärisch?
Es wird in Masalas Szenario unterstellt, dass Putins Russland seine militärischen Fähigkeiten weiter auf- und ausbaut, nachdem die Ukraine erobert worden ist, sodass die russische Führung Ende das Jahrzehnts in der Lage wäre, einen militärischen „Test“ auf die Verteidigungsbereitschaft der NATO zu starten. Neben Masala hatten sich weitere, vor einer gegen die NATO gerichtete Aggression warnende Stimmen gemeldet: Etwa die Politikwissenschaftlerin Claudia Major und der Militärhistorikers Sönke Neitzel. In vielen Medien wurden diese Stimmen breit wiedergegeben und durch Hinweise auf Geheimdienst- Expertisen unterfüttert.
Das rief in der Bundesrepublik rasch gegenteilige Äußerungen hervor. So zum Beispiel Wolfgang Lieb im Blog der Republik mit einem Text, der vom Beueler Extradienst übernommen wurde. Es gebe für die Absicht, einen Angriff auf NATO-Territorium zu unternehmen, keine echten Belege. Das sei Alarmismus, also eine Art Panikmache, Beunruhigung und Verunsicherung ohne wirkliche Begründung. Selbst die Geheimdienste der Vereinigten Staaten hätten keine Hinweise auf eine kriegerische Planung gegen NATO-Mitglieder. („Kriegs-Alarmismus in Deutschland – die U.S. Nachrichtendienste verlieren in ihrer Bedrohungsanalyse 2025 kein Wort über einen russischen Angriff auf ein NATO-Land“. Blog der Republik, 19. April 2025).
„Der Übel größtes aber ist die Schuld“
Der Kultursoziologe Ulrich Bröckling hat im Spiegel (Nummer 18/2025 auf den Seiten 48 und 49)der Auffassung Liebs und anderer eine durchaus lesenswerte Grundlage verschafft. Antimilitarismus sei Kampf gegen Krieg und Kriegsvorbereitung, aber „keine Garantie für saubere Hände“. Die „Apologeten der Abschreckung spielten hingegen „von vornherein ein schmutziges Spiel“. Sie verstrickten sich „in ein fatales Dilemma“. Zeigten sie Skrupel, verpuffe deren Drohung als unglaubwürdig. Zeigten sie den Willen zur Tat, so machten sie sich „derselben Menschheitsverbrechen schuldig wie die Gegenseite, die sie davon abhalten wollen.“ Bröckling verbindet seinen Standpunkt mit Hinweisen auf eine „geistige Mobilmachung“ in Deutschland, auf Campino, Egon Flaig und einige Wissenschaftler an einer Bundeswehr- Hochschule. Der Kultursoziologe will aussteigen, er beginnt mit dem Vorschlag, „den rüstungspolitischen Konsens“ (in Deutschland) aufzukündigen. Das könne ein Aggressor allerdings „als Freibrief“ verstehen. “Möglich, dass er es so versteht.“
Es ist ein sechs-Spalten-Text im erwähnten Magazin. Der erzählt von Campino, von der FAZ, beschreibt Putin, lässt Schiller zu Wort kommen, Herrn Professor Emeritus Flaig mit seinen Helden- und Heldentod-Fantasien, er nimmt Bezug auf Christa Wolf.
Das Wort Ukraine kommt ein einziges Mal vor: „Begonnen hat der Vorkrieg für uns spätestens, als er für die Menschen in der Ukraine endete.“ Mehr nicht. Ab diesem Satz handelt der Text nur noch von uns, den Leuten in Deutschland. Die Ukraine und deren Kampf gegen Unfreiheit, gegen Besatzung ist wie hinter dem Horizont verschwunden. Kennzeichnend für den Bröckling Text ist, dass er aus Schillers Trauerspiel „Die Braut von Messina“ nur eine Zeile zitiert: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“; aber die folgende Zeile weglässt: „Der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Wie beschrieben: Lesenswert als Beleg einer inneren Kapitulation.
Es kann ja sein, dass sich Liebs Position und die anderer im Licht der neuen „Vermittlungs“-Vorschläge zum Vernichtungskrieg gegen Ukraine überlebt hat. Kann sein. In Deutschland bleibt der merkwürdige „Alarmismus“ zurück, der Zwilling des Wortes „Panikmache“.
Um zu begreifen, was da gespielt wird, sollten wir einfach zurückschauen: Im Mai 1939 fragte der damalige Sozialist Marcel Deat, Jahre später zum Faschisten und Kollaborateur der Nazis mutiert, in der Zeitung seiner Organisation: „Mourir pour Dantzig?“ Sterben für Danzig im Hinblick auf einen möglichen Kriegsbeginn wegen der Stadt? Damals demontierten die Nazis Stück für Stück die Verfassung der vom Völkerbund eingerichteten und geschützten freien Stadt Danzig. Deat floh gegen Ende des zweiten Weltkriegs nach Deutschland und von dort nach Italien, wo er 1955 in einem Kloster verborgen starb. Er war in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden.
Danzig und die Nazi- Strategie damals sind fast vergessen. Aber aus manchen, prallen Sätzen, die Risiken hin und her wenden und die wissen wollen, wo das Böse daheim ist, springt uns die Frage an: Sterben für Narva?
Michel Serres schreibt, dass in den „Kriegen, meist von Verantwortlichen reiferen Alters beschlossen und organisiert, die männliche Jugend getötet wurde. Mit anderen Worten: In den Ministerien, Botschaften und Hauptquartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebenen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Söhnen und Töchtern, die überlebt hatten und zweifellos geblendet waren von der imponierenden Gräberzahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahegebracht, die vom »Vatermord«.“ Serres, Michel (2019). Was genau war früher besser. Berlin: Suhrkamp, S. 12
Ich würde hinzufügen, dass es vielfacher die Söhne derjenigen sind, die nicht in den Hauptquartieren sitzen und saßen. Man frage bitte die Bellizisten, ob sie ihre Kinder auch an die Front schicken würden und welchen Dienstgrad die Großeltern hatten. Meiner fiel als einfacher Soldat im Sturm auf Moskau im Unternehmen Barbarossa.
P.S.: In Narva sterben: https://de.wikipedia.org/wiki/Narva_(Stadt)#/media/Datei:German_Second_World_War_Memorial_in_Narva.jpg